Die Zukunft gehört der Vorsorge

Die gesundheitspolitische Debatte in Deutschland kreist vor allem um die Bürgerversicherung. Tatsächlich sind andere Probleme drängender. Bei steigenden Kosten medizinischer Versorgung sind dies vor allem Fragen der Priorisierung und der Rationalisierung. Fest steht: Wer Gerechtigkeit anstrebt, muss Gesundheitspolitik als vorsorgende Sozial- und Gesellschaftspolitik betreiben

Mit der Gesundheitspolitik, sagt man, können Wahlen zwar nicht gewonnen, aber verloren werden. Denn Gesundheitspolitik ist undankbar: Wenn alles gut läuft, ist das selbstverständlich; wenn jedoch Probleme bei der medizinischen Versorgung auftreten, ist es gleich ein Skandal. Darin spiegelt sich, dass Gesundheit ein besonderes Gut ist: Wir sind auf unsere Gesundheit existentiell angewiesen, weil Krankheit im wahrsten Sinne des Wortes weh tut und alle anderen Lebensbereiche beeinträchtigt. Dass allen Bürgern eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung zur Verfügung steht, gilt daher zu Recht als Kernverantwortung des Sozialstaats und Ausdruck sozialer Gerechtigkeit. Niemand sollte auf eine notwendige Behandlung verzichten müssen, weil er sie sich nicht leisten kann.

All dies ist aber leichter gesagt als getan. Die Mittel für die medizinische Versorgung sind nicht unbegrenzt. Wir alle sind nicht nur potenzielle Patienten, sondern auch Beitragszahler mit einem legitimen Interesse daran, dass die Kosten im Rahmen bleiben. Zudem beobachten wir in Deutschland und vielen anderen Ländern erhebliche soziale Gesundheitsungleichheiten, die kaum nur damit erklärt werden können, dass eine „Zwei-Klassen-Medizin“ existiert.

Wir haben das falsche Lieblingsthema

Was das System der Gesundheitsversorgung angeht, sind drei Fragen zu beantworten: Wie wird es finanziert? Wie wird es organisiert? Welche Leistungen werden zur Verfügung gestellt? Die erste Frage ist erstaunlicherweise das Lieblingsthema der öffentlichen Diskussion, obwohl sie mit der medizinischen Versorgung am wenigsten zu tun hat, solange diese für jedermann bezahlbar bleibt. Nun wird man – von Randproblemen abgesehen – nicht bestreiten können, dass die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) mit ihrem Prinzip der lohnabhängigen und risikoindifferenten Beitragsbemessung ein sozialverträgliches Finanzierungsmodell verfolgt. Wobei gerade die Verbindung von Versicherung und „solidarischer“ Finanzierung zu mancherlei Unzuträglichkeiten führt, wenn etwa die Krankenkassen vorrangig die gesunden und gut verdienenden Mitglieder gewinnen möchten und versuchen, die Alten und Armen hinauszukomplimentieren. Die Gefahr einer Selektion nach Gesundheitsrisiken muss mittels eines komplizierten Risikostrukturausgleichs gebannt werden. Dies wird immer nur unvollständig gelingen.

Das kritische Augenmerk der Öffentlichkeit richtet sich vornehmlich auf einen anderen Aspekt: die Existenz der privaten Krankenversicherung (PKV), deren Mitglieder sich nicht an der solidarischen Finanzierung beteiligen. Der Dualismus von GKV und PKV ist nur historisch zu erklären. Müssten wir das Versorgungssystem heute von Grund auf neu konzipieren, käme niemand auf die Idee, zehn Prozent der Bevölkerung für „nicht schutzwürdig“ zu erklären und aus dem allgemeinen Versorgungssystem zu entlassen. Es gibt auch kein anderes Land, das so verfährt. Insoweit spricht aus systematischer Sicht viel für eine „Bürgerversicherung“, die alle Einwohner in das öffentliche System integriert und auch an dessen Finanzierung beteiligt.

Allerdings stellt sich die Frage, ob hier wirklich das dringlichste Problem der Gesundheitspolitik liegt. Zunächst mag die Einbeziehung der „Besserverdienenden“ die Finanzierungsgrundlagen der GKV stärken. Dieser Effekt wird aber bald verpuffen, zumal auch viele „kleine“ Beamten und Selbständige privat versichert sind. Aber darüber hinaus führt der Dualismus von GKV und PKV zu mancherlei Fehlsteuerungen: Jeder weiß, dass sich die höchstqualifizierten Ärzte nicht (nur) um die schwersten Fälle, sondern (auch) um Privatversicherte kümmern, deren Behandlung besser vergütet wird; zudem ist nicht einzusehen, warum gesetzlich Versicherte längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Es konnte bisher aber nicht belegt werden, dass diese Umstände zu relevanten Unterschieden in der Versorgungsqualität führen. Insofern ist das Nebeneinander von GKV- und PKV-Vollversicherung ein ordnungspolitisches Ärgernis, aber kaum ein sozialpolitischer Skandal.

Welcher Nutzen zu welchen Kosten?

Schließlich und letztlich ist wohl ausschlaggebend, dass die Einführung der Bürgerversicherung ein sehr mühsames Unterfangen wäre. Denn auch Gesundheitspolitik ist „pfadabhängig“. Sie kann nicht ignorieren, dass eine private Krankenversicherung existiert, die sich nicht von heute auf morgen abwickeln lässt. Die Unternehmen der privaten Versicherungswirtschaft und ihre Kunden würden alle Schritte zu einer Bürgerversicherung beklagen und bis vor das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof ziehen. Die Altersrückstellungen müssten ausgeglichen und die Beihilfe für die Beamten neu geordnet werden. Jahrelange Rechtsstreitigkeiten und komplizierte Übergangsregelungen wären programmiert. Ob die Gesundheitspolitik ihre Energie darauf verschwenden sollte? Vermutlich wäre es sinnvoller, auf eine allmähliche Konvergenz der Systeme zu setzen und einen einheitlichen Versicherungsmarkt anzustreben, auf dem dann private und öffentliche Krankenversicherungen miteinander konkurrieren.

Seit Jahrzehnten ist die Reform des Versorgungssystems eine Dauerbaustelle. Tatsächlich bietet die GKV im internationalen Vergleich eine gute Versorgungsqualität, ist aber auch relativ teuer. Es ist deshalb nachvollziehbar und vernünftig, dass man Fehlsteuerungen, Verschwendungen und die berühmte Über-, Unter- und Fehlversorgung im Sinne einer „Rationalisierung“ des Systems abzubauen versucht. Nur gilt auch hier: Das ist leichter gesagt als getan. Das korporatistische GKV-System ist äußerst komplex und entzieht sich schon deshalb einer einfachen politischen Steuerung, weil nirgendwo sonst die Lobbyinteressen so wirkungsmächtig sind. Zudem haben die eingesetzten Steuerungsinstrumente Risiken und Nebenwirkungen: Wer unter den gesetzlichen Kassen einen Beitragswettbewerb initiiert, der darf sich nicht wundern, wenn sie gegenüber ihren kostenträchtigsten Versicherten unwirsch werden. Und dass Krankenhäuser – die vielfach unter enormem Kostendruck, wenn nicht gar kurz vor der Pleite stehen – auf die Vergütung über Fallpauschalen mit verfrühten Entlassungen und einer „Flucht in die Masse“ bei lohnenden Eingriffen reagieren, ist ebenfalls nicht überraschend. Bei vielen Versicherten und auch den Ärzten verschärft sich der Eindruck, dass die kostenbezogene Rationalisierung in eine heimliche Rationierung umschlägt: Das umfassende Leistungsversprechen der GKV lässt sich nicht mehr in allen Fällen durchhalten. Bei den Patienten schürt dies Misstrauen. Und bei den Ärzten führt es zur Unzufriedenheit mit ihrer beruflichen Situation, in der sie sich einem immer größeren Ökonomisierungsdruck ausgesetzt sehen.

Bei allen Versuchen, die GKV effizienter zu gestalten, wird man angesichts des medizinisch-technischen Fortschritts und der demografischen Entwicklung unserer Gesellschaft auf Dauer nicht umhinkommen, auch auf die Leistungsseite des Systems einen kritischen Blick zu werfen. Dazu hat sich Karl Lauterbach in einem Aufsatz von 1999, also vor seiner politischen Karriere und damit verbundenen Rücksichtnahmen, pointiert geäußert: Es sei davon auszugehen, „dass eine konsequente Rationalisierung eine Rationierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufschieben, jedoch in der Zukunft nicht verhindern kann. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass in Zukunft eine Ausdehnung der bereits bestehenden Rationierung unumgänglich ist.“ Tatsächlich wird die Solidargemeinschaft besonders mit Blick auf die sehr teuren, aber nur begrenzt wirksamen Maßnahmen am Lebensende wohl irgendwann die Frage beantworten müssen, ob sie bereit ist, für eine durchschnittliche Lebensverlängerung von wenigen Monaten bei sehr mäßiger Lebensqualität Kosten im sechsstelligen Bereich zu übernehmen. Eine derartige Abwägung von Nutzen und Kosten hat der Gesetzgeber für den Arzneimittelbereich bereits eingeführt – allerdings nicht zur Begründung von Leistungsausschlüssen, sondern zur Preisfindung. Nun muss der Spitzenverband der Krankenkassen mit den pharmazeutischen Unternehmen einen Preis für neue Arzneimittel vereinbaren, der ihrem Zusatznutzen entspricht. Dies ist ein sinnvolles und international übliches Modell, das die Gesundheitspolitik gegenüber dem Wehklagen der Pharmaindustrie verteidigen sollte. Nur darf man sich keine Illusionen machen: Dieser Mechanismus kann dazu führen, dass mangels hinreichender Vergütung bestimmte Medikamente erst gar nicht auf den deutschen Markt kommen oder entwickelt werden.

Gesundheit als soziale Frage

Derartige Fragen einer Priorisierung oder gar Rationierung sind für die Gesundheitspolitik unbequem, denn mit der Ankündigung von Leistungsbeschränkungen im Gesundheitssystem lassen sich keine Wählerstimmen gewinnen. Auch können derartige Entscheidungen, die fundamentale Fragen der Verteilungsgerechtigkeit berühren, im Kern nicht an die gemeinsame Selbstverwaltung von Krankenkassen und Ärzten delegiert werden; dazu sind deren Gremien zu schwach legitimiert. Das Gemeinwesen wird hier Verfahren und Institutionen entwickeln müssen, die in der Lage sind, in rationaler, transparenter und demokratischer Weise Prioritäten und auch Grenzen des Versorgungssystems festzulegen. Dies ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Aber vermutlich ist niemandem gedient, wenn die Verwaltung der knappen Mittel den gesundheitsökonomischen Experten überlassen wird – die sich auf effiziente Lösungen konzentrieren und für deren Verteilungswirkungen keinen rechten Sinn haben – oder auf Dauer in undurchsichtigen Prozessen im Versorgungsalltag stattfindet. Dies gilt gerade unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit. Denn zum einen werden es in solchen unklaren Verhandlungssituationen typischerweise die unteren sozialen Schichten, die besonders Kranken und andere verwundbare Patientengruppen sein, die ihre Interessen nicht effektiv geltend machen können. Und zum anderen dürfte die Gefahr einer sozialen Spaltung der medizinischen Versorgung umso größer werden, je ungesteuerter und irrationaler die Prioritätensetzung erfolgt, weil der Anreiz für den privaten und sich sozial ausdifferenzierenden Zukauf von Leistungen steigt. Es gibt daher keinen Grund, Rationalisierung und Priorisierung gegeneinander auszuspielen. Wir werden beides tun müssen: die Effizienz des Systems verbessern und über Versorgungsprioritäten und die Grenzen unserer Leistungsansprüche diskutieren.

Dafür zu sorgen, dass die Kosten der medizinischen Versorgung im Rahmen bleiben, ist auch noch aus einem anderen Grund sinnvoll: Jeder Euro, der für die medizinische Versorgung ausgegeben wird, steht für andere Politikbereiche nicht mehr zur Verfügung. Und wir wissen inzwischen, dass maßgebliche Faktoren für die Gesundheit der Bevölkerung in anderen Politikfeldern liegen: Umwelt-, Arbeits- und Wohnbedingungen, Bildungsressourcen und gesellschaftliche Integration dürften für die Gesundheit sehr viel bedeutender sein als die medizinische Versorgung, die – so wichtig sie ist – immer nur greift, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Dies gilt auch für die soziale Verteilung von Gesundheitschancen, die in erschreckender Weise mit dem Einkommen, der beruflichen Position und dem Bildungsstand variiert. So ist in Deutschland die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern im obersten Einkommensfünftel um etwa zehn Jahre höher als von Männern im untersten Einkommensfünftel; vergleicht man die in Gesundheit verbrachten Lebensjahre, sind die Unterschiede noch größer. Dieser soziale Gesundheitsgradient zieht sich durch die gesamte Bevölkerung. Schon deshalb kann er allenfalls marginal mit dem Unterschied von GKV- und PKV-Versorgung zu tun haben.

Gründe und Grenzen der Prävention

Hält man sich diese enormen Gesundheitspotenziale und -ungleichheiten vor Augen, wird klar, dass eine Gesundheitspolitik, die sich nur auf die medizinische Versorgung konzentriert, zu kurz greift und maßgebliche Determinanten vernachlässigt. Dass Gesundheitspolitik auch immer vorsorgende Sozial- und Gesellschaftspolitik sein muss, ist aber noch nicht recht im öffentlichen Bewusstsein angekommen, wie zuletzt die nahezu klaglose Hinnahme des wiederholten Scheiterns eines Präventionsgesetzes belegt hat. Auch hier gilt: Gesundheitsvorsorge und -förderung sind leichter gefordert als getan. Viele Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren und Gesundheitschancen sind verwickelt und schwer zu ergründen. Zudem spielt das gesundheitsbezogene Verhalten der Bürger eine wesentliche Rolle. Hier ist es in einer freiheitlichen Ordnung heikel, Einfluss zu nehmen oder gar mit Verboten zu arbeiten. Die Bürger reagieren allergisch auf hoheitliche Versuche, sie zu einem gesünderen Leben zu bewegen; die Gesundheitserziehungsdiktatur wird schon beschworen.

Dabei sollten besonders die sozialen Gesundheitsungleichheiten ein Anlass sein, darüber nachzudenken, wie frei Lebensstile – etwa Ernährungsgewohnheiten – tatsächlich gewählt werden. Wenn schon Kleinkinder gezielt mit den Werbebotschaften der Lebensmittelindustrie bombardiert werden und sich – besonders in Familien, die hier kein Gegengewicht schaffen – ein Ernährungsverhalten an­gewöhnen, das sie später nicht mehr ohne Weiteres verändern können, kommen Bedenken auf. Natürlich wird man die eigene Verantwortung für seine Lebensführung und deren gesundheitlichen Konsequenzen in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht los. Aber ignoriert werden können die gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen auch nicht, die diese Lebensstile mit enormen sozialen Auswirkungen prägen. Schon mit Blick auf die Zunahme der einschlägigen Zivilisationskrankheiten wird es in Zukunft eine wichtige Aufgabe sein, einen gesellschaftlichen Diskurs über Grund und Grenzen einer Präventionspolitik zu führen. Bisher gibt es dazu starke Meinungen und Emotionen, aber wenige Analysen und Begründungen.

In diesem Zusammenhang wird auch das Thema der sozialen Gerechtigkeit erneut relevant. Es gibt Indizien dafür, dass sehr ungleiche und ausgrenzende Gesellschaften auch für die Gesundheit ihrer Bürger – zumal am unteren sozialen Rand – alles andere als zuträglich sind. Insofern ist eine Gesundheitspolitik im umfassenden Sinne auch eine Chance für die soziale Gerechtigkeit: Wer könnte schon etwas gegen mehr Gleichheit und Inklusion haben, wenn es selbst für die Gesundheit gut ist? Es gibt keine Gesundheitsgerechtigkeit ohne allgemeine soziale Gerechtigkeit.

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