Doe maar gewoon, dan ben je al gek genoeg

Marc Drögemöller isst und trinkt mit Marnix Krop, dem niederländischen Botschafter in Deutschland, im "Lutter und Wegner", Charlottenstraße 56, 10117 Berlin, täglich geöffnet von 11 bis 3 Uhr

Nein, verstecken will es sich nicht. Hier pulsiert das Leben, mittendrin im Herzen der Berliner Republik. Das Lutter und Wegner ist kein Restaurant für die Seitenstraße. Es bietet seinen Gästen einen direkten Blick auf den Gendarmenmarkt, den schönsten Platz der Stadt. Und es bietet deutsche Gastlichkeit mit österreichischem Einschlag. Das gefällt Marnix Krop, dem Botschafter Ihrer Majestät der Königin der Niederlande. Nach seinem Geschmack ist das pulsierende Leben in dieser Gegend aber steigerungsbedürftig. „Die Auswahl an Restaurants ist nicht sehr groß. Berlin ist eben eine Stadt ohne richtiges Zentrum“, bemerkt der Diplomat, der das Königreich seit 2009 in der Bundesrepublik vertritt. Das habe natürlich historische Gründe. Krop macht sich Gedanken über die Zukunft der Stadt. Diese werde von den Stadtplanern noch nicht als Ganzes gesehen. Das Viertel rund um den Gendarmenmarkt würde er viel stärker beleben, um das schlummernde Potenzial zu wecken.

Wir haben uns zum Mittagessen getroffen und entscheiden uns für die Klassiker des Hauses: Sauerbraten und Wiener Schnitzel. Letzteres soll das Beste außerhalb Wiens sein, behauptet die New York Times. Das Lokal füllt sich rasch, ohne vorherige Reservierung könnte es eng werden mit einem freien Platz. Geschäftsleute, Politprominenz oder Touristen finden sich hier ein. Die hohen Räume mit getäfelten Wänden und den von Elvira Bach, Rainer Fetting und Salomé bemalten Säulen schaffen die behagliche Atmosphäre eines Salons. „Es erinnert mich hier an Paris und an Amsterdam zugleich“, freut sich Krop. Er hat schließlich den Vergleich. Nach seiner wissenschaftlichen Arbeit für die Wiardi-Beckman-Stiftung, also den Think Tank der niederländischen Sozialdemokratie, war er als Gesandter seines Landes in verschiedenen europäischen Hauptstädten tätig. Zwischendurch übernahm der Jurist Aufgaben im niederländischen Außenministerium und kümmerte sich als Generaldirektor um die Europapolitik.

Jetzt schlägt Marnix Krops Herz für das neue Berlin. „Die niederländischste Stadt Deutschlands“, findet er. Die Atmosphäre sei ähnlich, weil Berlin eine egalitäre und offene Stadt mit intellektuellen Debatten und viel Kultur sei. Hier kann der Freiheitsdrang ausgelebt werden, den die Niederländer als alte Seefahrernation verinnerlicht haben. Da stört es auch wenig, dass die Stadt nicht am Meer liegt. Wasser gibt es auch so genug. Was aus niederländischer Perspektive noch wichtig ist: „Die Berliner akzeptieren keine Überheblichkeit.“ Das passt gut zur alten niederländischen Weisheit „Doe maar gewoon, dan ben je al gek genoeg“ – zu Deutsch: „Verhalte dich einfach ganz normal, dann bist du schon verrückt genug.“ Jetzt ist klar, warum sich die Niederländer in Berlin fast zu Hause fühlen. Immerhin leben rund 4 000 von ihnen in der Stadt.

Wir sprechen über das Essen in Deutschland. Krop ist froh, „dass man hier überall gut speisen kann“. Dabei probiere er bei seinen Reisen durch Deutschland vor allem die regionalen Spezialitäten aus. Schon in seiner Kindheit habe er bei Ausflügen mit seinen Eltern festgestellt, dass Deutschland viele Gasthöfe hat. Das sei bis heute so geblieben. „Hier hält man stärker an Traditionen fest als in meinem Land.“ Kein Wunder also, dass er das Lutter und Wegner als sein Lieblingslokal ausgewählt hat: Es ist ein Haus mit Geschichte. Im Jahre 1811 durch die Weinhändler Christoph Lutter und August F. Wegner eröffnet, stieg die Weinhandlung rasch zum Hoflieferanten des preußischen Kronprinzen empor. Eine kleine Anekdote gibt es auch: Zu den vielen Stammgästen des Weinlokals gehörte der Hofschauspieler Ludwig Devrient. Im Jahre 1825 betrat er nach der Aufführung „Heinrich IV.“ das Lutter und Wegner und rief dem Kellner zu: „Bring er mir Sack, Schurke!“ Der Kellner, verwirrt ob dieser Bestellung, servierte Schaumwein, den Devrient gewöhnlich dort trank. Der Schauspieler aber meinte wohl den shakespeareschen Begriff für Sherry, „Sack“ [sæk]. Damit war der Begriff Sekt geboren.

Ich will von Marnix Krop wissen, wie er den Zustand des deutsch-niederländischen Verhältnisses einschätzt. Das war in der Vergangenheit ja nicht immer völlig reibungslos. Geprägt vom Gegensatz eines kleinen und eines großen Landes und stark beeinträchtigt durch den Zweiten Weltkrieg, kennzeichneten lange Jahre Misstrauen und Distanz die Kontakte. Diese Brisanz machte selbst vor Fußballspielen der beiden Nationalmannschaften nicht Halt. Die Niederlande als freiheitsliebendes Land legen Wert auf ihre Eigenständigkeit. Marnix Krop betont, dass sich beide Seiten zwar sehr ähneln würden, aber eben nicht gleich seien. Mit den heutigen Beziehungen der zwei Nachbarn ist der Botschafter jedoch sehr zufrieden. Aus der schwierigen Nachbarschaft sei eine enge Partnerschaft geworden. Diplomatisch muss er gar nicht sein: „Früher galt Deutschland nicht als sexy, das ist heute ganz anders, auch wegen Berlin.“

Zu dieser engen Verbindung passt, dass man voneinander lernen will. Dies gilt besonders dann, wenn politischer Erneuerungsdruck entsteht. Der Nachbar dient in solchen Zeiten gerne als politisches Schaufenster. Und in der Tat: Die Niederlande sind bekannt für ihre auf Austausch und Kompromiss setzende Form der Problemlösung, die unter der Überschrift Poldermodell auch in Deutschland Karriere machte. Gerhard Schröders Leute schauten bei den Vorbereitungen zum „Bündnis für Arbeit“ genau hin, wie die niederländische Tarifpartnerschaft in der politischen Kultur funktioniert. Umgekehrt ist es nicht viel anders: Die erst vor wenigen Monaten neu gebildete niederländische Regierung des liberalen Ministerpräsidenten Mark Rutte und seines Stellvertreters Lodewijk Asscher von den Sozialdemokraten hat für ihren geplanten Umbau des Sozialsystems den Blick über die Grenze geworfen. „Hier mag die Agenda 2010 stärker Vorbild sein, als dies in der Öffentlichkeit bekannt ist“, beobachtet Krop.

Die Niederlande stehen in diesem Jahr aber noch vor ganz anderen Herausforderungen. Königin Beatrix, seit 1980 Regentin ihres Landes, hat angekündigt, den Thron zu räumen und das Amt ihrem ältesten Sohn Willem-Alexander zu übergeben.

Eine Debatte, die Monarchie kurzerhand abzuschaffen, gibt es in den Niederlanden nicht. „Zwischen Königin und Volk besteht ein republikanisches Verhältnis. Das macht es auch für Deutschland interessant.“ Königin Beatrix hat hierzulande in der Tat viele Anhänger, weil sie in ihrer unprätentiösen Art selten Distanz zu den Menschen aufkommen ließ. Ihre vielen Besuche im Heimatland ihres Mannes, Prinz Claus von Amsberg, werden in guter Erinnerung bleiben. Daran hat Hape Kerkeling einen großen Anteil. Sein Sketch aus dem Jahr 1991, in dem er sich als Königin Beatrix verkleidet mit der Limousine vor das Schloss Bellevue fahren ließ und der echten Monarchin zuvorkam, hat längst Kultstatus erlangt.

Für den künftigen König wird es nicht ganz leicht, die Lücke zu füllen. Sorgen über den Thronwechsel macht sich Marnix Krop allerdings nicht. „Willem-Alexander wird für viel Kontinuität sorgen und natürlich neue Akzente setzen“, sagt er voraus. Eine seiner ersten Staatsvisiten wird den neuen König Anfang Juni übrigens nach Deutschland führen. Der offizielle Antrittsbesuch beginnt in Berlin. Dies unterstreicht das gute deutsch-niederländische Verhältnis, das für die Zusammenarbeit in Europa wichtig ist. Marnix Krop will verhindern, dass Deutschland in der EU alleine steht. „Da sind wir doch ein angenehmer Partner für unseren deutschen Nachbarn – mit einem guten Ruf.“

Als wir mit unserem Essen fertig sind, betritt Joschka Fischer mit einer kleinen Gruppe das Restaurant. Er kommt direkt auf unseren Tisch zu. In unser Gespräch zu den deutsch-niederländischen Beziehungen hätte er sofort einsteigen können. Doch er zieht es vor, hinter uns in einer versteckten Ecke Platz zu nehmen. Er will unerkannt bleiben im Herzen Berlins.

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