Ein Plädoyer für das Buch

Michael Hagner weist nach, dass die Berichte über den Tod des gedruckten Buches stark übertrieben sind

Wer kennt sie nicht, die Abgesänge auf die kulturellen Einrichtungen unserer Zeit: sei es die Politik, die die Bürger kaum mehr erreiche, die Zeitung als Medium öffentlicher Meinungsbildung oder die katholische Kirche und ihre Weltverlorenheit. Es gehört wohl zu unserer mediatisierten Gesellschaft dazu, kulturelle Phänomene und gesellschaftliche Institutionen immer schneller als veraltet oder für obsolet zu erklären. Dabei steht das gedruckte Buch im Reigen der großen Abgesänge sicherlich an einer besonders exponierten Stelle. Befördert wird das Ende des Buches angeblich durch einen technischen Fortschritt, der die Möglichkeiten des Lesens unendlich zu erweitern scheint und dabei den über 500 Jahre alten Buchdruck so angestaubt wirken lässt, wie es zahlreiche Bücher in vielen Bibliotheken tatsächlich sind. Hierzu meldet sich Michael Hagner mit seinem (selbstverständlich gedruckten) Werk Zur Sache des Buches zu Wort.

Die Abgesänge sind keineswegs neu

Hagner, bekannt geworden mit seinen Arbeiten zur Geschichte der Hirnforschung und gegenwärtig Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich, wählt gemäß seiner Profession einen ideengeschichtlichen Zugang zum Thema. Schnell zeigt sich, dass dieser sehr umfassende Zuschnitt aufgrund seiner historischen Vielschichtigkeit der Sache des Buches gut tut. Entsprechend hoch ist dadurch jedoch die Komplexität der Argumentation: Erstens geht es Hagner darum zu zeigen, „dass die Kritik am gedruckten Buch, die sich nach wie vor einiger Beliebtheit erfreut, in einer älteren Tradition der Kulturkritik steht, die weit hinter die Anfänge des Internet zurückreicht und eine anti-intellektuelle Tendenz zum Vorschein kommen lässt, der sich die heutigen Anhänger der Bibliophobie wohl eher unbewusst bedienen.“

Damit verbunden sieht Hagner zweitens einen grundlegenden Wandel im Publikationswesen der vergangenen Jahre, den er unter dem Stichwort open access später wieder aufgreift und in einem historischen Rückblick dem „Goldenen Zeitalter“ des geisteswissenschaftlichen Buches gegenüberstellt. Diese inhaltliche Bandbreite zeigt, wie eng die verschiedenen historischen, kulturellen, aber auch (und vielleicht besonders) ökonomischen Dimensionen des gedruckten Buches miteinander zusammenhängen.

Noch komplexer würde Hagners Spurensuche durch die Frage nach der Bedeutung des gedruckten Buches für Prosa und Lyrik. Inwiefern ist das Buch als haptischer Gegenstand für das Lesevergnügen eines Romans oder einer Kurzgeschichte von größerer Bedeutung als im Fall des oftmals zerstückelten Recherchierens und Lesens im Zuge der wissenschaftlichen Arbeit? Oder anders: Wirkt eine Erzählung beispielsweise Josef Roths nicht auch deshalb so anregend, weil das gedruckte Buch in den Händen zu einem ganz besonderen und für derlei Texte wichtigen Lesefluss führt? Hagner thematisiert diesen Aspekt nur einmal kurz, als er auf den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges zu sprechen kommt, der die Plastizität und Variabilität des Buches als konstitutiv „für Denken, Fantasie und Gedächtnis des Menschen“ bezeichnet. Hierüber würde man gerne mehr erfahren.

Hagner indes wendet sich einer historisch-ideengeschichtlichen Einordnung der Rolle des gedruckten Buches zu. Dabei zeigt er detailliert auf, dass die Abgesänge auf Kulturtechniken im Allgemeinen und auf das Buch im Besonderen ihrerseits eine Geschichte haben und insofern eben keine neue Entwicklung sind. Als Beispiele führt er die Autoren Theodor Lessing aus den dreißiger Jahren sowie Marshall McLuhan aus den sechziger Jahren an. Aus deren Argumentation destilliert Hagner drei Merkmale, die jene Kulturkritik am Buch ausmachten: „Erstens: Es ist zu schwerfällig, um dem Tempo der heutzutage möglichen Wissenszirkulation zu entsprechen, und demzufolge auch kein einträgliches kommerzielles Produkt mehr. Zweitens: Es ist Ausdruck eines rückwärtsgewandten, individualistischen und hierarchischen Denkens, das Wissen zu einer elitären Angelegenheit macht und viele mögliche Teilnehmer ausschließt. Drittens: Es versperrt die Möglichkeit, menschengerechtere Wege der Wissensproduktion und -präsentation zu beschreiten.“

Besonders an der ersten Aussage arbeitet sich Hagner ab, indem er das in den Wissenschaften dominierende open access-Modell diskutiert, das heute an die Stelle des so „schwerfälligen“ Buches trete. Kritisch bewertet er die beinahe als Heilsversprechen daherkommenden Forderungen der frühen Vertreter von open access aus den neunziger Jahren, alle Publikationen für alle jederzeit umsonst zugänglich zu machen. Seither seien diese Forderungen immer mehr zu einem „moralischen Imperativ“ geworden, dem sich beispielsweise auch Politiker anschließen, indem sie einen freien Zugang zu Forschungsergebnissen für alle fordern.

Warum Sammelbände lästig sind

Hagners eigentliches Anliegen ist jedoch, auf das Problem der Ökonomisierung des Publikationswesens innerhalb der Wissenschaft hinzuweisen. Seine Kritik gilt vor allem der stetig wachsenden Zahl an wissenschaftlichen Journalen, die dank cleverer Vermarktungsstrategien in den Bibliotheken angeschafft werden „müssen“. Beispielsweise liegen die Trends-Journale, eine Zeitschriftenreihe aus Medizin und Naturwissenschaften, für Bibliotheken bei einem jährlichen Subskriptionspreis von 2.500 Dollar pro Zeitschrift beziehungsweise 35.000 Dollar für alle 14 Abonnements. Diesen Faden spinnt Hagner weiter, indem er unter dem Stichwort „Überforschung“ Publikationsformen wie den Sammelband kritisiert, die nur veröffentlicht, aber nicht gelesen werden.

Im Reigen der Abgesänge auf das Buch nimmt Hagner somit eine keineswegs verklärende, aber dennoch klar für das gedruckte Buch votierende Position ein. Dabei tritt er allzu einseitigen Tendenzen der Ökonomisierung und Publikationswut innerhalb der Wissenschaft entgegen – von einem Universitätsprofessor sicher eine spannende Aussage.

Gute Autoren finden auch gute Verlage

Aber erfüllt der Autor eigentlich seine eigenen Forderungen? Mit dem Wallstein Verlag hat Hagner jedenfalls einen Publikationsort gewählt, der sich der Ökonomisierung noch nach Kräften widersetzt. Tatsächlich bekommen hier junge Menschen mit Interesse an Verlagsarbeit ebenso ihre Chance wie junge Autoren, die den Traum von der Schriftstellerei noch ernstnehmen. Genau das gibt nach der Lektüre von Hagners Buch vielleicht etwas Hoffnung: Solange es gute Autoren gibt, dürfte es auch gute Verlage geben, die das gedruckte Buch als kulturelle Errungenschaft erhalten. Angesichts der vielen Abgesänge auf das Buch ist das eine ermutigende Erkenntnis.

Michael Hagner, Zur Sache des Buches, Göttingen: Wallstein Verlag 2015, 280 Seiten, 17,90 Euro

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