Die Theorie des Pragmatismus

Wie Meinungsforschung Politik und Wahlkampf verbessern könnte

Bevor Bill Clinton nach den Novemberwahlen zur lame duck mutiert, darf er sich daran freuen, dass er den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf mehr prägt als die beiden richtigen Kandidaten. Denn entweder gewinnt Al Gore mit der Fortsetzung von Clintons Politik, oder George W. Bush mit der Fortsetzung von Clintons Strategie. "Mitfühlender Konservatismus" ist die Formel, mit der die Republikaner den Kampf um die Mitte gewinnen wollen. Und vermutlich auch werden - denn Bush folgt damit exakt dem Konzept, das Clinton vor vier Jahren die Wiederwahl beschert hat: Dem Gegner dessen wichtigste Themen streitig machen, und gleichzeitig die eigenen Stammwähler mit traditionellen Botschaften versorgen. So redet Bush über Ausbildung, Steuersenkungen für geringe Einkommen und staatliche Sozialprogramme. Das hat zwar wenig mit seiner Politik in Texas zu tun, klingt aber nach der modernen Mischung von ehemals linker und rechter Politik, die derzeit als Dritter Weg um die Welt wabert.

Vielleicht hat er auch einfach das neue Buch von Dick Morris, dem bekanntesten der amerikanischen Politik-Berater, zur Hand genommen. Morris war es, der Clinton 1994 die republikanische Agenda abzuräumen riet, die Strategie der "Triangulation" - der gleichweiten Entfernung von beiden Parteien - erfand, und mit TV-Spots und Meinungsforschung die Grundsteine für Clintons 96er Wahltriumph legte. Nun hat er seine Weisheiten auf 250 luftigen Seiten veröffentlicht, zunftgemäß mit dem maximal schreienden Titel: The new Prince - Machiavelli updated for the 21st century.

Das Original kann Morris indes nie gelesen haben, sonst wäre ihm aufgefallen, dass seine Ratschläge das genaue Gegenteil des italienischen Fürstenberaters empfehlen. Während Machiavelli das Motto "besser gefürchtet als beliebt zu sein" für den Schlüssel des politischen Überlebens hielt, ist Morris der Prophet des taktischen Appeasements: Nur wer beliebt ist, kann politisch führen. 46 Kapitel lang beschreibt er Strategien und Tricks, wie man todsicher in ein politisches Amt gewählt wird, es halten und seine Gegner systematisch ausbremsen kann. Charakter und politische Überzeugungen seien das Wichtigste, sagt Morris. Doch sein Buch eignet sich gerade auch für jene Art von Politikern, die weder das eine noch das andere besitzen. Nach Morris sollten sie politische Positionen einfach durch Umfragen ermitteln. Sein prominentester Kunde im Weißen Haus hat bewiesen, dass mit dieser Strategie durchaus vernünftige Politik zu machen ist, vorausgesetzt der innere Kompass bewahrt ein Minimum an Unabhängigkeit gegenüber den Daten. Sieht man über gelegentliche Banalitäten (grandios z.B.: "Kandidaten gewinnen Wahlen und regieren dann am besten, wenn sie attraktive Antworten auf die drängensten Probleme entwickeln.") und einen fast penetranten Mangel an Tiefgang hinweg, lässt sich aus Morris′ Beschreibung der Entwicklung der U.S.-Demokratie einiges über die künftige Wahlkampfführung in Deutschland ableiten.

Die grundlegende Veränderung dort wie hier ist die rapide Vermehrung von Medien und Informationen. Immer mehr TV-Sender, Radiostationen, Zeitungen und Internetseiten beliefern die Wähler mit Fakten, Analysen, Hintergründen. Auch der Raum für öffentliche Debatten hat sich deutlich vergrößert. Talkshows, Anrufersendungen, Chatrooms, Leserbriefspalten und die unzähligen öffentlichen Veranstaltungen - noch nie wurde so viel über Politik geredet wie heute. Nimmt man hinzu, dass die Wahlbeteiligung zurückgeht, ist der durchschnittliche tatsächliche Wähler heute wesentlich informierter und selbstbewusster als früher.

Aus dieser Entwicklung lassen sich drei Erklärungen gewinnen, warum die traditionellen Stammwählerschaften nicht nur aufgrund der Auflösung der alten Milieus abschmelzen: Zum einen nimmt die Bedeutung von Ideologien beständig ab. Wer die Fakten kennt, um die Zusammenhänge weiß und bestehende Lücken vergleichsweise einfach schließen kann, der braucht keine Ideologie zur Überbrückung seines Nichtwissens. Wähler können und wollen für sich selbst denken und reagieren zunehmend allergisch auf allzu platte vorfabrizierte Formeln und das Wiederholen der sattsam bekannten Ideologiebausteine. Zweitens wechseln Wähler heute offenbar eher ihre Einstellung, wenn neue Fakten nicht mehr in das alte Bild passen, als dass sie Neues durch Umdichten, Verfälschen oder Ignorieren in ihr bestehendes Meinungs- und Überzeugungsgebäude einbauen. Die klassischen Erklärungen der sozialpsychologischen Einstellungsforschung scheinen immer weniger zu greifen. Damit lässt sich drittens erklären, warum Wähler heute offensichtlich pragmatische Lösungen dem traditionellen Links-Rechts-Muster vorziehen: Während die alte Lagersicht vor allem Bedenken hervorgebracht hat, legen die Wähler nun an die Politik zunehmend die gleichen Maßstäbe an, die ihnen aus der Dienstleistungswelt vertraut sind: freundliche Bedienung, rasche Lösungen. Das heißt: Politik soll funktionieren, egal welche Ideologie ihr zugrunde liegt. Nun ist der Staat kein Baumarkt, aber soll das Bundesfinanzministerium wirklich schlechter organisiert sein als eine Fliesenabteilung? Den Eindruck könnte man haben, angesichts all der Wehklagen über das Abbröckeln der Stammwählerschaften, über den Bedeutungsverlust von Ideologien und dem starken Wunsch nach ernsthaften Lösungen.

Ein genauer Blick macht indes deutlich, dass Pragmatismus keinesfalls mit theoriefreiem Durchwursteln gleichgesetzt werden kann. Vielmehr nutzt er systematisch die Chancen einer sich verändernden politischen Kultur in den westlichen Demokratien. Sechs Thesen, worum es dabei geht:

1 Pragmatismus löst politische Monopole auf. In Zukunft wird erst recht gelten, was schon jetzt zu erkennen ist: Keine Seite wird ein Thema auf Dauer für sich pachten können. Um effektiv und erfolgreich zu sein, müssen Präsidenten, Premierminister und Bundeskanzler immer häufiger die alten ideologischen Gräben überspringen. Weil sie dabei ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, auch die Probleme der anderen Seite lösen zu können, brechen sie in den Wählerblock konkurrierender Parteien ein und öffnen damit den Wählermarkt. Zum Ausgleich vergreift sich die Opposition ebenfalls an gegnerischen Themen. Dass die Parteien damit ihre alten Konturen verlieren, äußerlich ununterscheidbar werden, ist ein unvermeidlicher Nebeneffekt. Aber mit seinem Wunsch nach Lösungen, die nun mal nicht mit der alten Blockordnung zu haben sind, ist der Wähler selbst der Urheber seines Problems.

2 Meinungsforschung sorgt für mehr direkte Demokratie: "Jeder Tag ist Wahltag" lautet die politische Überlebensregel in Zeiten des Pragmatismus. Schröder, Blair und Clinton haben sie gleichermaßen verinnerlicht. Die Meinungsforschung gibt den Bürgern jene Macht zurück, die die Politik sich über die Jahre angeeignet hatte. Sie sorgt dafür, dass eine direkte Kommunikation zwischen Politik und Wählerbasis entsteht. Längst nicht mehr sind die Gremien und Gliederungen der Partei für den Bundeskanzler noch für die Wahlbürger von großer Bedeutung. Der Kanzler spricht zum Volk direkt via Bildschirm, und das Volk meldet seine Meinung zurück in den Umfragen. So wird der Mittelbau der politischen Repräsentanten und Funktionäre heute nahezu vollständig überbrückt und dient nahezu ausschließlich organisatorischen oder Legitimationszwecken. Denn schwerlich würden SPD- Präsidium oder CDU-Vorstand eine Position, die in Umfragen deutlich über 50 Prozent Zustimmung erhält, ablehnen. Auf diese Weise regieren die Wähler nicht nur die Agenda des Kanzlers, sondern sorgen auch für eine Disziplinierung seines Parteiapparates. Und obendrein befreit diese neue Form von direkter Demokratie den pragmatischen Parteivorsitzenden davon, dem Parteiestablishment gefallen zu müssen. Ihm reichen die Wähler.

3 Pragmatismus ist nicht Populismus: Leider ist die kontinuierliche Politikbegleitung durch Meinungsforschung in Deutschland völlig unterentwickelt. Zwar werden die veröffentlichten Umfragen immer feiner und spezifischer, aber von einer systematischen Nutzung dieses Instruments sind Parteien und Regierung noch weit entfernt. Das mag an dem verbreiteten Irrglauben liegen, dass die Nutzung von Umfragen zum Gewinnen oder Absichern von Mehrheiten mit dem Verlust von politischen Prinzipien einher geht. Dabei ist genau das Gegenteil richtig: Nur wer seine Politik in einer überzeugenden Weise zu erklären weiß, wird ausreichend Unterstützung finden und kann aus Prinzipien Gesetze werden lassen. Nicht was, sondern wie sag ich es dem Volk lautet der Arbeitsauftrag an die Umfragezunft.


Meinungsforschung soll das Formulieren von politischen Zielen nicht ersetzen, aber sie kann von essentieller Bedeutung sein, wenn es gilt, die gesetzten Prioritäten zu überprüfen und die politische Kommunikation am Verständnis der Bürger auszurichten.

4 Pragmatismus beruht auf politischer Kommunikation: Heute sind es Meinungsforschung und Kommunikation, die starke politische Führung erst möglich machen. Es mag manchem Fachpolitiker vielleicht nicht gefallen, aber in Zukunft wird der Schlüssel zum Erfolg eines Projektes eher bei der politischen Kommunikation, der Herstellung einer positiven öffentlichen Meinung als in der Substanz des Projektes selbst liegen. Dies gilt vor allem dann, wenn die Materie sperrig und schwer zu vermitteln ist. Wer es versäumt hat, zunächst ein zustimmendes Meinungsklima für sein Programm zu erzeugen, braucht die Verhandlungen mit all jenen, die dem Projekt zustimmen müssen, gar nicht erst zu beginnen. Egal ob Opposition, Bundesländer und Verbände, sie werden alles zerrupfen und sich dabei auf das Urteil der Wähler berufen können. Wenn einem Reformvorhaben die Unterstützung fehlt, muss man es ändern, um es zu retten. "Ändern statt enden" lautet die Formel, und richtig eingesetzt können Umfragen helfen, bereits sehr früh die richtige Strategie zu finden, wie das Wahlvolk auch für unpopuläre Maßnahmen mobilisiert werden kann. Nur wenn die Kommunikation exakt die Wünsche und Sichtweisen der Wählermehrheit bedient, werden die Blockierer unter dem Druck der Wählermehrheit eher früher als später aufgeben. Auf diese Weise hätte beispielsweise die Rentendebatte schon längst beendet werden können.

5 Die Unentschiedenen sind irrelevant: Während in deutschen Wahlkämpfen vor allem die wachsende Spezies der Wechselwähler und Unentschlossenen hofiert wird, kommt Morris mit einem interessanten Gegenvorschlag: einfach ignorieren. Unentschlossene interessieren sich, so seine Überlegung, in der Regel überhaupt nicht für die Wahl und lassen sich daher mit den Kampagnen kaum erreichen. Im übrigen zeigten die Umfragen, dass Verluste der einen Seite meist Gewinne auf der anderen zur Ursache haben, der Block der Unentschlossenen aber nahezu unverändert bleibt. Anstelle also die unentschlossene Mitte anzusprechen, können Zeit und Geld besser darauf verwendet werden, in das gegnerische Lager einzubrechen und deren Wähler herüberzuziehen: "That′s where the action is." Die Idee ist vernünftig, baut sie doch auf dem sogenannten bandwagon-Effekt auf, nach dem gerade die
Wechselwähler im Zweifel lieber den vermutlichen Gewinner wählen werden. Nur wer die Umfragen führt, kann die Mitte gewinnen, lautet die Regel, und die SPD-Kampa und Gerhard Schröder haben bei dem letzten Bundestagswahlkampf bewiesen, wie gut sie funktioniert.

6 Die Botschaft bleibt das Wichtigste: "Message over money, issues over image, substance over scandal, strategy over spin", das sind die Lehren, die Morris aus Clintons Überleben der Lewinsky-Affäre zieht. Bei der richtigen politischen Botschaft seien Charakter- und Imagefragen weniger wichtig. Die Anti-Clinton-Kampagne der Republikaner ist deshalb gegen die Wand gefahren, weil Wahlen mit Verben, die Taten ankündigen, aber nicht mit Adjektiven, die Kandidaten beschreiben, gewonnen werden. Das dürfte auch in Deutschland gelten, weshalb die CDU trotz sehr guter Imagewerte für ihre Parteivorsitzende ohne wirkliches Programm bei richtigen Wahlen kaum Chancen haben wird. Nett und neu allein reichen eben nicht. Allzu viel Programm muss es indes auch nicht sein. Erfolgreiche Kampagnen bestehen aus zwei Botschaften, die auf verschiedenen Ebenen laufen. Eine Sachfrage, über die gestritten werden kann, um die Unterschiede zwischen den Parteien herauszustellen. Und ein emotionales Element, das die Kampagne an das Lebensgefühl der Mehrheit bindet. 1998 waren es Arbeitslosigkeit und der Wunsch nach Aufbruch und Dynamik, 1994 die Frage der Führungsfähigkeit und PDS-Abgrenzung, 1990 wirtschaftliche Einheitsbewältigung und emotionaler Einheitswille.

Die Kunst des Kampagnenplanens besteht darin, eben diese beiden Themen zu identifizieren und alle anderen auf das Level von Begleitmusik zurückzufahren. Wahlprogramme werden damit im Grunde überflüssig. Ohnehin werden sie von der breiten Masse nicht gelesen, sehr zum Frust der Parteigliederungen und Fachreferenten, die stets viel Arbeit investieren müssen. Morris würde vermutlich vorschlagen, die Programmelemente ganz einfach per Meinungsforschung zu bestimmen. Wem das zu weit geht, der wird freudig zur Kenntnis nehmen, dass Morris um die Begrenztheit seiner Zunft weiß: Das größte Problem mit politischen Beratern sei, dass sie sich nur für Taktik, Werbung und Strategien, nicht aber für die Substanz der Politik interessieren. So trägt das vielleicht wichtigste Kapitel den schönen Titel: "Wie man sich vor seinen Beratern schützt."

Dick Morris: The New Prince - Machiavelli updated for the 21th century, Renaissance Books, Los Angeles 1999, $ 15.95. Gibt´s bei amazon.de.

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