Dokumentation: Sozialdemokratie der nächsten Generation

Erklärung zur Juso-Konferenz am 17. Dezember 2000 in Berlin

In der SPD bahnt sich langsam aber sicher ein Generationenumbruch an. Die starke Generation der so genannten Enkel Willy Brandts, deren politische Biografie in den frühen 70ern begann, erreicht noch in diesem Jahrzehnt das Rentenalter. Der Generation der 68er haben wir einiges an sozialen und demokratischen Errungenschaften zu verdanken. Nicht zuletzt hat sie die Gleichberechtigung der Frauen voran gebracht und zu einer Überwindung überkommenen konservativen Denkens in der Republik beigetragen. Die politischen und gesellschaftlichen Impulse von 1968 sind jedoch bereits seit den 80ern weitestgehend erschöpft.

Nach ihrem Marsch in die Institutionen haben die Enkel den Zugang Jüngerer in politische Verantwortung lange blockiert. Diese Zeit ist allmählich vorbei. Wir, die etwa 20-35jährigen werden es wieder leichter haben, politische Verantwortung übernehmen zu können. Viele von uns arbeiten auf unterschiedlichen Ebenen in politischen Funktionen bei den Jusos und in der SPD. Andere von uns haben eine Biografie jenseits der Welt der Gremien und Mandate begonnen. Gemeinsam wollen wir uns mit unseren Kompetenzen und Ideen am Diskurs über eine Sozialdemokratie der nächsten Generation beteiligen.

Im strengen Sinne sind wir gar keine Generation - uns Jüngere in der SPD verbindet kein gemeinsames Schlüsselerlebnis. Wir sind selbst kaum noch geprägt durch die sozialdemokratische Arbeiterkultur oder die linke Alternativbewegung. Aber wir erkennen uns auch in den medienwirksam platzierten Plastikbegriffen (89er, Generation Berlin, Generation @, Generation Ich etc.) nicht wieder. Wir sind Teil einer doppelt gespaltenen Generation: 16 Jahre Kohl und die Dynamik des Strukturwandels haben eine sozial gespaltene Generation hinterlassen. Auch haben Jugend Ost und Jugend West nach wie vor unterschiedliche Geschichten und Lebenserfahrungen.


Wenn es eine prägende gemeinsame Generationenerfahrung gibt, so ist dies die Auflösung des alten industriegesellschaftlichen "Modells Deutschland" der Nachkriegszeit. Mehr als älteren Generationen ist uns klar, dass eine neue Epoche des Kapitalismus anbricht. Globalisierung, informationstechnische Revolution und Strukturwandel lösen bisherige Strukturen, Grenzen und Gewissheiten teilweise auf. An die Stelle hierarchischer und bürokratischer Organisationen tritt immer mehr der "stumme Zwang des Marktes". Die Arbeit der Zukunft wird inhaltlich, zeitlich und räumlich flexibler sein. Gleichzeitig wachsen die Anforderungen an das "Management der eigenen Biografie".

Auf die Fragen der "neuen Zeit" hat die Sozialdemokratie noch keine hinreichenden Antworten gefunden. Die Enkel werden uns auf dem Weg zu einem sozialdemokratischen Zukunftskonzept für das 21. Jahrhundert ein Halbfertigprodukt hinterlassen. Zu sehr sind sie hin- und hergerissen zwischen einem auf Standortförderung reduziertem Modernisierungsverständnis und einer Romantisierung der guten alten Zeit.

Die jüngsten Landtagswahlen - aber auch Wahlen in anderen Staaten - haben eines deutlich gemacht: Die Linke tut sich schwer damit, auseinander driftende Teile der Gesellschaft wieder für ihre Politik zu mobilisieren. Die Herausforderung eines neuen gesellschaftlichen Integrationsprojektes der demokratischen Linken stellt sich angesichts einer politisch weniger gebundenen jungen Generation für uns erst recht. Wir wollen der neuen Zeit ein soziales Gesicht geben. Dies wird nur möglich sein, wenn es uns gelingt "Modernität" und "Gerechtigkeit" zusammenzudenken.

Die Jugendlichen, die nicht ganz zu Unrecht den Eindruck haben, dass sie von der Politik im Stich gelassen werden, müssen wir wieder vom Sinn demokratisch legitimierter Politik überzeugen. Ihre sozialen Interessen zu vertreten und ihre Zukunftschancen zu verbessern, ist daher das Gebot der Stunde.

Wir müssen aber auch diejenigen für uns gewinnen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollen und können. Freiheit und Individualität sind nur in einer gerechten Gesellschaft möglich. Es geht nicht um die Verhinderung von Innovation, Eigeninitiative und Selbstorganisation sondern - im Gegenteil - darum, diese Potenziale durch eine emanzipatorische Politik erst vollständig zur Entfaltung zu bringen. Sozialdemokratische Politik der Zukunft heißt: möglichst viele Chancen zu schaffen, um allen Menschen selbstbestimmte Lebensentwürfe zu ermöglichen.

Die überwiegende Mehrheit unserer Generation teilt die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Zwar haben die alten und neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit einschließlich ihrer Symbole an Ausstrahlungskraft eingebüßt. Auch wird politische Zugehörigkeit längst nicht mehr über die sozialen Milieus vererbt. Dennoch halten wir die These vom Ende politischer Ideen für falsch - unsere Generation ist auf der Suche nach neuen Orientierungen.

Wir wollen gemeinsam an einer zeitgemäßen Erneuerung der Sozialdemokratie arbeiten, die die Bedürfnisse und das Lebensgefühl unserer Generation aufgreift. Die Linke muss sich ihrer Traditionen bewußt sein. Aber sie muss ihre Energie aus den erfahrbaren Widersprüchen der Gegenwart und den Vorstellungen für eine lebenswerte Zukunft gewinnen. Wir betonen die Chancen der neuen Zeit. Aber wir wissen auch, dass die Entfaltung dieser Chancen Regeln und Sicherheiten erfordert. Die Globalisierung und die Dynamik der Finanzmärkte brauchen klare politische Regeln, damit sie im Interesse der Gesellschaft funktionieren. Die rasante Entwicklung der neuen Technologien wird die Gesellschaft bereichern. Aber sie müssen erstens allen Menschen zugute kommen und zweitens gestaltbar bleiben. Chancengleichheit hat Bildung als wesentliche Voraussetzung. Unser Bildungssystem spiegelt die Gesellschaft von gestern wieder. Wir brauchen eine zweite große Bildungsreform. Die Sozialpolitik der Zukunft muss neuen Erwerbsbiographien und individuellen Lebenslagen Rechnung tragen. Sie muss die Vereinbarkeit von Arbeit, Freizeit und Familie für beide Geschlechter ermöglichen. Und sie muss die soziale und kulturelle Integration der gegenwärtig ausgegrenzten Teile der Bevölkerung - deutscher und ausländischer Herkunft - gewährleisten.

Wir wollen die SPD zur Beteiligungspartei weiterentwickeln. Alle gesellschaftlichen Großorganisationen drohen zu vergreisen. Auch wir Jüngeren in der SPD sind weniger geworden. Unter 25 Jahre sind nur knapp drei Prozent der Mitgliedschaft. Unsere Partei braucht dringend einen Verjüngungsschub. Da wir anders arbeiten, leben und kommunizieren werden als Generationen vor uns, löst sich die Basis für bisherige Formen kontinuierlicher Parteiarbeit auf.

Unsere Generation begreift Parteien immer weniger als Ort der sozialen Heimat und als Selbstzweck. Sie verlangt flexible und erfolgversprechende Möglichkeiten der Beteiligung. Wir müssen die Strukturen öffnen, um das Prinzip "Lebensabschnitts-PolitikerIn" bzw. "Teilzeit-PolitikerIn" realisieren zu können. Wir wollen die oft behäbige Binnenkultur des Parteienlebens überwinden und streben als junge Generation in der SPD den engen Austausch mit anderen Jüngeren in den Gewerkschaften, den Verbänden, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kultur an.

Die SPD muss sich weiterentwickeln zur Beteiligungspartei. Die wachsende Bedeutung der Medien erfordert zweifellos die Fähigkeit zur Inszenierung von Politik. Aber sie braucht einen "Unterbau" der Beteiligung, des Engagements der Mitglieder in ihren Lebensbereichen. Und sie braucht klare Wert- und Zukunftsvorstellungen. Sie wird nur als Programmpartei auch eine Beteiligungspartei sein können.

Die Organisation einer Sozialdemokratie der nächsten Generation wird weniger hierarchisch und mehr netzwerkförmig organisiert sein. Wenn wir neue Formen der Beteiligung wollen, müssen wir auch die Möglichkeiten der demokratischen Willensbildung stärken. Das immer noch dominierende Territorialprinzip muss zugunsten neuer Strukturen zurückgebaut werden. Dies erfordert die Aufwertung zielgruppenorientierter, fachlicher und projektförmiger Strukturen mit entsprechenden Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten. Der Umgang mit dem Internet ist für uns bereits Teil des Alltags. Gerade deswegen wissen wir: Es ermöglicht neue Formen der Kommunikation, aber es ist nicht Problemlöser für alles.

Mit dem Aufbau von Netzwerken wollen wir dieser Entwicklung Rechnung tragen. Wir wollen bundesweite Informationsstrukturen für Jusos und junge SPD-Mitglieder aufbauen, die sich in bestimmten Funktionen oder beruflichen Situationen befinden und von einem gegenseitigen Austausch profitieren können. Starten werden wir mit fünf Netzwerken: junge KommunalpolitikerInnen, junge LandespolitikerInnen, junge KandidatInnen für den Bundestag, SPD-Jugendinitiative und Young Professionals.

Wir wollen eine politische Generation aufbauen. Unser gemeinsam formuliertes Ziel ist es, in der jungen Generation wieder mehrheitsfähig zu werden. Die Grundlagen dafür haben wir benannt: die Entwicklung von sozialdemokratischen Antworten auf die Fragen unserer Zeit und die Stärkung unserer Kommunikationsfähigkeit

Auch wir Jüngeren in der SPD sind uns nicht immer einig. Produktiven Streit sehen wir als Chance und Bereicherung. Wir sind bereit, politische Verantwortung zu übernehmen. Politische Verantwortung heißt für uns aber auch, für Ideen zu stehen und nicht nur für Posten. Wenn wir nicht als Einzelkämpfer auftreten wollen, müssen wir eine gemeinsame Basis für eine Sozialdemokratie der nächsten Generation definieren. Den Startschuss für diese Verständigung geben wir mit dieser Konferenz. Wir werden uns im Rahmen der SPD-Jugendinitiative, der Parteireform und selbstverständlich der Programmdebatte zu Wort melden. Wo immer dies möglich ist, werden wir dies gemeinsam tun.

Gerade in Phasen des Umbruchs kann es keine fertigen Antworten geben. Wir wollen den offenen Diskurs. Aber im "Kampf um die Köpfe" scheuen wir uns nicht, politische Gegner zu benennen. Wir bekämpfen alle Spielarten des Rechtspopulismus und des Rechtsextremismus und werden alles in unserer Kraft stehende unternehmen, um Jugendliche und junge Erwachsene nicht in den braunen Sog geraten zu lassen. Aber wir stellen uns auch gegen den von angeblichen Liberalen gepredigten "Anarchismus für Reiche". Wer die Ideologie des ungezügelten Marktes und der sozialen Ungleichheit predigt, verachtet die Interessen der allermeisten Menschen und gefährdet die Grundlagen der Demokratie.

Politischer Fortschritt erfordert Streit und Widerspruch. Es ist daher nicht nur die Aufgabe, sondern die Pflicht einer Sozialdemokratie der nächsten Generation Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu formulieren und auf Reformbedarf hinzuweisen. Wer den bloßen Pragmatismus zum Programm erklärt, kann mit Mitte Zwanzig schon steinalt sein.

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