Direkte Demokratie ist kein Hexenwerk

Zu Frank Decker, Kapriolen der direkten Demokratie, Berliner Republik 3+4/2017

Noch vor wenigen Jahren stand die Ausweitung der direkten Demokratie bei den Parteien des linken Spektrums hoch im Kurs. Das hat sich grundlegend geändert. Im Bundestagswahlprogramm der SPD etwa sucht man Hinweise auf eine Ausweitung direkter Beteiligungsformen vergebens. Frank Decker nennt in der Berliner Republik 3+4/2017 eine gewichtige Ursache: Gerade linke Landesregierungen haben mit Volksbegehren schlechte Erfahrungen gemacht. Dies ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass die – konservative – Opposition in den Bundesländern Volksentscheide für ihre eigenen Zwecke nutzt. Sondern auch darauf, dass „das Volk“, wie die jüngsten Wahlen eindrucksvoll demonstriert haben, schlicht nach rechts gerückt ist. Ist aber die Tatsache, dass Volksabstimmungen keine „linken“, sondern eher „rechte“ Ergebnisse bringen, ein legitimer Grund, von dem Instrument abzurücken? Genau diesen Eindruck muss man in weiten Teilen des linken Lagers derzeit gewinnen. Aber so einfach macht es sich Frank Decker natürlich nicht.

Er weist vielmehr auf einen vermeintlich fundamentalen Widerspruch zwischen parlamentarischer Demokratie und Volksgesetzgebung hin. Das Hauptproblem der Volksgesetzgebung sei „ihre oppositionelle Funktionslogik, die sich mit der parlamentarischen Regierungsweise nicht in Einklang bringen“ lasse. Anders als in Präsidialsystemen werden die Regierungen beziehungsweise Regierungschefs in parlamentarischen Systemen vom Parlament gewählt und von einer Mehrheit des Parlaments getragen. Bedeutet das aber, wie Decker behauptet, dass es dem parlamentarischen Gedanken komplett widerspricht, wenn die Opposition nicht nur kritisiert, sondern über Referenden auch Vorhaben der Regierung zu Fall bringt oder ihr nicht genehme Vorhaben aufzwingt? Das skandinavische Beispiel, wo Minderheitsregierungen sich im Parlament Mehrheiten suchen, zeigt doch, dass sich Regierungs- und Oppositionsfraktionen nicht starr gegenüberstehen müssen, sondern die Rolle als Regierungs- und Oppositionsfraktion je nach Sachfrage flexibel wechseln kann. Warum sollte es dann dem Parlament schaden, wenn die Opposition sich gelegentlich mit Hilfe eines Volksentscheides durchsetzt?

Die Schwäche vieler europäischer Parlamente beruht doch nicht darauf, dass die Opposition zu viel hineinregiert. Ihre Schwäche liegt darin, dass sie ihrer Rolle als Gesetzgeber und Kontrolleur der Regierung oftmals nur unzureichend nachkommen. Gesetzentwürfe werden in der Regel in der Regierung, also der Exekutive, geschrieben und vom Parlament mit oft nur minimalen Änderungen verabschiedet. Dadurch wird nicht nur die Gewaltenteilung ad absurdum geführt, sondern auch die Kontrollfunktion in ihr Gegenteil verkehrt: Mit der Vorlage von Gesetzentwürfen kontrolliert und beschränkt die Regierung eher das Parlament als umgekehrt. Wirklichen Gegenwind haben Regierungen aus den Regierungsfraktionen jedenfalls selten zu erwarten. Wenn in einer solchen Situation die parlamentarische Opposition zum Instrument der Volksbefragung greift und die parlamentarische Kontrollfunktion quasi durch die Hintertür wahrnimmt, könnte man dies durchaus als Stärkung des Parlaments werten.

Bezeichnend ist Deckers Äußerung zum Volksbegehren über die Offenhaltung des Flughafens Berlin-Tegel: Mit der Annahme dieses Begehrens müssten „die Regierungsparteien“ (!) „einen Volksentscheid umsetzen, hinter dem sie nicht stehen“. Es sind jedoch nicht die Regierungsparteien, sondern es ist die Regierung, die dies in die Tat umsetzen muss. Und was, bitte, ist in einer Demokratie daran bedenklich, wenn eine Regierung Entscheidungen umsetzen muss, hinter denen sie nicht steht? Genau dies ist ja der Kern der Gewaltenteilung. Die Regierung muss als Exekutive Gesetze hinnehmen und praktisch umsetzen, die das Parlament beschlossen hat, und ist zudem an die Urteile des Bundesverfassungsgerichts gebunden, ob ihr das passt oder nicht. Entscheidungen umzusetzen, hinter denen man nicht steht: Das ist nicht undemokratisch, sondern Kernmerkmal demokratischer Gewaltenteilung.

In einem Punkt hat Decker natürlich Recht: Die Volksgesetzgebung steht in Konkurrenz zur parlamentarischen Gesetzgebung oder genauer gesagt zu den Mehrheitsfraktionen, die die Regierung im Parlament tragen. Denn ihr gesetzgeberisches Handeln wird durch Direktentscheide korrigiert. Aber auch hier stellt sich die Frage: Ist das für eine repräsentative Demokratie verderblich oder kann es sogar positive Effekte haben? Volksentscheide können eine Art Überlaufventil darstellen für die Unzufriedenheit von Bevölkerungsgruppen, die ihre Interessen im Parlament nicht hinreichend vertreten sehen.

Ein solches Ventil fehlte beispielsweise in der Flüchtlingskrise. Die Folgen zeigten sich bei der Bundestags- und den Landtagswahlen. Parlamentarisch nicht repräsentierte Interessen bahnen sich ihren Weg ins Parlament über neue Parteien, die diese Interessenvertretung im schlimmsten Fall jedoch mit einer populistischen oder gar extremistischen Ideologie verbinden. Wäre es da nicht den Versuch wert, solcher Unzufriedenheit frühzeitig über Volksentscheide auf Bundesebene die Spitze zu nehmen? Gerade angesichts der Erbittertheit, mit der über Einwanderung gestritten wird, sei daran erinnert: Volksabstimmungen können befriedende Wirkung haben, gerade bei Fragen, bei denen sich zwei nahezu gleich große Gruppen in der Bevölkerung unversöhnlich gegenüberstehen und bei denen eine Gruppe sich parlamentarisch nicht angemessen vertreten fühlt. Ein Beispiel hierfür ist die Abstimmung zu Stuttgart 21, die dem Projekt in den Augen seiner Gegner erst die notwendige demokratische Legitimität verschafft hat.

Was in den Ländern möglich ist, so ein weiterer Einwand Deckers, sei auf den Bund jedoch wegen der größeren „Komplexität der Entscheidungsmaterien auf Bundesebene“ nicht übertragbar. Wer sich aber an die detailversessenen öffentlichen Diskussionen zu Stuttgart 21 – einem Referendum auf Landesebene – erinnert, kommt zu der Erkenntnis: Sehr viel komplexer geht es kaum. Dass Volksentscheide Komplexität auf einfache Ja-/Nein-Fragen reduzieren, ist gewiss nicht immer unproblematisch. Aber ein Argument gegen direkte Demokratie auf Bundesebene ist dies nicht.

Am Beispiel des Flughafens Tegel macht Decker auf ein weiteres Problem von Volksentscheiden aufmerksam: Nicht selten wird über Materien abgestimmt, die die Zuständigkeit mehrerer staatlicher Ebenen berühren, neben dem Land beispielsweise auch den Bund und die Kommune. Ein Volksentscheid auf Landesebene garantiert dann nicht, dass auch die anderen Ebenen die Entscheidung mittragen. Wenn dann das Ergebnis eines Referendums wegen des Vetos anderer beteiligter Akteure nicht verwirklicht werden kann, ist die Enttäuschung programmiert. Aber auch dies ist nicht ein Spezifikum direkter Demokratie, sondern aller föderalen Entscheidungsprozesse, auch der parlamentarischen. Wenn Parteien zur Bundestagswahl Verbesserungen im Bildungswesen versprechen, diese dann aber mangels Bundeskompetenz oder aufgrund des Widerstands der Länder im Bundesrat nicht verwirklichen können, ist der Fall ganz ähnlich gelagert – und kaum weniger frustrierend.

Was aber, wenn Volksentscheide Ergebnisse herbeiführen, die nicht mit dem Grundgesetz oder EU-Recht vereinbar sind? Dies lässt sich im Grunde ganz einfach vermeiden: Indem über die Zulässigkeit eines Volksentscheids auf Bundesebene vorab das Bundesverfassungsgericht urteilen muss. Alles kein Hexenwerk, und kein Grund, den Kampf für mehr direkte Demokratie Rechtsaußenparteien zu überlassen.

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