Die schottische Frage und Europas Zukunft

Am 18. September stimmt Schottland darüber ab, ob es ein unabhängiger Staat werden will. Separatisten in Katalonien und im Baskenland, in Flandern und Norditalien verfolgen die britischen Entwicklungen sehr genau: Sie könnten über den Verlauf regionaler Souveränitätsbestrebungen in Europa entscheiden

Die Frage lautet scheinbar einfach: „Sollte Schottland ein unabhängiges Land sein? Ja? – Nein?“ Dies wurde im Edinburgh-Agreement zwischen der schottischen und der britischen Regierung so vereinbart. Mit diesem Abkommen räumte Westminster dem schottischen Parlament das Recht ein, ein Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten. Es hatte in der Zivilgesellschaft eine gewisse Unterstützung dafür gegeben, auf dem Stimmzettel noch eine dritte Option zu benennen. Diese hätte in der weiteren Delegierung von Kompetenzen an Edinburgh bestanden („Devolution-max“). Die schottische Regierung stand dieser Möglichkeit offen gegenüber, die Regierung in London hingegen lehnte sie ab.

»Yes Scotland« oder »Better together«?

Die beiden konkurrierenden Seiten stehen sich als Sammelbewegungen gegenüber. „Yes Scotland“ wird von der Scottish National Party (SNP) dominiert, umfasst aber auch die schottischen Grünen, eine linke Partei sowie verschiedene Akteure aus der Zivilgesellschaft. Unter dem Dach von „Better Together“ versammeln sich die „Unionisten“, die sich aus den Konservativen, der Labour Party und der Liberaldemokratischen Partei sowie ebenfalls aus zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammensetzen. Die britische Regierung, eine Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten, lehnt die schottische Unabhängigkeit ab. Ihr Gegenspieler aufseiten der Unabhängigkeitsbefürworter ist die schottische SNP-Regierung.

Jedoch: Die konkrete Bedeutung der Referendumsfrage bleibt unklar. Die Vorschläge der schottischen Regierung sehen die Aufrechterhaltung einer Währungsunion mit Großbritannien vor. Wie die Erfahrungen der Eurozone deutlich gemacht haben, gehören zu einer gemeinsamen Währung aber nicht nur eine gemeinsame Geldpolitik, sondern auch die Koordination von Finanzpolitik, Schulden und Defiziten sowie ein institutioneller Apparat, um all dies zu bewerkstelligen. Die schottische Regierung hat ferner die Absicht, gemeinsame Institutionen wie Wissenschaftsräte und verschiedene Aufsichtsbehörden beizubehalten. Sie geht zudem davon aus, dass das unabhängige Schottland der EU angehören wird. Schottlands Regierungschef, First Minister Alex Salmond, hat sogar erklärt, von den sechs Gemeinschaften, die Schottland und England derzeit miteinander verbinden (in politischer, monetärer, monarchischer, sicherheits- und verteidigungspolitischer, sozialer und europäischer Hinsicht), solle überhaupt nur eine einzige, nämlich die politische Union, beendet werden. Dies ist als „Independence-lite“ bezeichnet worden und ähnelt eher Vorschlägen wie denen einer „Souveränitätsgemeinschaft“ im kanadischen Quebec als herkömmlicher Staatlichkeit.

Zwei Pfade zum gleichen Ziel?

Die unionistischen Parteien ihrerseits versuchen, eine stärkere Dezentralisierung anzubieten, allerdings fällt es ihnen sehr schwer, sich dabei auf die Details zu verständigen. Wenngleich also die Referendumsfrage einen Mittelweg ausdrücklich ausschließt, versuchen beide Seiten dennoch, dorthin zu gelangen. Man könnte „Independence-lite“ und „Devolution-max“ sogar als zwei Pfade zum gleichen Ziel größerer regionaler Selbstbestimmung bezeichnen.

Dieses Ziel wird heute quer durch Europa verfolgt. Die verschiedenen Unabhängigkeitsbewegungen haben sich im Zuge der Transformation des alten Nationalstaates entwickelt, während sich zugleich die politischen Machtverhältnisse verschoben: nach oben in Richtung Europa und nach unten hin zu den Regionen und Kommunen. Einst wurde viel über das „Europa der Regionen“ und einen Drei-Ebenen-Föderalismus gesprochen. Aber die EU hat es nicht verstanden, die damit verbundenen Chancen zu nutzen; weiterhin wird sie von ihren Mitgliedsstaaten dominiert. So erklären sich die regionalen Unabhängigkeitsbestrebungen, zumindest in Schottland, Flandern und Katalonien.

Vor diesem Hintergrund wurde die aktuelle schottische Debatte allerdings nicht so sehr von identitätspolitischen Fragen geprägt. Das ist nur auf den ersten Blick überraschend. Fast jeder in Schottland fühlt sich als Schotte – entweder ausschließlich oder zugleich als Schotte und als Brite. Ob sich jemand schottisch fühlt, ist demnach kein sehr guter Indikator für seine Haltung zur Unabhängigkeit. Identitätspolitische Faktoren sind nur für die kleine Minderheit von Belang, die sich ausschließlich britisch fühlt. Aus ihr rekrutiert sich der harte Kern der Unionisten.

Im Zentrum der Debatte stehen vielmehr wirtschaftliche Fragen. Das schottische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag in den vergangenen Jahren fast genau im britischen Durchschnitt. Es geht hier also weder um einen „Aufstand der Reichen“ noch um eine „Revolte der Armen“. Niemand bezweifelt, dass ein unabhängiges Schottland lebensfähig wäre. Die Debatte hat sich daher auf die möglichen langfristigen Perspektiven von Unabhängigkeit oder Union konzentriert. Dabei steht die Frage der öffentlichen Finanzen im Mittelpunkt: Schätzungen der schottischen Staatsfinanzen für den Fall der Unabhängigkeit legen nahe, dass Schottland mindestens so günstig dastehen würde wie heute Großbritannien, aber entscheidend von Öleinnahmen abhängig wäre. Schottland hätte zwar ein Anrecht auf den größten Teil des britischen Nordseeöls, aber daraus würde sich eine sehr volatile Steuerbasis ergeben. Kein Wunder, dass die Pro- und Kontra-Lager sehr unterschiedliche Schätzungen der künftigen Staatseinnahmen vorgelegt haben.

Zu einem Schlüsselthema der Debatte hat sich der Sozialstaat entwickelt. Die Scottish National Party versteht sich als sozialdemokratische Partei. Sie behauptet, nur sie allein sei in der Lage, den Angriffen der konservativ-liberaldemokratischen Londoner Regierung auf den Sozialstaat zu widerstehen. Die SNP stellt Schottland als essenziell sozialdemokratisches Land dar und betrachtet die nordischen Wohlfahrtsstaaten als Vorbilder. Dies geht jedoch einher mit einer Vorliebe für niedrige Steuern und dem Versprechen, die Unternehmenssteuern zu senken. Auch die Luftverkehrssteuer will die SNP im Interesse größerer Wettbewerbsfähigkeit abschaffen. Die Labour Party wiederum beharrt darauf, der Sozialstaat könne nur durch sie und nur in Westminster gerettet werden.

Viel wurde zuletzt über Europa gestritten. Unterstützt von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, warnen unionistische Politiker davor, dass sich ein unabhängiges Schottland außerhalb der EU wiederfinden könnte. Doch das ist wenig plausibel. Gemäß dem Edinburgh-Abkommen würde Schottland von Großbritannien anerkannt werden. Deshalb ist nicht erkennbar, weshalb die übrigen 27 EU-Mitgliedsstaaten dies nicht auch tun sollten. Einem unabhängigen und demokratischen Schottland in Übereinstimmung mit dem europäischen acquis communautaire könnte wohl kaum die Mitgliedschaft verweigert werden, ohne dass dabei die wesentlichen Grundsätze des europäischen Projekts verletzt würden. Zudem wäre es in niemandes Interesse, im europäischen Binnenmarkt auch nur vorübergehend ein schwarzes Loch zu schaffen.

Die schottische Regierung schlägt vor, dass die Einzelheiten der EU-Mitgliedschaft wie auch die Unabhängigkeit selbst in einer 18-monatigen Übergangsphase zwischen dem Referendum und den nächsten schottischen Parlamentswahlen ausgehandelt werden sollten. Sie weist darauf hin, dass die wirkliche Bedrohung der EU-Mitgliedschaft nicht von der schottischen Unabhängigkeit ausgeht, sondern vom Versprechen der britischen Konservativen, im Jahr 2017 ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU abzuhalten. In Schottland ist die tiefe englische Europaskepsis wenig verbreitet. Es wäre durchaus möglich, dass in solch einem Referendum die Engländer mehrheitlich für den Austritt stimmen, während die Schotten für den Verbleib in der EU votieren.

Die Entscheidung ist offener denn je

Es könnte jedoch zu Streitigkeiten über die Bedingungen der schottischen EU-Mitgliedschaft kommen. Unionisten haben behauptet, dass Schottland verpflichtet wäre, dem Euro und der Schengen-Zone beizutreten, womit eine echte Grenze zwischen Schottland und England gezogen würde. Auch dies scheint jedoch kaum plausibel, da solch eine Grenzziehung nicht im Interesse Englands wäre. Problematischer erscheint die SNP-Strategie, genau die gleiche special relationship zu Europa beizubehalten, die heute Großbritannien unterhält, einschließlich verschiedener Ausstiegsklauseln. Auf lange Sicht ist es wahrscheinlich, dass sich England immer weiter von Europa entfernen wird: durch besondere Ausnahmeregelungen, durch den verweigerten Beitritt zu neuen Gemeinschaftsregelungen oder schließlich sogar durch formalen Austritt aus der Europäischen Union. Schottland müsste dann prüfen, ob es dem europäischen Kern beitreten oder gemeinsam mit dem übrigen Großbritannien am Rand zurückbleiben möchte.

Die Zustimmung zur schottischen Unabhängigkeit war vor der aktuellen Referendumskampagne über 20 Jahre lang bemerkenswert stabil. Rund 30 Prozent der Schotten unterstützten die Idee der Loslösung von London – sogar 40 Prozent, sofern man die unentschlossenen Wähler heraus rechnete. Seit Anfang 2014 jedoch wächst bei den schottischen Wählern die Zustimmung zur Unabhängigkeit. Dies scheint die konsequent negative Nein-Kampagne bewirkt zu haben, die darauf hinausläuft, den Schotten zu unterstellen, sie seien unfähig, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. Unterdessen betont die Ja-Kampagne, nur ein unabhängiges Schottland könne den Sozialstaat retten und in der EU verbleiben. Im Juni 2014 liegt das Nein zur Unabhängigkeit zwar immer noch mit etwa 55 zu 45 Prozent vorn, doch die Entscheidung ist offener denn je. Europa tut gut daran, sehr genau hinzusehen.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

zurück zur Ausgabe