Die Situation ist da

Momentan suchen hunderttausende Geflüchtete in Deutschland und Europa eine neue Heimat. Die Situation ist da - und wir werden sie nur mit Realismus und Zuversicht meistern

Progressive in Deutschland haben jeden Grund, Angela Merkel viel Glück und gutes Gelingen zu wünschen. Die Kanzlerin sagt fortschrittliche Sätze wie: „Nichts muss so bleiben wie es ist – Veränderung zum Guten ist möglich!“ Und auch: „Unser Umgang mit der aktuellen Krise wird unseren Kontinent auf lange Sicht prägen.“ Beide Aussagen sind richtig. Und gerade für die normativ glasklare Haltung, die in ihnen zum Ausdruck kommt, wird Merkel aus ihrem eigenen politischen Lager mit zunehmender Vehemenz angegriffen, ja mit allen Mitteln bekämpft.

Im Gedärm der Unionsparteien rumort es. Merkels Gegner werfen der Bundeskanzlerin vor, sie verbreite „Wohlfühlsprech“ und betrachte die Verhältnisse naiv durch die „rosarote Brille“. Politische „Freunde“ wie Horst Seehofer und Ungarns rechtsradikaler Machthaber Viktor Orbán arbeiten unverhohlen auf Merkels Scheitern hin. Die FAZ setzt Zuversicht per se mit Unvernunft gleich. Und Merkels eigener Innenminister wirft seiner Chefin mit beispielloser Illoyalität vor, sie persönlich habe die Lage mit ihrer Entscheidung für die Aufnahme von Vertriebenen und Kriegsopfern „außer Kontrolle“ geraten lassen.

Wer so vom eigenen Milieu sabotiert wird, braucht fürwahr keine Gegner mehr. Man fragt sich bloß, was erbärmlicher ist: Die Niedertracht, mit der Merkels Widersacher zu Werke gehen? Ihre jammerlappige Kleingläubigkeit? Oder ihre abgrundtiefe politische Dummheit? Na klar, der heimtückische Orbán ist ein Fall für sich. Der Ungar verfolgt seine Strategie der konservativen Revolution mit gesamteuropäischem Anspruch. Aber was um Himmels Willen treibt Merkels einheimische Gegenspieler aus CDU und CSU oder auch bei der FAZ? Was eigentlich wäre für sie gewonnen, wenn am Ende Merkels zuversichtliches Tapet „Wir schaffen das!“ zertrampelt und widerlegt im Staub läge? Abhanden gekommen wäre diesen Meistertaktikern dann nicht nur ihre einzige international vorzeigbare Anführerin. Triumphal nachgewiesen wäre dann auch, dass Deutschland und Europa an der Flüchtlingskrise eben nicht wachsen, sondern nur scheitern konnten. Quod erat demonstrandum. Es müssen schon sehr spezielle Patrioten sein, die aktiv auf Untergang setzen, nur um hinterher behaupten zu können, man habe den großen Kladderadatsch ja heraufziehen sehen.

Progressive haben Angela Merkel in den vergangenen Jahren aus vielen (und überwiegend guten) Gründen kritisiert. Jetzt hat die Regierungschefin jede nur mögliche Unterstützung verdient. Auf dem Spiel steht unendlich viel mehr als eine Kanzlerschaft. Denn machen wir uns überhaupt nichts vor: Gewinnt in Deutschland und Europa die reaktionäre Achse des Wir-schaffen-es-nicht-weil-uns-die-ganze-Richtung-nicht-passt die Oberhand, dann werden diese Kräfte in der Tat „unseren Kontinent auf lange Sicht prägen“. Dann nämlich wird von der Offenheit unserer Gesellschaften nichts mehr übrig bleiben. In Ungarn zeichnet sich bereits ab, welcher zivilisatorische Absturz vor uns liegen kann.

Dies zu erkennen heißt nicht, die Dramatik der Flüchtlingskrise zu unterschätzen. Es heißt nur, dass wir unsere freiheitliche Heimat Deutschland und Europa umso leidenschaftlicher verteidigen und unter neuen Bedingungen neu konstituieren müssen. Die Situation ist da.

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