Ein Zentrum wofür?

Die Diskussion um das "Zentrum gegen Vertreibung" belastet das deutsch-polnische Verhältnis. Der Streit ist elitär und schädlich - die Menschen beider Länder sind schon weiter. Brauchen sie solch ein Zentrum wirklich?

Bezeichnend für die Dialogkultur zwischen Deutschland und Polen war eine völlig konträre Wahrnehmung. Die öffentliche Meinung Polens und Deutschlands ignorierte sich gegenseitig." So beschreibt Markus Mildenberger in einem Aufsatz zur deutsch-polnischen Interessengemeinschaft der neunziger Jahre den Konflikt um die Zwangsarbeiterentschädigung. Sollte er demnächst die aktuelle Auseinandersetzung um das "Zentrum gegen Vertreibung" kommentieren müssen, kann er diesen Abschnitt seines Beitrages getrost nochmals verwenden. Denn zu dem Zentrum gibt es mittlerweile sowohl in Deutschland als auch in Polen jeweils viele dezidierte Meinungen - jedoch nur wenige, die die Befindlichkeiten des Nachbarlandes berücksichtigen.


Seit die rechte polnische Wochenzeitung Wprost mit einer Fotomontage aufmachte, die den deutschen Bundeskanzler geritten von der nazi-uniformierten Vertriebenenfunktionärin Erika Steinbach zeigte, ist für Befürworter des Berliner Standortes klar: Bei den Nachbarn im Osten wirkt weiterhin die kommunistische Propaganda vom deutschen Revanchismus nach. Die Polen könnten sich weder von dem geschichtlichen Lagerdenken lösen, noch wollten sie sich vom bequemen wie lukrativen Selbstbild des polnischen Volkes als leidender "Christus der Nationen" verabschieden. Weshalb, so fragt man sich in der Umgebung des Bundes der Vertriebenen (BdV), traut Polen Deutschland selbst ein halbes Jahrhundert nach Ende des zweiten Weltkrieges noch immer keine verantwortungsvolle Geschichtsschreibung zu? Die Initiative sei schließlich keinesfalls gegen Polen gerichtet, die polnischen Zwangsumsiedlungen im Zweiten Weltkrieg und danach sollten im Rahmen einer Wechselausstellung ebenfalls Erwähnung finden.

Der Zweite Weltkrieg begann nicht erst 1945

Polens Linke und Rechte sind sich in der Antwort relativ einig: Die Gründung eines Zentrums in Berlin und unter Regie des BdV wäre Geschichtsfälschung. Nicht nur alte Menschen, die den Krieg noch miterlebt haben, sondern auch die junge Generation, erachten das BdV-Projekt als bizarre Wiedereröffnung bereits geschlossener Kapitel. Man fragt sich, was für Ziele ein Denkmal für deutsche Vertriebene verfolgt und welchen Wert es habe: präsentiert ohne historischen Kontext und Vorgeschichte, andere Vertreibungsschicksale eben nur in Wechselausstellungen berücksichtigend. Das BdV-Projekt vernachlässige das Geschehen des Zweiten Weltkrieges, um allein deutsches Leid hervorzuheben. Die Initiatoren des Zentrums ignorierten, dass der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 und nicht erst 1945 begonnen habe. Unter dem Deckmantel "deutsch-polnisch" oder "europäisch" dürfe der Bund nicht auftreten, der ausschließlich seinen eigenen politischen Absichten folge.


Die Intonation der Ablehnung fällt unterschiedlich aus. "Die Idee der Zentrumsgründung soll aufgegeben werden," versuchte es der liberale Politiker Donald Tusk während einer Diskussion mit Erika Steinbach in der Redaktion der Tageszeitung Rzeczpospolita. Das weitere Beharren auf der Gründung eines Zentrums am Standort Berlin werde der deutsch-polnischen Aussöhnung schaden. Die radikalere Rechte schlägt härtere Töne an. "Wenn die Deutschen einen Krieg um das Zentrum wollen, werden sie ihn bekommen", kündigt Marcin Libicki von der Rechtsstaatspartei PiS in Newsweek Polska an.


Gemeinsam ist den polnischen Reaktionen jedoch stets die Überschätzung des Einflusses von Erika Steinbach. Die Unionspolitikerin ist in Polen bekannter als die meisten deutschen Kabinettsmitglieder, nicht zuletzt wegen ihrer Forderung, die "Vertreiberstaaten" Polen und Tschechien sollten erst nach Entschädigungszahlungen an die Opfer der ethnischen Säuberungen von 1945 in die EU aufgenommen werden. So kam es, dass im Sommer 2002 selbst polnische Deutschlandexperten allen Ernstes die Sorge äußerten, Gerhard Schröder könne sich in der Hitze des Wahlkampfes die vermeintlich populären Forderungen des BdV zu Eigen machen. Zur selben Zeit hatte in Deutschland kaum ein Berufspolitiker von den Plänen des BdV gehört; Frau Steinbach war im Kanzleramt eine eher unbekannte Größe.

Steinbachs Gegner sind für Wroclaw

Mittlerweile ist das anders, und so mischen sich auch in Deutschland immer mehr politische Gegner Erika Steinbachs in den Streit ein. Dabei machen sie es sich besonders einfach: Ein solches Zentrum, nur wenige Meter vom Holocaust-Mahnmal entfernt, sei tatsächlich keine gute Idee. Warum solle man nicht im Geiste der Versöhnung die deutsch-polnische Vergangenheit gemeinsam aufarbeiten? Am besten könne das in einem Zentrum in Wroclaw, dem ehemaligen Breslau, funktionieren. Nirgendwo sonst habe schließlich nach 1945 ein so gewaltiger Bevölkerungsaustausch stattgefunden wie in der niederschlesischen Metropole: 600.000 deutsche Flüchtlinge wurden damals durch eine ähnlich hohe Zahl an polnischen Umsiedlern ersetzt. Gleichzeitig gehe das moderne Wroclaw vorbildlich mit seinem deutschen kulturellen Erbe um - ein rundum perfekter Ort für deutsch-polnische Geschichtsaufarbeitung also.


Was aber, wenn die neuen Bewohner Breslaus, obschon sie seit einigen Jahren kaum noch Berührungsängste gegenüber der jüngeren Geschichte ihrer Stadt haben, womöglich lieber eigenständig entscheiden möchten, welche Museen in ihrer Stadt entstehen? Und was, wenn polnische Umsiedler ihr Leid nicht gemeinsam mit jenem der deutschen Vertriebenen dokumentiert sehen wollen, weil sie - zu Recht - finden, ihr Schicksal habe eine andere Vorgeschichte? Dann muss eben weiter kräftig "Überzeugungsarbeit" geleistet werden.


So erörtern mittlerweile diverse Grüppchen mit Inbrunst ihre Standortvorlieben. Jeweils vollauf damit beschäftigt, die eigene Konzeption zu verteidigen, vergisst man häufig, zwei grundlegende Fragen zu beantworten. Die erste Frage wäre, wie eigentlich das Zentrum aussehen soll. Erst wenn man das weiß, lässt sich über ein zweites, aber nicht weniger wichtiges Problem nachdenken: Lohnt sich die Einrichtung solch eines Zentrums überhaupt? Übertrifft der zukünftige Nutzen die aktuellen Mühen und Auseinandersetzungen?

"Versöhnen statt spalten": Das sagen alle

Die Frage nach der Konzeption beantwortet teilweise bereits der Name. Gegen Vertreibung ist das Zentrum ausgerichtet. Wofür es steht, das bleibt hingegen relativ unklar. Und bezeichnenderweise mit einem identischen Adjektiv versuchen Berlinbefürworter und Breslauliebhaber ihre Vorstellungen näher zu umreißen: "Europäisch" soll die Sache werden. Doch ist die Beschwörung Europas kaum mehr als eine weitere Leerformel im Monolog der Zentrumsaktivisten.


Denn wollte man tatsächlich ein Zentrum errichten, um "zu versöhnen statt zu spalten" (auch das ein von sämtlichen Akteuren je für sich reklamierter Anspruch), werden sich alle Beteiligten auf eine gemeinsame Geschichtsinterpretation einigen müssen. Wie kompliziert das ist, erleben wir in der derzeitigen deutsch-polnischen Debatte - und das, obwohl die deutsch-polnische Geschichtsaufarbeitung des letzten Jahrzehnts als vorbildlich gilt. Bereits die Eröffnung einer trinationalen Erinnerungsstätte von Polen, Deutschen und Tschechen ist, kaum zwei Jahre nachdem der damalige tschechische Ministerpräsident, Milos Zeman, die Sudetendeutschen unter großem innenpolitischen Beifall als "Fünfte Kolonne Hitlers" bezeichnete, schwer vorstellbar. Was erst würde geschehen, wenn auch noch ukrainische und russische Opferverbände ihre Versionen der Umsiedlungen von 1945 im selben Zentrum schildern wollten? Wie erst stellen sich die begeisterten Europäer ein Zentrum vor, in dem obendrein die Balkanstaaten ihre so junge Vertreibungsgeschichte aufarbeiten? Ein europäisches Zentrum, das sollte klar sein, wird entweder viel verschweigen müssen (und wird somit einer ernsthaften Vergangenheitsbewältigung kaum dienlich sein) oder es wird neue Gräben aufreißen (also nicht versöhnen).


Das aber will keiner. Deshalb sollten die Diskutanten nicht länger suggerieren, Erinnerung an Vertreibung sei dann besonders politisch korrekt, wenn sie multilateral geschieht. Deutsche und Polen werden ihre Vergangenheit nicht schneller, unkomplizierter oder schmerzloser aufarbeiten, wenn sie das an einem Ort tun, an dem zugleich noch die Flüchtlingsschicksale von Palästinensern oder Albanern präsent sind. Das bedeutet nicht, dass wir diese Schicksale ignorieren sollten. Vielleicht können wir sogar von Aussöhnungsprozessen zwischen anderen Völkern lernen. Ein Zentrum müssen wir dafür aber noch lange nicht mit ihnen teilen.

Den Dialog der Menschen gibt es längst

Die Bewältigung eines Vertreibungstraumas beginnt mit dem Dialog der von der Tragödie betroffenen Nationen. Ein solcher Austausch findet zwischen Deutschen und Polen seit langem statt. Nicht selten haben ihn gerade die deutschen Vertriebenen und die polnischen Umsiedler initiiert. Seit Jahren leistet die in Olsztyn, dem ehemaligen Allenstein, wirkende Kulturgemeinschaft Borussia hervorragende Versöhnungsarbeit, indem sie sich mit der deutschen Geschichte Ostpreußens auseinandersetzt und deutsche Kulturgüter pflegt. Sie organisiert eine breit angelegte Bildungsaktivität und lädt junge Menschen aus verschiedenen Ländern zu gemeinsamer Volontariatsarbeit ein. Durch Gespräche, die frühere Bewohner Ostpreußens oder Schlesiens auf "Heimatbesuch" führen, lernen die neuen Einwohner Danzigs und Breslaus über die Vergangenheit ihrer Orte. Gleichzeitig erfährt die deutsche Seite, dass die mutmaßlichen "Vertreiber" ähnliches Unrecht erlitten wie sie selbst.

In den vergangenen Jahren erschienen in vielen Lokalzeitungen in den "wiedergewonnenen Gebieten" seitenlange Features über die deutsche Geschichte dieser Regionen. Journalisten berichteten unter großer Anteilnahme der Leserschaft über die Kriegs-, Flucht- und Vertreibungsschicksale der ehemaligen deutschen Bevölkerung. Diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wäre zu Zeiten des Eisernen Vorhangs noch undenkbar gewesen. Danach war sie aber praktikabel, eben weil auf beiden Seiten Vorurteile abgebaut und Bedenken beiseite geschoben wurden und obwohl es kein großangelegtes Zentrum gegen Vertreibung gab.


Mit Sicherheit können auch feste Punkte wie ein Denkmal oder eine Begegnungsstätte Orte bilateraler Kommunikation sein. Optimal für aktive Erinnerungspolitik ist ein statischer Ort gleichwohl nie. Kein Pole reist nach Berlin, um sich dort über das Los der deutschen Vertriebenen zu informieren. Und eine Ausstellung über polnisches Kriegs- und Umsiedlungsleiden wird deutsche Touristen kaum nach Breslau ziehen. Ist ein Zentrum gegen Vertreibung indes keine zwingende Institution für die Bewältigung des Traumas, so sollte man sich überlegen, ob die Einrichtung die Zerwürfnisse der vergangenen Monate überhaupt wert ist. Denn gerade in Kreisen, die sich langjährig im Prozess der Aussöhnung engagiert haben, macht sich derzeit Unbehagen und Bitterkeit breit. Das gewonnene Vertrauen, das die Geschichtsaufarbeitung der neunziger Jahre überhaupt erst möglich machte, leidet mittlerweile unter der zähen Auseinandersetzung um das Zentrum.


Falls der Bund der Vertriebenen sein Projekt verwirklichen will, hindert ihn niemand daran, ein Haus zu kaufen und dort auszustellen, was immer er für richtig hält. Wünschenswert für das deutsch-polnische Verhältnis wäre es freilich, wenn sich davon niemand allzu sehr aus der Ruhe bringen lässt. Die entscheidende Rolle fällt hier den deutschen Widersachern eines Berliner Zentrums zu. Ihnen muss es gelingen, in Polen plausibel darzulegen, dass der BdV in Deutschland keine mehrheitsfähige Organisation ist und Erika Steinbach keine politische Größe.


Genau das aber verdeutlicht man am besten, indem man sich von den Alternativplänen eines europäischen Zentrums verabschiedet. Denn eine "schlechte" Initiative wird durch eine vermeintlich politisch korrekte Gegenbewegung nicht zwangsläufig geschwächt. Erst die empörten Proteststürme haben dem BdV-Vorhaben die Publizität verschafft, die es gegenwärtig genießt.

Sind die Polen überhaupt Kerneuropäer?

Vermutlich reagierte man in Polen aber auch deshalb so heftig auf den Vorschlag des BdV, weil man sich dort im Vergleich mit dem westlichen Nachbarn weiterhin beständig in der Position des Schwächeren sieht. In wenigen Monaten tritt Polen der EU bei - in einer Situation, die keineswegs als optimal bezeichnet werden kann: Die ökonomische Krise führt dazu, dass das Land vom Beitritt weniger profitiert als lange Zeit erhofft. Hinzu kommt nun auch der kulturelle Konflikt.

Zum Habermasschen Kerneuropa, jener aufgeklärten Verkörperung kantischer Ideale, mögen gerade linke deutsche Kreise Polen seit dem Irakkrieg nicht mehr zählen. Dieselben Menschen, die sich in einem Breslauer Zentrum mit dem Nachbarvolk aussöhnen möchten (und George W. Bush in Afghanistan noch uneingeschränkt unterstützten), fordern nun aus der russisch-chinesisch-bundesrepublikanischen Friedenskoalition heraus mehr außenpolitisches Selbstbewusstsein von Polen ein. Besser wäre vielleicht, Deutschland hätte das Selbstbewusstsein, souveräne polnische Außenpolitik zu dulden und Polen als gleichwertigen Partner zu akzeptieren .

Nur auf höchster Ebene wird gestritten

Denn merkwürdig ist es schon: Beiderseits der Oder sind es die politischen Eliten, die gern die Verständigung mit den Nachbarn anmahnen. Doch gerade diese Eliten sorgten im vergangenen Jahr für die größte Verstimmung in den bilateralen Beziehungen. Von Empörung polnischer Hoteliers über rüpelige deutsche Touristen war nichts zu hören; auch das Klischee des autoklauenden Polen taucht in der deutschen Boulevardpresse nur noch selten auf. Bloß zwei große öffentliche Konflikte gab es: die Spannungen über die Erklärung der Acht und eben die Debatte um das Vertriebenenzentrum. Beide Auseinandersetzungen fanden auf der höchsten politischen und diplomatischen Ebene statt. Währenddessen waren sich die polnische und die deutsche Bevölkerung in ihrer Ablehnung des Irakkrieges relativ einig. Und seit sich Wissenschaftler aus beiden Ländern in den vergangenen Jahren intensiv und gemeinsam mit der Vertreibungsgeschichte auseinandergesetzt haben, halten zwei Drittel aller Polen die Vertreibung der Deutschen nach 1945 für ein Unrecht.


Vielleicht also steht es besser um die deutsch-polnische Nachbarschaft, als es die Schlagzeilen derzeit suggerieren. Dieses Verhältnis wird dann weiter gedeihen, wenn die Politiker beider Länder dem Bund der Vertriebenen nicht mehr Beachtung schenken, als ihm gebührt und sich von ihm keine Debatten aufdrücken lassen, deren Zeit noch nicht gekommen ist.

zurück zur Ausgabe