Die SPD kann sich ihren Platz nicht aussuchen

Wenn sich die so genannten kleinen Leute in der sozialdemokratischen Politik nicht wiederfinden, dann entsteht eine Leerstelle zulasten der SPD und zulasten der Demokratie. Eine vernünftige Ordnung der globalisierten Welt, in der mehr ganz normale Leute als heute mitentscheiden - das ist die unerfüllte Mission der sozialdemokratischen Parteien

Haben die sozialdemokratischen Parteien ihre besten Zeiten hinter sich? Und mit ihnen die Demokratien des europäischen Sozialstaats, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts einen Grad der Volkspartizipation erreicht hatten, der aus der Sicht unserer politikverdrossenen Ära fast wie der unerreichbare Idealzustand von Demokratie aussieht? Die Europawahlen und die Bundestagswahl des Jahres 2009: ein Paukenschlag. Das große Deutungsmuster, das die zurückliegenden Globalisierungsjahrzehnte dominiert hat – nur Blendwerk. Die von den Finanz- und Wirtschaftseliten jahrelang abschätzig betrachteten Politiker durften sich zwar als Retter in der Not betätigen, nachdem die grenzenlose Freiheit der Finanzmärkte ins Desaster geführt hatte. Doch weder der Wahlkampf noch die neue Bundesregierung reflektieren Konsequenzen aus einem Debakel, das nicht von bösen Mächten gemacht, sondern mitten in den Demokratien entstanden ist, weil ihre Politiker den Vorrang demokratisch legitimierter Politik gegenüber den globalisierten Märkten nicht behaupten konnten oder wollten.

Zu Beginn des neuen Jahrzehnts ist der Widerschein des neoliberalen Feuers überall zu sehen. Schwarz-Gelb streitet über Steuersenkungen, die in offenkundigem Kontrast zum Zustand der öffentlichen Haushalte stehen. In Berlin fährt die S-Bahn immer noch nicht wie gewohnt, weil die Bürgerinteressen an einem funktionierenden Nahverkehr jahrelang hinter den kurzfristigen Profiterwartungen der Deutschen Bahn zurückstehen mussten. Von der internationalen Regulierung der Finanzwirtschaft sind wir weit entfernt. Und immer noch fehlt das Kind am Straßenrand, das laut ruft: Aber er ist doch nackt, der Kaiser mit den glänzenden neuen Kleidern!

Eigentlich eine schöne Rolle für die SPD. Das neue Zeitalter ähnelt dem, aus dem sie ursprünglich kommt: Die Globalisierung hat den Wirtschaftseliten ein Erpressungspotenzial in die Hand gegeben, mit dem Privilegien zurückerobert werden konnten, die ihnen von der Arbeiterbewegung und der christlichen Soziallehre, von demokratischer Politik über Jahrzehnte abgetrotzt worden sind. Überwunden geglaubte Ungleichheiten entstehen neu, auch in den reichen Industrieländern gibt es wieder die Benachteiligten und Unterprivilegierten ohne politische Repräsentanz. Die Luft schwirrt von sozialen und demokratischen Fragen – und die SPD landet mit 23 Prozent in der Opposition.

Das unschuldige Kind ist sie eben nicht mehr. Dass nicht nur Bush und Thatcher, sondern auch Blair und Schröder dem Deregulierungsparadigma gefolgt sind, ist nur ein, aber nicht der wichtigste Grund dafür. Was in den sieben rot-grünen Jahren im Lichte der Finanzkrise falsch, was richtig war, lässt sich ja so leicht nicht sagen. Eindeutig ist allerdings: Gerade unter den potenziellen Anhängern und Wählern der SPD wird als Ursache der neuen Ungleichheit identifiziert, was als Mittel zu ihrer Bekämpfung gedacht und auch tauglich war. Die Agenda-Reformen sollten den Sozialstaat wetterfest machen gegen den Druck von Globalisierung und Demografie, doch „Hartz IV“ gilt heute als die Chiffre für die neue soziale Ungerechtigkeit. Eine derartige Kluft zwischen politischen Absichten  und der Wahrnehmung bei den Adressaten deutet auf eine massive Beziehungsstörung hin. Tatsächlich konnte der sozialdemokratische Kanzler schon zu Beginn der Reformen nicht auf Vertrauensvorschuss bauen. Eher darf man von vorauseilendem Misstrauen in die Absichten Gerhard Schröders und seiner Minister sprechen.

Welcher Sozialdemokrat kennt noch die „kleinen Leute“?


Warum? Wer auf die sozialdemokratischen Parteien in der neoliberalen Ära zurückblickt, kann sich zwei Erkenntnissen nicht verschließen. Die erste lautet: Mit blankem Pragmatismus kommt kein regierender Sozialdemokrat durch, wenn die Verhältnisse die ideologischen Fahnen der ökonomisch Mächtigen flattern lassen. Und pure Ideologie war doch das Paradigma von der Freiheit der Märkte, die eine unsichtbare Hand schon irgendwie regulieren würde, während tatsächlich viele sehr konkrete Hände mit den Risiken auch ihre Verantwortung in faule Kreditpapiere verschoben haben. Eine sozialdemokratische Partei muss über Machtbegrenzungen und Staat, Kapitalismus und Wirtschaft, Freiheit, Gleichheit, Solidarität sprechen können. Die zweite Lehre lautet: Die SPD kann sich ihren Platz in der Gesellschaft nicht willkürlich aussuchen. Links, Mitte, Neue Mitte – wenn die so genannten kleinen Leute sich mit ihren Interessen nicht wiederfinden in sozialdemokratischer Politik, dann entsteht kein Bogen, sondern eine Leerstelle. Zulasten der SPD und zulasten der Demokratie.

Welcher Sozialdemokrat kennt sie noch, die „kleinen Leute“? Der alte SPD-Funktionärssprech wendet sich an fiktive Arbeitermilieus, die es gar nicht mehr gibt, während sich die real existierenden Menschen in schwierigen Lebensverhältnissen aller Art im neuen Politsprech der Akademiker-SPD nicht wiederfinden.

Wenn die SPD an ihre Zukunft glauben will, muss sie das Ideal der Demokratie ernst nehmen: eine gesellschaftliche Ordnung, in der die ganz normalen Menschen mitreden und mitbestimmen, wenn es um die öffentlichen Angelegenheiten geht. Nicht zufällig ist kein anderer Begriff in den letzten Jahren so unter die Räder des öffentlichen Diskurses geraten wie der von der Gleichheit. Aber ohne staatsbürgerliche Gleichheit gibt es keine Demokratie! Die Finanzkrise ist möglich geworden, weil sie die westlichen Demokratien an einem schwachen Punkt getroffen hat. Die Bürger, deren Kleinmut die öffentlichen Eliten gar nicht genug beklagen konnten, wussten lange vor dem Lehman-Crash am 15. September 2008, dass die Entgrenzungen der Finanzwelt nicht gut gehen konnten. Denn sie hatten längst erlebt, dass die Globalisierung Chancen, Risiken und Einfluss höchst ungleich verteilt – und dass die politischen Führungen dagegen kein Rezept hatten oder gar nicht haben wollten.

Wir haben das Jahr 1989 gefeiert, weil es ein Freiheitsjahr war. Das Ende der Geschichte war es nicht. Den alten Systemkonflikt hat die Marktwirtschaft gewonnen – aber die Demokratie hat doch keineswegs gesiegt. Kann der demokratische Kapitalismus die neue Konkurrenz gewinnen gegen autoritäre oder diktatorische Marktwirtschaften, wenn er nicht weiß, wie viel ihm die Demokratie wert sein muss? Solange Angela Merkel und Josef Ackermann versuchen, die Sache hinter den verschlossenen Türen des Kanzleramtes auszumachen, bleibt die Krise wiederholbar. Eine vernünftige Ordnung der globalisierten Welt, in der mehr ganz normale Menschen als heute mitentscheiden, das ist die unerfüllte Mission der sozialdemokratischen Parteien. Sie zu verwirklichen ist, zugegeben, viel schwieriger als der Weg vom Kaiserreich in die Bundesrepublik. «

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