Die SPD und die Erneuerung der sozialen Demokratie

Die SPD ist stolz auf ihre Geschichte. Doch sie kann in Zukunft nur dann Motor des Fortschritts sein, wenn es ihr gelingt, ein konstruktives Verhältnis zu den sozialen Bewegungen unserer Zeit zu finden

In diesem Jahr feiert die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ihr 150-jähriges Jubiläum als eine Partei, die sich im 19. und 20. Jahrhundert nachhaltig für eine soziale Demokratie in Deutschland, Europa und der weiteren Welt bemüht hat. Wenn Historiker wie Eric Hobsbawm von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als einem golden Zeitalter der Sozialdemokratie sprechen, zeigt dies deutlich, dass wichtige Ideen dieser sozialen Demokratie unter den Bedingungen des Kalten Kriegs in den kapitalistischen Systemen des Westens durchgesetzt werden konnten.

Dabei erklären sich die Erfolge der SPD, die sie in diesem Jahr durchaus feiern sollte, aus historischer Perspektive nicht zuletzt daher, dass die Sozialdemokratie über weite Strecken ihrer Geschichte immer mehr war als „nur“ eine politische Partei. Sie war wichtiger Teil einer progressiven sozialen Bewegung und immer dann am erfolgreichsten, wenn sie zugleich Motor und Zentrum dieser Bewegung war.

Ohne progressive Allianzen geht es nicht

Daraus ergeben sich wichtige historische Lehren für die gegenwärtige SPD. Wir erleben zurzeit einen Aufschwung sozialer Bewegungen, wie etwa Attac und Occupy, und auch die in die Jahre gekommenen Neuen sozialen Bewegungen wie die Umwelt-, die Frauen- und die Friedensbewegung bleiben wichtige Elemente einer progressiven politischen Allianz in Deutschland. Die SPD wird in Zukunft nur dann Motor des sozialen und demokratischen Fortschritts sein, wenn es ihr gelingt, ein produktives und konstruktives Verhältnis zu diesen sozialen Bewegungen zu finden.

Hierfür lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Denn die sozialdemokratische Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts beruhte auf drei organisatorischen Säulen: der politischen Partei, den Gewerkschaften und den Genossenschaften. Allerdings waren die Gewerkschaften und die Genossenschaften nicht exklusiv sozialdemokratisch. Vielmehr spalteten sie sich in liberale, christliche und polnische Gewerkschaften oder Genossenschaften, was häufig zu Unstimmigkeiten führte. Das erleichterte ihren Gegnern, sie zu besiegen. Da sich dieses Jahr auch die Zerschlagung der Gewerkschaften zum 80. Mal jährt, lohnt es sich, daran zu erinnern.

Anders verhielt es sich mit den sozialen Bewegungen der Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung, bei denen es mit der SPD große Überschneidungen gab. So kämpfte die Partei bis in den Juli 1914 an der Seite anderer sozialdemokratischer Parteien Europas für den Frieden. In der gleichen Zeit setzte die sozialdemokratische Frauenbewegung um Clara Zetkin und Rosa Luxemburg das Thema der Gleichbehandlung der Frau auf die politische Tagesordnung und ebnete den Weg für das Frauenwahlrecht im Jahr 1919. Auch in der Umweltpolitik entwickelte die Sozialdemokratie eigene Positionen, die es Arbeitern erlauben würden, an der Schönheit der Natur zu partizipieren. So setzte sie sich nachhaltig dafür ein, dass kommunale Parks geschaffen wurden und Wanderwege auch über privaten Grundbesitz geführt werden konnten.

Gleichwohl blieb das Verhältnis zu den sozialen Bewegungen problematisch: Die SPD lehnte den bürgerlichen Pazifismus weitgehend ab, tat sich schwer, in Bündnisse mit bürgerlichen Frauenorganisationen zu treten und beäugte die oft heimat- und rechtsorientierte Umwelt- und Naturbewegung mit Misstrauen. Dabei waren die bürgerlich geprägten sozialen Bewegungen des Kaiserreichs nur allzu bereit, die Sozialdemokraten auszugrenzen, was den tiefen Graben zwischen bürgerlicher Gesellschaft und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung in Deutschland verdeutlicht.

Durchsetzungsfähig nur im Bündnis

Dennoch: In dem bescheidenen Maße, in dem die Sozialdemokratie in den Kommunen und Ländern des Kaiserreichs bereits politischen Einfluss nehmen konnte, war sie immer dann am erfolgreichsten, wenn sie effektive Bündnisse mit anderen fortschrittlichen sozialen Bewegungen einging.

Dieser Trend verstärkte sich in der Weimarer Republik, als die SPD zu der Staatspartei par excellence aufstieg und erstmals eine wichtige Stütze der sozialen Demokratie in Deutschland wurde. Sicherlich machte die Spaltung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in einen sozialdemokratischen und einen kommunistischen Flügel die Zusammenarbeit mit einem Teil der progressiven Bewegungen über die zentralen Fragen der Demokratie unmöglich. Dennoch zeigte sich in den Bündnissen mit anderen progressiven sozialen Kräften, wie etwa bei der Ausgestaltung der Sozial- und Bildungssysteme der Weimarer Republik, dass die SPD durchsetzungsfähig war.

Die aus der Zeit des Kaiserreichs nachwirkende Versäulung der Gesellschaft machte progressive Allianzen oft schwierig und manchmal unmöglich, was ein effektiveres Bündnis gegen ein faschistisches Deutschland maßgeblich verhinderte. Dennoch gilt auch für die Zeit der Weimarer Republik: Nur dort, wo die SPD als Partei nicht auf sich allein gestellt war, sondern im Zentrum breiter sozialer Bewegungen kämpfte, konnte sie politische Erfolge verbuchen.

In der dunkelsten Zeit Deutschlands repräsentierten Sozialdemokraten ein anderes, soziales und demokratisches Land. Die Partei setzte sich im Exil an die Spitze derjenigen sozialen und demokratischen Kräfte, die für einen Neuanfang nach dem gewaltsamen Ende Hitler-Deutschlands arbeiteten. Gerade die Exilzeit in Ländern wie Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Skandinavien verstärkte die demokratische Ausrichtung der Sozialdemokraten an westlichen Gesellschaftsmodellen nachhaltig. Das führte zu einem antitotalitären Konsens, der auch eine Reihe von fortschrittlichen Bündnissen innerhalb der sozialen Bewegungen erleichterte.

Während nach dem Zweiten Weltkrieg in der sowjetischen Besatzungszone die Partei dem Zwangsvereinigungsdiktat der Kommunisten zum Opfer fiel und eine Zeit der Verfolgung für diejenigen Sozialdemokraten begann, die sich dort weiterhin vom undemokratischen Kommunismus abgrenzten, musste die Sozialdemokratie in der frühen Bundesrepublik die bittere Erfahrung machen, auf nationalem Parkett lange Jahre die Oppositionsbänke zu drücken. Dennoch konnten Sozialdemokraten in den Ländern und Kommunen, wiederum oftmals in progressive Bündnisse eingebunden, wichtige Ziele in Richtung sozialer Demokratie umsetzen. Man wird auch nicht umhin kommen anzuerkennen, dass die europäische Christdemokratie ebenfalls sozialdemokratische Ideen und Ideale adaptierte und verwirklichte.

Für die gesamte Zeit der Bundesrepublik ist wiederum das Verhältnis der SPD zu sozialen Bewegungen wichtig. Besonders die engen Verbindungen zu den sich jetzt durchsetzenden Einheitsgewerkschaften ließen die Partei immer wieder ins Zentrum der fortschrittlichen politischen Kräfte rücken: Etwa wenn es um die Durchsetzung der Mitbestimmung von Arbeitnehmern, um die Gleichstellung der Frauen in der Gesellschaft, um die Durchsetzung einer dem Frieden dienenden Entspannungspolitik oder auch die Wiederherstellung des blauen Himmels über dem Ruhrgebiet ging. Überall dort, wo die sozialen und demokratischen Aktivitäten der Sozialdemokratie Auswirkungen zeigten, hatte sie sich mit anderen progressiven gesellschaftlichen Kräften zusammengeschlossen.

Die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen blieb dabei mitunter problematisch – man denke nur an die Auseinandersetzungen zwischen einer eher gewerkschaftlich organisierten Sozialdemokratie und den Umweltbewegungen der 1980er Jahre. Hier mussten in einem langwierigen, komplexen und bislang nur unzureichend erforschten Prozess Positionen überdacht und Kompromisse innerhalb des progressiven Lagers ausgehandelt werden. Doch als Fazit bleibt: Nur als soziale Bewegung und im Bündnis mit anderen Bewegungen erreichte die SPD politische Ziele.

Berührungsängste kann sich die SPD nicht leisten

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus für die zeitgenössische SPD? Für den zukünftigen Erfolg der Partei ist es zentral, dass sie sich in den Mittelpunkt progressiver Allianzen stellt und sich somit als Teil einer breiteren sozialen Bewegung versteht. Es gilt, das Gespräch mit denjenigen politischen Kräften zu suchen, die mit und neben der SPD die Zukunft der sozialen Demokratie in Deutschland gestalten wollen.

Dabei sollte die Partei möglichst wenige Berührungsängste haben, sondern sich bemühen, bürgerschaftliches und ziviles Engagement von Gruppen auch dann ernst zu nehmen, wenn sie zunächst einmal nichts mit der organisierten Sozialdemokratie zu tun haben. Es geht um die Wiederbelebung einer progressiven Allianz, die auch in der Vergangenheit immer wieder versucht hat, Deutschland ein Stück sozialer und demokratischer zu machen und die dabei durchaus auf erhebliche Erfolge zurückblicken kann – gerade beim Aufbau eines funktionierenden Sozialstaats oder in der Bildungs- und Gleichstellungspolitik.

Zu einer solch offenen Politik sozialer Bewegungsbildung gehört zurzeit auch und gerade das Gespräch mit kapitalismuskritischen Gruppierungen wie Attac und Occupy. Deren oftmals diffuses Protestpotential gegen einen hemmungslosen, global agierenden Finanzkapitalismus, der viele Errungenschaften der sozialen Demokratie in Deutschland aktuell bedroht, sollte die Sozialdemokratie zumindest dazu veranlassen, erneut Fragen nach einer stärkeren Kontrolle der Märkte zu diskutieren.

Kapitalismuskritik gehörte über weite Strecken des 19. und 20. Jahrhunderts zum Grundselbstverständnis und zu den Stärken sozialdemokratischen Denkens. Auch wenn die Sozialdemokratie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu dem Schluss kam, dass ihr Ziel nicht mehr die Überwindung des Kapitalismus, sondern die Schaffung eines Kapitalismus mit menschlichem Antlitz sein würde, lag doch die Zähmung der negativen Energien kapitalistischer Wirtschaftsformen im Zentrum einer „Politik gegen Märkte“, wie Gøsta Esping-Andersen das in einer wegweisenden Publikation einmal genannt hat.

Vielleicht führt gerade das Bündnis mit anderen sozialen Bewegungen die Sozialdemokratie wieder zurück zu der Erkenntnis, dass es absolut notwendig bleibt, im Kampf für soziale Demokratie den Kapitalismus zu organisieren und zu kontrollieren. Unter den Bedingungen der Globalisierung ist das ohne Frage extrem schwierig. Aber die Notwendigkeit, über das Wie einer Kontrolle nachzudenken, wird damit nur umso dringlicher. Dabei kann das gemeinsame Nachdenken einer progressiven sozialen Bewegung hier auch Synergien und Formen eines produktiven Querdenkens freisetzen, die uns auf dem Weg einer erneuten Anbindung des Kapitalismus an die Leitwerte einer sozialen Demokratie helfen können.

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanzkrise scheint vor allem eines klar: Der sozialdemokratische Weg einer Kapitulation vor dem Neoliberalismus, wie er besonders von britischen Sozialdemokraten um Tony Blair in den 1990er Jahren beschritten wurde, hat in die Sackgasse geführt. Ob und wie die Sozialdemokratie aus dieser Sackgasse wieder herauskommt, wird auch davon abhängen, wie effektiv sie Bündnisse innerhalb einer breiten sozialen Bewegung für eine soziale Demokratie in Deutschland und Europa knüpfen kann.

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