Die Rechten im Osten

Fünf Gründe, warum es nicht schaden kann, die Wahrheit auf kleiner Flamme zu kochen

Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar" schrieb Max Frisch. Der Schweizer Dichter sprach zuvörderst über jene privaten Verhältnisse, die seine Prosa prägten. Dabei stand der politische Denker dem Romanautor kaum nach.

"Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar", dieser Satz hat seinen Wert zweifellos auch bei der Beantwortung der Frage, in welchem Landesteil es um den neuen Rechtsextremismus eigentlich ärger bestellt sei, im östlichen oder im westlichen. Nur wollen wir dazu ein großes Warnschild in die zeitgenössische Landschaft stellen, allzumal nach der Tragödie von Sebnitz. Die gegenwärtigen Wahrheiten, lauthals verkündet, tragen zur Verschärfung der Lage bei.

Natürlich ist die politische Misere in den östlichen Ländern mit Händen zu greifen. Zwei Diktaturen, der Abriss kultureller Traditionen, die systematisch betriebene Proletarisierung, der Mangel an Erfahrung im Zusammenleben mit Ausländern und die demokratische Wende 1989, die für viele nichts anderes gewesen ist als eine existenzielle Krise - wollte man Extremismus im Labor züchten, man müsste zu eben jenen Ingredienzien greifen. Wer über die Mauer spricht, der kann über die politisch bedingte Verelendung der Geister nicht schweigen.

Die Tabuisierung des Themas zwischen Elbe und Oder über zehn lange Jahre seit der Implosion des Kommunismus, sie dient als das letzte Indiz dafür, dass etwas faul ist. Die klatschenden Menschenmassen während des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen, man hört sie immer noch. Erst das vergangene halbe Jahr hat jene auch inner-östliche Diskussion befördert, die so dringend nötig gewesen ist. Der Statistik schließlich, man darf ihr an dieser Stelle uneingeschränkt trauen: Das Epizentrum des rechten Extremismus liegt im Osten. So viel zu jenen unbequemen Wahrheiten, ohne die es keine Katharsis geben wird.

Nun finden wir allerdings in der Debatte des Westens über den Osten einen Unterton, der ganz offenkundig nicht genug davon bekommt, womöglich wider die Fakten das Übel dauerhaft im Osten zu verorten. Man spricht elegant von gesellschaftlichen Verhältnissen und meint doch insgeheim die Menschen, die piefigen: ohne Aktienfonds, überall pochend auf Gleichheit. Dabei sollten die Bericht erstattenden Zeitgenossen einmal den eigenen Ressentiments nachgehen. Aus guten Gründen.

Erstens vermissen wir heute jene bundesweit gehörten ostdeutschen Medien, die an der Wende zum Jahr 2001 als Ort der Selbstverständigung dienen könnten - jenseits der Super-Illu und des immerfort schunkelnden Mitteldeutschen Rundfunks. Die Wochenpost, Gott hab sie selig, hätte so ein Ort sein können. Statt dessen schreiben immer noch und immer wieder Westdeutsche über den Osten, den Zoo. Sie schreiben vorurteilsbeladen, sie schreiben ohne Liebe, sie schreiben über Skinheads als Fremde - was ihre Fremdheit nur noch vergrößert. Und ihre Angst. Man liest allzu oft Texte, die etwas beweisen wollen, statt etwas zu zeigen. Dabei fällt manchen Autoren kaum auf, dass die eigene Erregung über den Rechtsextremismus im Osten unter ihnen selbst weit größer ist als unter denen, für die sie tätig sind.

Zweitens entgehen dem westdeutschen Ostblick regelmäßig jene Details, die das Bild mindestens relativierten. Dazu gehört beispielsweise die Beobachtung, dass Teile jener ostdeutschen Funktionseliten, die den Rechtsextremismus andauernd nicht zur Kenntnis nehmen wollten, Westdeutsche sind. Das ist so in Polizeirevieren. Das ist so in der Justiz. Das ist aber vor allem so, weithin sichtbar, in der Politik. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm sucht die Schuld an der Ausländerfeindlichkeit gern bei den Ausländern. Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel ward in der Debatte weit und breit nicht gesehen. Sachsens Premier Kurt Biedenkopf freut sich: In seinem Freistaat sei kein Fremder zu Tode geprügelt worden, sagt der König. Liegt hier nur Realitätsverlust vor?

Nein, es sind allem Anschein nach nicht die Westdeutschen, die über jeden Zweifel erhaben wären. Tatsächlich (und glücklicherweise) sind es die nach 1968 politisch sozialisierten Jahrgänge, die im Herzen erschrocken sind über die neue Wirklichkeit. Ältere und politisch konservativ geprägte Mitmenschen sind all zu oft empört und besorgt erst nach öffentlicher Aufforderung. Bei allen Irrtümern der Außerparlamentarischen Opposition: Wer im Osten lebt und leidlich heimisch geworden ist, der weiß, wie nötig dieser Landesteil eine gesellschaftliche Bewegung hätte, die Fragen nach Verantwortung gestern und heute unerbittlich stellt. Staatlich kultivierter Antifaschismus dagegen - dieser Beweis ist nun hinlänglich erbracht - konserviert jene Mentalitäten, die rechter Extremismus gut brauchen kann. Er verlagert das Thema nach außen und salviert die Individuen.

Drittens: Links-liberaler Antifaschismus heute verlagert das Thema freilich auch gern nach außen, in die einst real existierende DDR. Das aber verschärft das Problem noch einmal, weil es - empirisch tausendfach belegbar - jene Trotzhaltung forciert, die den Osten bis heute prägt. Ob es einem schmeckt oder nicht: Die Menschen fühlen sich diskriminiert und beleidigt. Und zwar nicht seit 1989, sondern seit 1949, dem Gründungsdatum der beiden deutschen Staaten. Seither belegen sie den zweiten Platz: am Balaton in Ungarn, in der monatlichen Arbeitslosenstatistik oder am Kaffeetisch bei der Westverwandtschaft. Man kann dies beklagen, bemitleiden, sich wundern: Wir haben es hier nicht mit einer skurrilen Laune zu tun, sondern mit einem psychischen Tatbestand, den man berücksichtigen muss wie der Segler das Wetter.

Wenn aber zugleich richtig ist, dass für rechten Extremismus psychisch besonders anfällig bleibt, wer seinen Wert nicht in sich und seinen Verhältnissen findet, dann kann es nur darum gehen, die Menschen zu stärken. Gefragt ist eine Kultur der Anerkennung (Wilhelm Heitmeyer) in jede Richtung - gegenüber Ausländern, nicht minder jedoch gegenüber Inländern. Dazu ist Respekt erforderlich, von dem wir im Land zu wenig haben. Wer dem Osten unablässig jenen Spiegel hinhält, in dem er sich nur als extremistisch erkennen kann, der wird mehr von jenem Extremismus ernten, als ihm lieb ist. Oder geht es nur darum, Recht zu behalten?

Viertens wird der Rechtsextremismus im Westen selbstredend nicht dadurch besser, dass man einen Landesteil hat, in dem er offener und brutaler zutage tritt. Im Gegenteil, das gegenseitige Aufrechnen ist absurd und beschämend. Wer außerdem will bestreiten, worauf viele Ostler gern hinweisen: dass Düsseldorf am Rhein liegt und Lübeck in Schleswig-Holstein? Und wer, fragen Ostler mit Recht zurück, würde eigentlich die Hand ins Feuer legen für eine Westgesellschaft, die von heute auf morgen jenem soziologischen Großversuch ausgesetzt würde wie die "da drüben"? "Sollen andere von ihrer Schwäche sprechen" schrieb Bertolt Brecht. "Ich spreche von der meinen."

Fünftens schließlich sollte uns Sebnitz eine Lehre sein. Vorschnell erhobene Urteile im Einzelfall werden, stellen sie sich als zweifelhaft oder falsch heraus, zum Bumerang. Auch wurde hier sehr schön das Dilemma des westdeutschen Antifaschismus nach 68 deutlich - jene "Inländerfeindlichkeit", von der Richard Schröder gesprochen hat.

Max Frisch übrigens hat in einer Rede einmal die Frage aufgeworfen, ob die deutschen Schriftsteller das eigene Volk lieben. Frisch meinte nicht das Volk der Dichter und Denker, sondern das Volk, das im Zweifel am Ballermann sitzt und Bier trinkt. Wir fragen weiter und anders: Haben die links-liberalen Westdeutschen das Volk lieb, das zu bessern sie nicht aufgeben? Oder wählten sie sich nicht gern ein anderes?

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