Ein dunkler Traum von Deutschland

"Die deutsche Geschichte geht weiter", schrieb einst Richard von Weizsäcker - und behielt 1989 Recht. Wie ginge sie wohl heute weiter, wenn die Aufständischen von Leipzig, Magdeburg und Saarlouis die Macht übernähmen?

Sommer 2004: Hunderttausende demonstrieren Montag für Montag auf ostdeutschen Straßen für Arbeit statt Arbeitsmarktreformen. Die Eliten sind blockiert – der größere Teil von ihnen, weil er Reformen irgendwie für unausweichlich hält, der kleinere Teil wegen zweier Meldungen, die in diesen heißen Tagen zunächst niemand so recht wahrgenommen hat.

Meldung eins: Deutsche Exporte sind nur noch zu 60 Prozent Made in Germany, teilt die Bundesbank mit und verbindet dies mit der Befürchtung, dass sich Deutschland zu einer „Basar-Ökonomie“ entwickelt, die die Welt mit preisgünstigen und hochwertigen Waren bedient, die aber gar nicht mehr hier zu Lande produziert werden. Meldung zwei: Die Unternehmensberatung Roland Berger hat herausbekommen, dass 90 Prozent der deutschen Industrieunternehmen für die nächsten fünf Jahre weitere Auslandsverlagerungen planen. Selbst 71 Prozent der kleineren Unternehmen mit bis 100 Millionen Euro Umsatz würden in fünf Jahren im Ausland produzieren.

Damit ist klar: Die Flucht des Kapitals versperrt der Politik die Flucht zurück in die siebziger Jahre. Es muss gehandelt werden. Oskar Lafontaine lässt sich am 30. August 2004 auf dem Leipziger Naschmarkt vor 150 abgedrifteten Teilnehmern der Montagsdemo – die anderen wollten keine Parteipolitiker anhören – von Gregor Gysi zum Ersten Paritätischen Obersten Erretter (EPOE) ausrufen. Als erste Amtshandlung erklärt er Bundeskanzler Schröder für abgesetzt und unterstellt die SPD-Bundestagsfraktion der Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit. In spontaner Begeisterung schließen sich die Sozialausschüsse der Union und Horst Seehofer der neuen Formation an, die damit ihre Verluste am rechten Rand sowie das Platzen des Regierungsbündnisses mit den Grünen verkraftet und an der Macht bleibt. Als die Leipziger Demonstranten nach Hause kommen, erfahren sie in heute-journal und Tagesthemen, dass sie gesiegt haben. Am nächsten Tag erkennt Oskar Lafontaine kapitalflüchtigen Unternehmern die deutsche Staatsbürgerschaft ab. „Wir weinen ihnen keine Träne nach und lassen sie auch nicht mehr rein“, ruft er aus. „Die Grenzen machen wir dicht und erhöhen zugleich die Massenkaufkraft.“

Am Anfang noch durch Kredite, dann – wegen der Abschottung – durch Entnahmen aus den Unternehmen: Zwangsabgaben auf alles Mögliche. Vorher muss das Internet geschlossen werden, damit es keine illegalen Geldverschiebungen gibt. Deutschland ist ein großer Markt, wir brauchen die anderen nicht! Der Euro wird abgeschafft und durch die Deutsche Binnenmark (DBM) ersetzt. Es folgen Fixpreise und Festlöhne; die Gewerkschaften handeln deren zweijährliche Steigerung mit der Regierung aus und nehmen dabei zugleich die Interessen der Unternehmen wahr – die wiederum entgehen im Gegenzug der Verstaatlichung (das Privateigentum bleibt geschützt).

Schröderianer in die Steinkohleminen

Das Volk wird den Eindruck haben, dass sich endlich etwas tut – und das gut finden. Zumindest eine Zeit lang ... so wie von 1933 bis 1935/36. Oder in den sechziger und frühen siebziger Jahren in der DDR. Rechtsrevisionisten aus der PDS, unverbesserliche Schröderianer aus der Ex-SPD sowie Meckerer und Nörgler werden zunächst in die wieder belebten deutschen Steinkohleminen und Ruhr-Stahlwerke geschickt, später beim Wiederaufbau der Lausitzer Textilindustrie eingesetzt. Die Überwachung übernehmen arbeitslose Ostdeutsche. Lafontaine zum dritten Jahrestag der Machtübernahme: „Die Forderung ‚Stasi in die Produktion’ ist endlich auf humane Weise erfüllt!“

Die Stammbelegschaften deutscher Automobilhersteller erhalten das Adlon als Betriebsferienheim. Sie dürfen je Arbeitsstunde 40 Minuten Pause machen und erhalten ab 9.43 Uhr Spätschichtzuschlag – allerdings in Form von Branntweindeputat aus betriebseigener Produktion.

Dann kommt der Wirtschaftsmechanismus zum Stillstand. Überall wird gespart. Keine Innovationen mehr, die Substanz ist in jeder Hinsicht aufgebraucht, der künstlich überhitzte Binnenmarkt (der die Exportverluste ohnehin nicht kompensieren kann) bricht zusammen, nachdem jeder Haushalt fünf Autos hat und die Schränke mit Produkten der wieder belebten deutschen Textilindustrie überfüllt sind. Die Qualität lässt nach, Versorgungslücken brechen auf, das Land wird unruhig.

Es kommt zur Besetzung der türkischen Botschaft

Forderungen nach Reisefreiheit und nach der Wiederzulassung von Lebensmittelimporten aus Italien kommen auf. In den USA denkt man darüber nach, ob Deutschland nicht wieder einmal liberalisiert und demokratisiert werden müsste. Aber so lange Lafontaine regiert, gibt es keine KZ. Nur Auffanglager für einreisewillige Neger in Afrika, aber die könnten ja ohnehin nicht nach Deutschland, weil abgeschottet. Stattdessen kommt ein Programm der schrittweisen Einführung von Freizügigkeit: Ausreisewillige Türken dürfen in ihre Heimat ziehen. Später müssen sie – können sich aber entziehen, wenn ihre Familienclans in Deutschland investieren.

Es beginnt ein Run auf die türkischen Vertretungen. Deutsche, die sich die Haare schwarz gefärbt und ihre Frauen verschleiert haben, erschleichen sich die türkische Staatsbürgerschaft. Als die Bewegung Massencharakter annimmt und das Regime abblockt, kommt es zu Botschaftsbesetzungen.

In Istanbul (europäische Seite) konstituiert sich eine deutsche Exilregierung unter Josef Ackermann und Klaus Esser. Esser handelt bei Vodafone das Versprechen aus, dass im Falle einer demokratischen Umgestaltung Deutschlands der Mannesmann-Konzern wieder hergestellt wird. Dafür kassiert er ein Handgeld, dessen Höhe diesmal geheim gehalten wird. Klaus Zwickel vermittelt Kontakte zu Lafontaine-kritischen Gewerkschaftskreisen in Deutschland. Dafür erhält Vodafone das Versprechen, nach der Revolution T-Mobile übernehmen zu dürfen – was logisch ist, denn nach Grenzschließung hatte Vodafone ohnehin schon alle Auslandbeteiligungen der deutschen Telekom übernommen.

George W. Bush ertrotzt angesichts der deutschen Krise eine Verfassungsänderung, die eine vierte Wahlperiode erlaubt. Nach seiner Wiederwahl wird das 2+4-Abkommen außer Kraft gesetzt. USA und EU reanimieren die Nato und die Breschnew-Doktrin. Lafontaine wird zum Rücktritt gezwungen. Vizekanzler Gysi erinnert sich seiner Position als Zweiter Paritätischer Oberster Erretter (ZPOE) und übernimmt die Regierungsgeschäfte „bis zur Einführung des demokratischen Sozialismus in Deutschland, dessen libertäre Ideale unter der Herrschaft Lafontaines verzerrt und gering geschätzt wurden“.

Und schließlich wieder: Dem Morgenrot entgegen!

André Brie beruft einen verfassungsgebenden Runden Tisch nach Wuster-Terhofen ein. Um die drohende amerikanische Invasion abzuwenden, wird erzählt, man wolle eine „Wernesgrüner Verfassung: Freiheitsgüter für alle“ ausarbeiten. Während die Teilnehmer des Runden Tisches noch immer die Präambel debattieren und über die Notwendigkeit streiten, die Entartungen des deutschen Sozialismus unter Ulbricht, Honecker und Lafontaine zu kritisieren, übernehmen unter dem Jubel der Bevölkerung amerikanische Luftlandetruppen das Berliner Regierungsviertel. Ackermann zieht mit dem Victory-Zeichen in das Kanzleramt ein; Esser wird Wirtschafts-, Arbeits- und Finanzminister. Die Ministergehälter werden sofort zur Geheimsache erklärt. John Kerry wird deutscher Außen- und Verteidigungsminister. Von Berlin-Marzahn und Suhl aus beginnt der Siegeszug der demokratisch-sozialistischen Befreiungsbewegung gegen Wessis von dies- und jenseits des Atlantik. Dem Morgenrot entgegen!

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