Eine falsche Alternative

Einst wollte die CDU den Deutschen einreden, bei der Wahl zwischen ihr und der SPD gehe es um "Freiheit oder Sozialismus". Doch was damals verkehrt war, ist heute nicht richtiger. Entscheidend ist die Frage, wie "Freiheit für alle" organisierbar ist

"Mehr Chancen ist nicht genug": So kritisierte Wolfgang Thierse in Heft 6/2003 der Berliner Republik die vom Netzwerk Berlin vorgelegten Impulse für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. In der vorigen Ausgabe bemängelte Sigmar Gabriel daraufhin Thierses "erstaunlich reduzierten Begriff von Freiheit". "Gabriel wirft Thierse Staatshörigkeit vor", berichtete die FAZ. Hier weist Wolfgang Thierse die Einwände Sigmar Gabriels zurück. In einem weiteren Beitrag antwortet Christian Lange auf Thierses ursprüngliche Intervention.

Man kann auch absichtlich missverstehen und es damit - immerhin - bis auf die Titelseite der Frankfurter Allgemeinen bringen: "Thierse ist staatshörig" - welch Erfolg, Sigmar Gabriel! Wie soll ich mich von diesem Etikett "Staatsfetischist" je wieder befreien, wo ich den noch immer größeren Teil meines Lebens in entschiedenster Antipathie gegen den Staat (namens DDR) verbracht habe?

Sigmar Gabriel hat im letzten Heft der Berliner Republik die von mir vorgebrachte Kritik am Freiheitsbegriff der Impulse für eine neues Grundsatzprogramm der Berliner Netzwerker zu einer Kontroverse Gabriel-Thierse weiterentwickelt. Er baut diese zunächst entlang der Linie Alt gegen Jung auf, "Präsidiumsgeneration 60 plus" gegen die "junge, neue SPD", die mit dem Münstereifeler Programmpapier markiert wurde. Das ist wie das bekannte "Rütteln an den Zäunen". Zum altersgemäßen Agieren gehört eben, Ansprüche in der Hierarchie anzumelden, ohne sie inhaltlich begründen zu müssen. Hier wird aber auch eine Begründung nachgereicht, etwa in der Art "Ihr seht nicht nur alt aus, sondern ihr liegt auch noch falsch", konkret: Wir sind die "Freisinnigen", ihr seid die "Staatshörigen". Die FAZ widmet sich dem Vorgang mit dem Gespür für das, was schon mal da war. Ich meine nicht die Überschrift "Willy wusste eben, was wirklich sexy ist", sondern das Gespür für eine möglicherweise neue Version des alten Schlachtrufes "Freiheit oder Sozialismus".

Persönlich angesprochen, in gewisser Weise als Kollektivvertreter "60plus", aber ohne einen Hauch von "Achtundsechziger", sondern mit 40 Jahren DDR auf dem Buckel, sollte ich vielleicht meine Freiheitsliebe bekunden und besser dem Staatsglauben abschwören. Immerhin sei ich "weit unter meinen Möglichkeiten" geblieben.

Nun, ehe Missverständnisse die Runde machen und Legenden aufleben: "Zu viel Freiheit" bot mir der Münstereifeler Programm-Entwurf der Netzwerker gerade nicht, wie es fälschlich heißt und was die Redakteure dieser Zeitschrift allerdings schon vor Weihnachten nicht daran hinderte, in Ausübung ihrer redaktionellen Freiheit meinen Beitrag unter den Titel "Sechzig Mal Freiheit" zu stellen. Das mochte zur Erzeugung von Aufmerksamkeit für den Artikel nicht abträglich sein, führte aber zur kompletten Irreführung von Sigmar Gabriel. Schließlich verwies die von mir vorgeschlagene Überschrift "Mehr Chancen ist zu wenig" auf ein Defizit von Freiheit im Münstereifeler Papier, war mir die inflationäre Rede von Chancen schlicht "zu wenig". Die Vermehrung von Chancen, jede Menge "Freiheit zu" besagt eben noch wenig über "Freiheit von". Es ist umgekehrt: Die Verwertung von Chancen bringt gewissermaßen Freiheitsgewinne nur als Zugabe zu jener Freiheit, die jedem Menschen ohne Leistung zugestanden sein muss.

Organisatorischer Liberalismus ist unser Ziel

Das Problem ist noch nicht damit gelöst, dass man behauptet, der Mensch stehe im Mittelpunkt aller Politik. Das hat man als politisches Credo schon von den unterschiedlichsten Parteiungen gehört. Wenn wir am Ende gemeinsam ein neues Grundsatzprogramm schreiben wollen, müssen wir uns einigen, welche Freiheit wir meinen. "Die Hinwendung zu den Träumen, Wünschen, Zukunftsvorstellungen und Lebensvorstellungen der Menschen als Ausgangs- und Zielpunkt sozialdemokratischer Politik" - warum nicht? - wenn wir diese selbst nicht zum Gegenstand von Politik erklären, wenn wir der Versuchung widerstehen, die Bedürfnisse "unserer Menschen" so zu definieren, dass sie möglichst in das politische Macht- oder ökonomische Marktgefüge passen. Weder die Vermehrung der individuellen Wahlfreiheiten (Chancen), noch eine auf Bedürfnisbefriedigung gerichtete Politik ist notwendigerweise schon eine freiheitliche. Freiheit ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe, die bestimmter Voraussetzungen und Bedingungen bedarf. Eduard Bernstein sprach - in Würdigung und Erweiterung der liberalen Idee - davon, dass "Freiheit für alle" nur durch "das Mittel der Organisation" zu ermöglichen sei. Unter "Sozialismus" - so Bernstein - könne man auch "organisatorischen Liberalismus" verstehen.

"Organisation" muss gewiss nicht "Staat" heißen. Vielmehr handelt es sich bei Bernstein um nichts anderes als einen Hinweis auf die fundamentale sozialdemokratische Einsicht, dass Freiheit von Voraussetzungen lebt, die sie nicht selbst (durch mehr Freiheiten) schafft. Allgemeine Freiheit lebt von der Bindung an das Recht (etwa die "Freiheit von" staatlicher Willkür) und an Demokratie (etwa die "Freiheit zu" Mitbestimmung über die allgemeinen Lebensbedingungen und Gesellschaftsverhältnisse). Das ist keine Neuigkeit der "Berliner Republik". Aber es ist der Punkt, an dem sich offensichtlich noch die Geister scheiden.

Wenn das Problem unserer Zeit und die eigentliche Herausforderung für die sozialdemokratische Grundsatzdebatte die Folgen der Globalisierung sind, dann betreffen diese eben nicht nur "den Menschen" schlechthin, sondern zugleich seine "Mittel der Organisation" der Freiheit. Das ist der Bereich der Politik schlechthin und das, was die res publica, die öffentlichen Güter sind, Demokratie, Gerechtigkeit und selbstverständlich auch Chancengleichheit. Der Gefahr, die für die res publica (sichtbar durch die Zunahme von öffentlicher Armut), und für die Demokratie (durch die "Kommerzialisierung aller Bereiche") entsteht, setzen wir in den "Akzenten" aber kein Konzept der Verstaatlichung entgegen, sondern das der Stärkung der öffentlichen Güter: eine Gegenstrategie, die danach fragt, wie heute Gerechtigkeit - das ist gleiche Freiheit für alle! - gewährleistet werden kann. Ohne ein Konzept von Gemeinwohl und gemeinsamem Wohlstand, also von Lebensverhältnissen, auf die gerade the people who work hard and play by the rules angewiesen sind, geht es nicht: Es geht um jedem zugängliche Bildung, um gute Gesundheitsversorgung und verlässliche Alterssicherheit, um die Sicherheit und Lebensqualität in unseren Städten und Dörfern, um Kulturangebote und Naturbewahrung.

Weiß die "neue SPD", was Menschen wollen?

Ich bin überzeugt, dass wir auch in Zukunft die Gesellschaft solidarisch und somit Solidarität organisieren müssen. Sie ist gefährdet. Und wer, wenn nicht Sozialdemokraten, kann diesen Grundwert lebendig erhalten?! Seit gut 20 Jahren beschäftigt sich die Soziologie mit der schwindenden Bindekraft der westlichen Gesellschaften. Man kann Ralf Dahrendorf dazu lesen oder, aktueller und auf Deutschland bezogen, Wilhelm Heitmeyer. Man wird herausfinden, dass die Individualisierung, aber auch die Beschleunigung durch Technik und Medien, und die Anonymisierung der Machtverhältnisse wesentlich zum Gefühl wachsender Ohnmacht und Kontrollverluste beitragen, in deren Gefolge Entsolidarisierung und vertiefte gesellschaftliche Spaltungen auftreten. Diese Spaltungstendenzen, die mit den Deregulierungsprozessen in der Gesellschaft sichtbar werden, fordern die Politik wiederum heraus: entweder um den Staat aktiv und präventiv dagegen zu mobilisieren oder um ihn reaktiv, als repressiven und Freiheit begrenzenden Staat in Stellung zu bringen. So oder so: Die Allgemeinheit kommt an den Problemen nicht vorbei, egal, ob sie dafür präventive oder repressive Strategien, staatliche oder gesellschaftliche Regelungen bevorzugt. Die öffentlichen Aufgaben werden kaum geringer.

Bei Sigmar Gabriel verkürzt sich aber das Staatsproblem darauf, dass sich die Individuen von ihm "übervorteilt" fühlen, dass ihnen der Staat als Abkassierer gegenüber tritt und Netto zu wenig vom hart erarbeiteten Brutto übrig lässt. Heißt das am Ende, unsere Politik käme konsequenterweise dann an ihr Ziel, wenn Netto endlich dem Brutto entspricht? Woher weiß denn die "junge, neue" SPD, dass dies den Wünschen und Lebensvorstellungen der people who work hard and play by the rules entspricht? Wer sagt eigentlich, dass die gesellschaftliche Mehrheit in diesem Land soziale Sicherung, Sicherheit und Vorsorge nicht mehr staatlich oder gemeinschaftlich, sondern privat oder eigenverantwortlich geregelt wissen will? Alles was wir über die Menschen wissen, die hart arbeiten müssen, ist, dass sie die Politik weiterhin in die Verantwortung nehmen und - wenn sie sich nicht über den Tisch gezogen fühlen - auch zu solidarischen Leistungen bereit sind. Tatsächlich müsste auch Sigmar Gabriel die Frage beantworten: Wenn wir "dem Staat" weniger geben wollen und die Einrichtungen gesellschaftlich organisierter Solidarität zurückfahren sollen, was wollen wir dann nicht mehr leisten?

Wollen wir einen schwachen Staat, der zu Gerechtigkeitspolitik nicht mehr in der Lage ist, und glauben wir, so den Menschen am besten die Erfüllung der Wünsche zu ermöglichen, die wir für deren Freiheitsstreben halten? An der Stelle lohnt sich die Debatte unbedingt. Deshalb haben wir in unseren "Akzenten" so viel Wert auf die öffentlichen Güter gelegt. Und deshalb widersprechen wir einem Menschenbild, das um das Portemonnaie kreist, von dessen Inhalt für öffentliche Aufgaben und solidarische Daseinsvorsorge möglichst wenig abgegeben werden soll.

Qollen die Netzwerker selbst "zu viel Staat"?

Heimat, Familie, Arbeitsplatz sind wichtig, aber kein Ersatz und nur begrenzt Räume politischer Gestaltung. Es stimmt, dass dort ganz wesentlich über gesellschaftliche Integration und Desintegration entschieden wird, dass dort die Voraussetzungen von Freiheit (und Demokratie) lebendig gehalten, Werte geprägt werden. Aber wir reden von einem politischen Programm! Werte sind Vorgaben für die praktische Politik. Die Familie steht der Politik nicht als Mittel zur Verfügung. Soll Regierungspolitik etwa mehr Heimatgefühle stiften? Was soll eine Partei tun, um fehlende Zuwendung, fehlende Anerkennung in der Familie zu beleben? Wenn sich Politik da engagiert und zum Beispiel Voraussetzungen schaffen will, damit Familie durch die Vereinbarkeit mit dem Beruf gestärkt wird, dann wird sie nicht in die Ordnung der Familie eingreifen, sondern die allgemeinen äußeren Bedingungen verbessern. Wie bedeutsam die Beachtung der prinzipiellen Grenze zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten ist, muss mir niemand sagen. Ich habe jedenfalls lange genug in einem umfassenden "Fürsorgestaat" gelebt, um in diese Richtung wachsendes Gras hören zu können. Der Vorwurf von zu viel Staat könnte - je nach Konkretisierung der Heimat- oder Familienpolitik - auf die Netzwerker zurückfallen.

Sigmar Gabriel stellt andere Fragen: Wer die öffentlichen Güter erbringe und wer sie bezahle, welche kostenlos sein sollten und welche nicht. Schauen wir doch einmal genau hin: Kommunen erheben Anliegergebühren für Infrastrukturmaßnahmen und vielerlei Gebühren für kommunale Dienstleistungen, die Lehrmittelfreiheit ist in manchen Ländern porös, Spediteure müssen für ihre besondere Belastung des Straßennetzes eine Maut bezahlen. Solidarität und Daseinsvorsorge waren immer auf Beiträge und andere finanzielle Beteiligungen angewiesen. Ist es eine Grundsatzfrage, ob und wie sich dieser Mix aus Steuerfinanzierung und Beiträgen oder Gebührenfinanzierung entwickelt? Ist es nicht vielmehr eine pragmatische, eine tagespolitische Frage, ob und in welcher konjunkturellen Lage welche Steuern und Beiträge gesenkt oder erhoben werden sollen? Denn lernen wir nicht gerade jetzt wieder einmal, wie schnell sich die Bedingungen dafür ändern können, "wer (...) sich in welchem Verhältnis an (der) Finanzierung (der öffentlichen Güter) beteiligt"? Was ist folglich das Neue an Gabriels Frage? Offenbar lediglich die eine Antwort: Studiengebühren.

Dort wo Sigmar Gabriel findet, dass die Fragen erst anfangen, hört nach meinem Verständnis ein Grundsatzprogramm auf, fängt ein Wahl- oder Regierungsprogramm an. Die Kritik, dass die "Akzente", die ich mit anderen verfasst habe, nicht neu seien, prallt dagegen ab. Die "Akzente" wollen klären, worauf es ankommt und was unabweisbar in ein Grundsatzprogramm gehört, nämlich die Analyse der Zeit, die Definition der Grundwerte und Ziele und die politische Verantwortung für die öffentlichen Güter. Über alles andere diskutieren wir schon immer in jeweils sich ändernden tagespolitischen Zusammenhängen und mit wechselnden taktischen Absichten und persönlichen Interessen.

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