Die verratenen Töchter Willy Brandts

Die Babyboomerinnen, geboren in den fünfziger und sechziger Jahren, haben alles richtig gemacht: ihre Bildungschancen genutzt, Berufe ergriffen, Familien gegründet und Kinder großgezogen. Heute sehen sie millionenfach einem Alter in Armut entgegen. Schuld ist ein defektes Rentensystem

Die Frauen der Babyboomer-Generation waren nicht nur viele, sondern vor allem eins: sehr gut ausgebildet. Als sie in den achtziger Jahren Schulen, Ausbildungsstätten und Hochschulen verließen, hatten sie nicht nur ihre Mütter überholt, sondern auch gegenüber ihren männlichen Altersgenossen enorm aufgeschlossen: 42 Prozent von ihnen legten einen mittleren Schulabschluss ab, ein Viertel schloss die Schule mit dem Abitur ab, 13 Prozent erreichten einen Hochschulabschluss – bei den Männern waren es gerade einmal 5 Prozentpunkte mehr.

Kinder im Lebenslauf? Lieber nicht

Diejenigen, die – wie ich – im Westen der Bundesrepublik aufgewachsen sind, nenne ich deshalb die Töchter Willy Brandts. Denn der Aufstieg durch Bildung war in den siebziger Jahren sozialdemokratisches Programm – und mehr als das: gesellschaftlicher Konsens. Diese Chance haben viele Mädchen und junge Frauen entschlossen ergriffen, verbunden mit der Hoffnung, dass sich die in der Verfassung festgeschriebene Gleichheit der Geschlechter tatsächlich einstellen würde.

Haben sich ihre Hoffnungen erfüllt? Als sie in den achtziger und neunziger Jahren auf den Arbeitsmarkt drängten, war die Konkurrenz groß. Nicht nur, weil sie so viele waren, sondern weil es die Zeit der ersten schweren Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg war. Selbst mit einer guten Ausbildung war es für diese Frauen schwer, beruflich Fuß zu fassen. Ein Anstellungsvertrag auf Lebenszeit war schon damals nicht mehr die Regel. Die meisten ließen sich davon nicht abschrecken. Mit viel Elan und Idealismus starteten sie ins Berufsleben – und mussten sich danach abstrampeln, um beruflich am Ball zu bleiben, besonders wenn sie Kinder hatten. Denn Plätze in Kindergärten oder Ganztagsschulen waren im Westen Mangelware. Manche, die schließlich einen ergattert hatten, zählten die Kinder im Lebenslauf lieber erst gar nicht auf: Sie wollten nicht riskieren, gleich in der ersten Bewerbungsrunde aussortiert zu werden.

Heute sind diese Frauen zwischen Mitte vierzig und fünfzig. Viele von ihnen kämpfen trotz guter Ausbildung und Berufstätigkeit ums finanzielle Überleben. Die Folge: Ernüchterung, bei einigen Wut, bei anderen Resignation – und auch Scham darüber, es nicht geschafft zu haben. Alles nur Einzelfälle? Dieser Eindruck entsteht, weil oft ganz andere Erfahrungen als vermeintlich kollektive Erzählung dieser Generation verhandelt werden. Es sind die der Altersgenossen, die in Zeitungsartikeln und Büchern nicht selten in Siegerpose Auskunft über sich und ihre Generation geben: Auch wer seine Ausbildung hinschmiss, schrieb einer, habe seinen Weg gemacht, es hätte eben nur länger gedauert.

Ernüchterung, wenn der Rentenbescheid kommt

Die Bilanz, die Frauen und Männer in der Lebensmitte für sich ziehen, könnte unterschiedlicher nicht sein. Aber es gibt auch eine Bilanz, die nicht wir selbst ziehen, sondern die Deutsche Rentenversicherung. Seit 2002 sendet sie allen Versicherten Jahr für Jahr einen Rentenbescheid ins Haus. Für die Babyboomerinnen ist dieser Rentenbescheid oft geradezu niederschmetternd. Rund ein Drittel der 6,7 Millionen Frauen wird aus der gesetz­lichen Rentenkasse maximal 600 Euro beziehen – so das Ergebnis einer Studie der Freien Universität Berlin aus dem Jahr 2012, die erste, die sich mit den Rentenerwartungen dieser Frauengeneration befasst hat. Über zwei Millionen Frauen in Ost und West könnte ein Leben in Armut drohen, obwohl sie viele Jahre in ihre Ausbildung investiert haben, überwiegend berufstätig sind, Kinder groß gezogen haben und oft genug noch Angehörige pflegen.

Und die Männer? Die derzeitigen Rentenempfänger bekommen im Schnitt etwa doppelt so viel Rente wie die Frauen. Das Erschreckende: Für die Frauen der Babyboomer-Generation aus den alten Bundesländern wird sich die Situation kaum geändert haben, wenn sie zwischen 2025 und 2035 in Rente gehen. Nach den Berechnungen der Berliner Studie werden ihre Renten noch immer 45 Prozent weniger betragen als die ihrer männlichen Altersgenossen. In den neuen Bundesländern wird die Lücke kleiner sein. Rentnerinnen bekommen dort heute etwa ein Viertel weniger als Rentner, und diese Lücke wird für die folgenden Jahrgänge weiter schrumpfen. Dass der Abstand zwischen den Geschlechtern geringer ist, liegt auch daran, dass die Männer der Babyboomer-Generation in Ostdeutschland im Durchschnitt niedrigere Renten erwarten als ihre Altersgenossen im Westen. Man kann also sagen: Im Osten sind die Risiken der Altersarmut gleichmäßiger zwischen den Geschlechtern verteilt. Insgesamt gesehen ist aber in keinem anderen Land Europas die Rentenlücke zwischen Männern und Frauen so groß wie in Deutschland. Auch in keinem der 34 OECD-Länder, zu denen unter anderem die Türkei und Chile zählen. Wie kann das sein?

Beginnen wir mit dem System der gesetzlichen Rentenversicherung selbst. Eine existenzsichernde Rente erwirbt in Deutschland nur, wer im Laufe seines Lebens ohne Unterbrechung erwerbstätig war: und zwar 45 Jahre lang in Vollzeit, sozialversicherungspflichtig und mindestens zu einem durchschnittlichen Jahreseinkommen – das sind derzeit etwa 30.000 Euro brutto. Umgekehrt bedeutet dies: Alle, die davon abweichen, also Teilzeit berufstätig sind, wegen Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen mehrere Jahre aussetzen oder weniger verdienen als der Durchschnitt – sie alle haben in diesem System keine Chance, eine Rente zu erwirtschaften, von der sie später einmal leben können.

Weil nicht nur die Berufsjahre in die Rentenberechnung einfließen, sondern auch die Höhe des Einkommens, schlägt die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern bei der Rente voll durch. Und die ist bekanntermaßen in Deutschland beträchtlich: Frauen verdienen fast ein Viertel weniger als Männer, unter Akademikern sind es sogar 27 Prozent. Und: An diesem Lohnunterschied hat sich in den vergangenen 20 Jahren nichts wesentlich geändert. Die Gründe sind bekannt: Schuld ist zum einen das weit verbreitete deutsche Teilzeit-Arbeitsmodell mit durchschnittlich weniger als 20 Wochenstunden. Häufig handelt es sich um Stellen mit wenig Aufstiegschancen, im schlimmsten Fall ist es ein 450-Euro-Job, weitgehend ohne soziale Absicherung. Gut die Hälfte der Frauen verdient so ihr Geld, die 30- bis 40-Jährigen genauso wie die Älteren. Der zweite Grund: Deutschlands riesiger Niedriglohnsektor mit Stundenlöhnen unter zehn Euro. Betroffen sind vor allem Frauen: Ihre Quote ist doppelt so hoch wie die der Geringverdiener. Weder in Frankreich noch in Italien ist das der Fall.

Altersarmut für Millionen von Frauen

Unter diesen Rahmenbedingungen kann der freien Journalistin oder der promovierten Biologin eine Rente unter Sozialhilfeniveau ebenso drohen wie der Pflegekraft mit Mindestlohn. Dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern um ein Massenphänomen. Das ist einerseits zwar beruhigend, weil die niedrigen Renten offensichtlich nicht (wie oft suggeriert) eine Folge individueller Fehlentscheidungen sind, sondern sich aus der Fehlkonstruktion unseres Rentensystems ergeben. Andererseits ist es aber ein Skandal, weil Millionen Frauen von Altersarmut bedroht sind. Diese Verhältnisse sind die Folge politischer Weichenstellungen und verpasster Debatten. In den siebziger Jahren forderten Gewerkschaften und Parteien noch eine eigenständige, existenzsichernde Rente für Frauen. In den folgenden Jahrzehnten sollte davon nicht mehr die Rede sein. Es ging, vereinfacht gesagt, nur noch um eine Frage: Wie können wir in Zukunft mit geringeren Einnahmen die Renten einer wachsenden Zahl von Rentnern finanzieren? Sehr einfallsreich war die Politik nicht: De facto wurden jedes Mal Rentenkürzungen beschlossen.

Um eine gerechte Verteilung ging es nie, schon gar nicht um Geschlechtergerechtigkeit. Auch nicht im vergangenen Jahr, als das Rentenpaket beschlossen wurde. Von der Rente mit 63 werden diejenigen profitieren, die aufgrund einer nahezu ununterbrochenen Erwerbsbiografie sowieso eine auskömmliche Rente erwarten – also überwiegend Männer. Im Gegenzug wird Frauen, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, ein zusätzlicher Rentenpunkt gutgeschrieben (knapp 30 Euro). Damit erhalten sie jetzt insgesamt drei Rentenpunkte pro Kind, so wie das für später geborene Kinder schon vorher galt. Ausgerechnet die Rentnerinnen aber, die mit Renten von 750 Euro oder weniger auf Grundsicherung angewiesen sind, gehen leer aus. Ihnen werden die extra Rentenpunkte angerechnet. Die „Mütterrente“ ist also nicht viel mehr als Symbolpolitik – weder hilft sie dabei, Armut im Alter zu vermeiden, noch bedeutet sie eine echte Anerkennung.

Anderswo wird niemand zum Sozialfall

Und was ist mit der „solidarischen Lebensleistungsrente“, die sich die Regierung im Koalitionsvertrag verordnet hat? Auf Eis gelegt. Es findet nicht einmal eine Debatte darüber statt – eine Debatte, die dringend notwendig wäre, sofern diese Rente „Geringverdienern und Menschen zugute kommen soll, die Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben“, wie es das Bundes­arbeitsministerium angekündigt hat.

Wenn wir Altersarmut verhindern wollen, müssen wir am Rentensystem und am Arbeitsmarkt ansetzen. Was man tun kann, das zeigt ein Blick in unsere Nachbarländer: In den Niederlanden, wo Frauen ähnlich häufig – Männer aber viel ­öfter – in Teilzeit beschäftigt sind, führt Teilzeitarbeit nicht automatisch zu Altersarmut. Denn der Staat schießt die fehlenden Beiträge zur Sozialversicherung zu. Zahlreiche europäische Länder folgen ebenfalls einem anderen als dem erwerbszentrierten deutschen Rentenmodell. Dazu gehören neben den Niederlanden auch die Schweiz, die skandina­vischen Länder und Großbritannien. Dort zahlt der Staat eine Grundversorgung im Alter für alle. Das heißt: Jeder Bürger zahlt ein, und jedem steht diese Rente zu. Dadurch werden Einkommensunterschiede, die bei uns in der Rente voll durchschlagen, zum Teil ausgeglichen. Jedenfalls wird niemand im Alter zum Sozialfall, nur weil sein oder ihr Lebenslauf nicht der Logik des Rentensystems entspricht.

„Das Rentensystem wird nicht von heute auf morgen reformiert, wir müssen daher am Arbeitsmarkt ansetzen.“ Dieses Argument höre ich häufig von Sozial- und Rentenpolitikern. Und in der Tat könnte die gut ausgebildete, an Arbeits- und Lebenserfahrung reiche Generation der Babyboomerinnen von solch einer Politik profitieren, schließlich hat sie noch ein bis zwei Jahrzehnte Berufstätigkeit vor sich. Einige wenige Unternehmen in Deutschland machen es vor: Sie bieten Ausbildungsprogramme und reguläre Arbeitsplätze (keine 450-Euro-Jobs) speziell für ältere Bewerber oder für den Wiedereinstieg nach der Familienphase an. Sie haben erkannt, dass es sich auch für sie lohnt, nicht nur die Karrieren junger, sondern auch älterer Frauen zu fördern. Die Politik könnte dafür sorgen, dass Altersbegrenzungen für Ausbildungsstipendien und bei Stellenbesetzungen im öffentlichen Sektor wegfallen. An den Hochschulen könnten viele hochqualifizierte Frauen um die 50 zum Zuge kommen, wenn in den kommenden Jahren so viele Professoren in den Ruhestand gehen wie niemals zuvor.

Was die Frauen dieser Generation erreicht haben, das haben sie den widrigen Umständen zum Trotz geschafft. Jetzt muss die Politik die Weichen dafür stellen, dass sie einem Alter in Würde entgegensehen können. Wer berufstätig war und Kinder erzogen hat, soll im Alter nicht als Bittstellerin zum Sozial­amt gehen müssen. Dies widerspräche dem Selbstverständnis der mündigen Bürgerin. Auch mit Blick auf die jüngere Generation muss der Staat handeln: Erlebt die nachfolgende Frauengeneration, dass die Pionierinnen, die trotz aller Hürden berufstätig waren und Kinder großzogen, am Ende mit kläglichen Renten dastehen, dann wird sie dies kaum ermutigen, selbst etwas zu wagen. Dabei gibt es noch so viel zu wagen – und zu gewinnen.«

Kristina Vaillant hat gemeinsam mit Christina Bylow das Buch „Die verratene Generation: Was wir Frauen in der Lebensmitte zumuten“ geschrieben. Es ist vergangenes Jahr im Pattloch Verlag erschienen, hat 256 Seiten und kostet 16,99 Euro.

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