Digitale Bohème und Politik

Die deutsche Sozialdemokratie hängt an der alten Industriegesellschaft, ihren Institutionen und Systemen - historisch begreiflich, strategisch falsch. Der Wandel von Arbeit und Leben im 21. Jahrhundert erfordert ganz neue Antworten

Was bedeutet „links“, wenn es um Arbeit geht? Gewerkschaftstreue? 28,8-Stunden-Woche? Ladenschluss? Dies sind zweifellos wichtige Anliegen aus dem 20. Jahrhundert. Aber für eine wachsende Gruppe in der Gesellschaft, die wir die „digitale Bohème“ nennen, hat der Arbeitsbegriff immer weniger mit dem Nine-to-Five-Schema zu tun. Diese Gruppe leistet im weitesten Sinne Kreativarbeit, sie nutzt dabei das Internet und digitale Produktionsmittel – und sie ist selbständig.

 

Doch die Formen dieser Selbständigkeit waren bei der Errichtung der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland nicht vorgesehen. Die digital Kreativen mögen Unternehmer sein, aber sie haben wenig Lust, Mitarbeiter anzustellen. Sie verfügen über ein Einkommen, aber für eine selbstfinanzierte Altersversorgung reicht es selten. Sie ahnen, was eine Arbeitslosenversicherung ist, es geht sie aber nichts an. Sie sind aus den Sozialsystemen ausgeschlossen, weil in den Augen des Sozialstaates auch Kleinstunternehmer irgendwie Unternehmer sind und deshalb gefälligst für sich selbst sorgen sollen.

 

Interessanterweise arbeiten diese Selbständigen häufig in Netzwerken – früher hätte man Kollektive gesagt –, und eben nicht mit den Ellenbogen. Die digitale Bohème akzeptiert den marktwirtschaftlichen Wettbewerb zwar durchaus, doch es gilt die Kennedy-Metapher: „Die einkommende Flut hebt alle Boote.“ Darum kämpft nicht jeder automatisch um den maximalen eigenen Vorteil, selbst wenn die Netzwerke oft reichlich lose gestrickt sind.

 

Treten wir einen Schritt zurück und schauen uns dieses Phänomen, das noch am Anfang seiner Entwicklung steht, aus sicherer Distanz an. Der große, umfassende Gesellschaftstrend des 20. Jahrhunderts war die Individualisierung. Doch während Freizeit und Konsum ordentlich durchindividualisiert wurden, blieb die Arbeit, die immerhin rund ein Viertel der Lebenszeit beansprucht, davon so gut wie ausgenommen. In Deutschland sind weniger als zehn Prozent der berufstätigen Personen selbständig. Die übrige Arbeitsbevölkerung schuftet in so genannten Normalarbeitsverhältnissen und erlebt den Job zumeist als weitgehend fremdgesteuerten Lebensbereich. In den Ohren der von Industrie und Einzelhandel geprägten Generationen mag sich das selbstverständlich anhören. Aber immer mehr Menschen, besonders die Hochqualifizierten, fragen sich, weshalb sie ihren Selbstbestimmungsdrang, der schon bei der Auswahl des richtigen Diätjoghurts gemeinhin als unverzichtbar gilt, im Berufsleben unterdrücken sollen – zugunsten einer trügerischen Sicherheit. Denn unabhängig vom Konjunkturverlauf gibt es Jobgarantien ja kaum noch irgendwo, erst recht nicht für die Jüngeren, die sie besonders gut gebrauchen könnten. Sicher, viele Selbständige haben ihren Status in den Jahren der Wirtschaftsflaute nicht unbedingt freiwillig gewählt. Richtig ist aber auch, dass viele Selbständige glücklicher sind als Festangestellte, obgleich sie häufig weniger verdienen.

Teilzeitarbeit = Leistungsverweigerung?

Einer der Gründe dafür ist die zeitliche Flexibilität der Selbständigen. Sie sind eher in der Lage, die eigene Arbeit dem Leben anzupassen – und nicht umgekehrt. In der Schweiz funktioniert das bis zu einem gewissen Grad auch mit einer Festanstellung. Dort können Arbeitnehmer ihre Stellen munter zwischen Vollzeit (100 Prozent) und Teilzeit (bis zu 20 Prozent) in Zehnerschritten hin- und herskalieren. In Deutschland hingegen wird Teilzeitarbeit hinter vorgehaltener Hand gern als Leistungsverweigerung verspottet. Wer es wagt, vor 18 Uhr zusammenzupacken, bekommt in vielen Büros den nur halb scherzhaft gemeinten Spruch zu hören: „Wie, Du gehst schon in die Mittagspause?“

 

Der Traum, sich die eigene Arbeitszeit selbst einzuteilen, ja sie am besten zu minimieren, ist weit verbreitet. In den Vereinigten Staaten ist ein Bestseller mit dem Titel „Die 4-Stunden-Arbeitswoche“ in aller Munde. Der Autor Tim Ferriss stellt dar, wie man die Globalisierung (moralisch durchaus fragwürdig) zur eigenen Arbeitsverminderung einsetzen kann. In Großbritannien entdecken vor allem höhere Angestellte das „Downshifting“, also die Möglichkeit, den Job zu kündigen und einer weniger qualifizierten, schlechter bezahlten, aber schöneren und freieren Beschäftigung nachzugehen. Auch in Deutschland fragen sich viele Menschen, weshalb sie die Hälfte ihrer Wachzeit unabhängig von der Tagesform in einem Büro verbringen sollen, wenn es auch anders geht. Sie mögen dann weniger verdienen, müssen aber auch kein teures, statussymbolgeschwängertes Angestelltenleben führen, das Cluburlaub und Jahreswagen der unteren Mittelklasse zwingend vorschreibt.

 

In den Bürofluren der Konzerne und mittelständischen Unternehmen herrscht denn auch alles andere als schaffensfrohe Leistungsbereitschaft: Das Gallup-Institut hat 2004 in einer Umfrage unter weltweit 1.800 Arbeitnehmern festgestellt, dass nur etwa 10 Prozent der Angestellten einigermaßen motiviert bei der Sache sind. Die überwiegende Mehrheit, etwa 70 Prozent, absolviert Dienst nach Vorschrift, der Rest scheint die unterschriebene Kündigung in der Schublade oder zumindest im Kopf zu haben. Diese Zahlen mögen übertrieben sein, sie entsprechen aber der Stimmung, die in Büchern wie dem Bestseller Die Entdeckung der Faulheit: Von der Kunst, bei der Arbeit möglichst wenig zu tun transportiert wird. Darin erklärt die Französin Corinne Maier, wie man sich im Unternehmen ein ungestörtes Plätzchen zurechtzimmert.

 

In vielen Unternehmen wird unternehmerisches Denken oder Handeln nicht gern gesehen. Anspruchsvolle, entwicklungsintensive Arbeiten erledigen teure Unternehmensberatungen, während der Normalangestellte seinen Bereich nach den Regeln der Risikominimierung und Jobsicherung verwaltet – was ihm nicht vorzuwerfen ist. Genau deshalb ist es jedoch so schwierig, mit einem Job in Büro 237b glücklich zu werden. Und dafür soll man all die Jahre arm, aber entspannt vor sich hin studiert haben?

Nicht Sex, sondern Flow

Die digitale Bohème sieht nicht ein, dass ein solches Leben das Maß aller Dinge sein soll. Sie verzichtet auf das dreizehnte und das erste Monatsgehalt, auf 24 Urlaubstage und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und streicht das Wort „Pendlerpauschale“ aus ihrem Wortschatz. Noch ist diese Gruppe eine – in der Regel gut qualifizierte – Minderheit der arbeitenden Bevölkerung. Doch sie wird größer und wichtiger. Wenn Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit davon spricht, seine Stadt sei „arm, aber sexy“, meint er vermutlich weniger das beheizte Mitarbeiterschwimmbad von Bayer als die Projekte, Produkte und Partys der digitalen Bohème und der Kreativindustrie.

 

Der Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi hat entdeckt, dass der Mensch das am längsten anhaltende Glück weder beim Essen von Schokolade noch beim Sex empfindet, sondern beim völligen Aufgehen in einer Tätigkeit – dem so genannten „Flow-Zustand“. Um diesen Zustand zu erreichen, muss die Arbeit selbst gewählt sein und einen herausfordernden, aber machbaren Schwierigkeitsgrad haben. Das Streben nach dem Flow bringt uns zurück zu der Entscheidung, nicht mehr an dem Rattenrennen um Karriere und Posten teilzunehmen, sondern sich eine erfüllte Beschäftigung zu suchen.

 

Diese Erfüllung findet sich mithilfe des Internet und der digital demokratisierten Produktionsmittel heute wesentlich einfacher als noch vor 20 Jahren. Denn längst beschränkt sich der Kreis der digitalen Bohème nicht mehr nur auf Computerarbeiter; er umfasst weite Teile von Medien, Kultur und sogar (Kunst-)Handwerk. Keine Zeitung wird gedruckt, kein Marketing-Etat ausgegeben, kein Konzert veranstaltet, kein Film gedreht, kein größeres Internetprojekt umgesetzt, ohne dass eine Vielzahl von „diffus kreativen“ (Mercedes Bunz) Selbständigen daran ihren Anteil hat. Goldschmiede vertreiben ihre Kollektionen über das Internet, Illustratoren werden von Kunden über digitale Netzwerke gefunden, Händler betätigen sich als „Power Seller“ im Internetauktionshaus ebay – schon immer hat das Internet auch computerferne Branchen beflügelt.

Neue Berufe, wo früher bloß Hobbies waren

Das dazugehörige Stichwort, das die Namedropping-Charts in der IT-Branche seit gut einem Jahr anführt, ist „Long Tail“. Dazu passend hat der amerikanische Autor Chris Anderson im Jahr 2006 das viel beachtete Buch The Long Tail: Why the Future of Business is Selling Less of More veröffentlicht, dessen deutscher Titel, etwas unglücklich, Der lange Schwanz lautet. Anderson schildert, wie im Internet Nischenangebot und Nischennachfrage besser zueinander finden, was zu neuen Märkten führt: den Long Tails. Berufe entstehen, die früher bestenfalls Hobbys waren. Lager- und Verkaufsflächen verursachen kaum noch Kosten. So hat die Internet-Buchhandlung Amazon problemlos ständig ein paar Millionen Titel auf Lager. Andersons Prognose: Aufgrund der größeren Auswahl und der einfachen Produktsuche im Netz werden künftig mehr unterschiedliche Produkte verkauft werden. In der Summe werden die Nischen sogar mächtiger als die „Hits“: Es wird weniger Stars wie Madonna geben, aber dafür mehr Künstler, die von ihrer Musik leben können. Zumindest wirtschaftstheoretisch.

 

Zudem hat die kleine, aber medial präsente Gruppe der digitalen Bohème Auswirkungen auch auf traditionelle Wirtschaftsbereiche. Der amerikanische Ökonom Richard Florida macht einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum einer Stadt und der dort lebenden creative class aus. Laut Florida wandern Unternehmen mittel- und langfristig dorthin, wo die bestqualifizierten Arbeitskräfte leben. Diese wiederum suchen sich ihren Standort eher nach dem Kriterium der Lebensqualität aus als nach dem Arbeitsangebot – einen guten Job oder entsprechende Aufträge finden sie sowieso überall. Nun ist die kreative Klasse nicht deckungsgleich mit der digitalen Bohème. Florida zählt im Prinzip alle Wissensarbeiter zur creative class, selbst Ingenieure und Rechtsanwälte. Doch er gesteht den digitalen Lebenskünstlern, den Selbständigen aus Medien und Kultur, eine Lotsenfunktion zu. Wo sie sich niederlassen und wohl fühlen, möchten bald auch die „High Potentials“ wohnen und arbeiten, nach denen sich Unternehmen umschauen. Wer einmal mit einem Manager aus der Provinz Biertrinken geht, wird schon nach zwei Stunden das Klagelied hören, wie unendlich schwer es sei, junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte nach Herzogenaurach oder gar Frankfurt/Oder zu locken. Wenn jemand komme, dann bleibe er – Augen zu und Luft anhalten – sowieso nur zwei Jahre.

Kreativität und Staatsapparat

Richard Floridas Analysen und Thesen mögen sich auf Deutschland nur eingeschränkt übertragen lassen, als Richtungsanzeiger für eine kulturelle, soziale und wirtschaftliche Entwicklung funktionieren sie allemal. Bleibt die Frage, wie die Politik mit der digitalen Bohème und den Selbständigen der Kreativindustrie umgehen sollte.

 

Zunächst wäre es schön, wenn auch in den mittleren und unteren Ebenen des Staatsapparates, namentlich in den Verwaltungen, ein gewisses Verständnis für den Beitrag dieser Menschen zur Arbeitsgesellschaft geweckt würde. Es ist zum Beispiel unglaublich schwierig, in die Künstlersozialkasse aufgenommen zu werden, wenn man neben einer Beschäftigung als Künstler ein wenig Geld mit dem angrenzenden Kunsthandwerk verdient. Dabei wäre die Künstlersozialkasse auch für Kleinselbständige ein hilfreiches Instrument der sozialen Sicherung.

Noch Bohème oder schon Unterschicht?

Dass die digitale Bohème am existierenden sozialen Sicherungssystem kaum partizipiert, hat Nachteile für beide Seiten: Die Rentenkasse kann es sich nicht leisten, wenn zu viele Menschen selbständig sind; anders herum wirkt sich ein fragmentierter Lebenslauf, in dem sich kleinunternehmerische Phasen und Perioden befristeter Festanstellung abwechseln, nicht gerade positiv auf die Rente aus. Die durchschnittliche Arbeitsbiografie entwickelt sich aber genau in diese Richtung.

 

Eine gesellschaftspolitische Diskussion über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft ist nötig, bei der sich die digitale Bohème auch an die eigene Nase fassen muss. Denn Schuld an der drohenden Prekarisierung von Teilen der digitalen Bohème sind nicht nur die bösen, bürokratischen Strukturen. Zu Recht stellt die Berliner Band „Britta“ auf ihrer Platte Das schöne Leben die Frage: „Ist das noch Bohème – oder schon die Unterschicht?“ Eine Politisierung ist notwendig, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Vermutlich braucht die digitale Bohème sogar eine organisierte Interessenvertretung, auch wenn die Forderung nach einer Bohème-Gewerkschaft lächerlich klingen mag.

 

Was also ist links, wenn es um Arbeit geht? Selbstbestimmung, Arbeit als gesellschaftliche Teilhabe, keine Angst vor sozialer Not? Ja, ja und ja. Mit den richtigen politischen Weichenstellungen – innerhalb wie außerhalb der digitalen Bohème – könnte diese Gruppe einen Vorbildcharakter für soziale Sicherung im 21. Jahrhundert bekommen.

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