Die neue Internationale!

Sozialdemokratische Parteien suchen einen gemeinsamen "Dritten Weg"

In der Mediengesellschaft brauchen politische und wissenschaftliche Debatten ein Label, wenn sie Wirkung entfalten wollen. Selbst die deutsche "Neue Mitte" war Anfang 1998 zunächst nur ein Veranstaltungslogo der Bonner Kampa - das Leipziger Wahlprogramm vom April enthielt allerdings bereits inhaltliche Hinweise, was gemeint sein könnte. Spätestens seit der Konferenz der Regierungschefs "The Third Way: Progressive Governance for the 21st Century" kann der "Dritte Weg" als die international anerkannte Überschrift der neuen Debatten über die Zukunft der postindustriellen Demokratien gelten. Ende April 1999 hatten sich Clinton, Blair, Schröder, D′Alema und andere getroffen, um über das Gemeinsame der Reform- und Modernisierungspolitik der "linken Mitte" zu diskutieren. Gerhard Schröder schloss sein Statement dort mit der Bemerkung, der "Dritte Weg" sei ein offenes Systems des Dialoges und des Voneinanderlernens.

Damit ist das Wichtigste gleich zu Beginn benannt: Unter den Bedingungen der Globalisierung kann es nicht mehr um einen sich vom Rest der Welt unterscheidenden nationalstaatlichen Sonderweg gehen. Uns wird schmerzlich bewusst, wie sehr der Planbarkeit von Gesellschaft Grenzen gesetzt sind. Wir können nur noch unterhalb der Schwelle fertiger Systemmodelle operieren. Gerade der Erhalt sozialdemokratischer Werte, wie ein ausreichendes Maß an sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit, verlangt in einer veränderten Welt neue Antworten. Politische Theorie erleidet hierbei einen praktischen Bedeutungsverlust. Entscheidender ist geworden, positive Gestaltungserfahrungen benachbarter Länder und Regionen aufzunehmen, kreativ zu übertragen und auf intelligente Weise neu zu kombinieren.

Ausgegangen ist die aktuelle Begriffskonjunktur des "Dritten Weges" 1992 von Beratergremien des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton. Aufgenommen und in die europäische Debatte getragen wurde er in den letzten Jahren vor allem von Tony Blair und seinem politikwissenschaftlichen Vordenker Anthony Giddens. Im Kern geht es um die "Erneuerung der sozialen Demokratie" - in Abgrenzung vom marktradikal-unsozialen Neoliberalismus sowie vom überholten "Old Labour"-Verstaatlichungssozialismus.

In Deutschland spielte die Formel "Dritter Weg" zuletzt in den siebziger Jahren eine Rolle, als es um den Demokratischen Sozialismus ging. Sie bezog sich auf eine "Synthese von Planung und Wettbewerb, von Sozialismus in der Wirtschaft, Demokratie in der Politik und Liberalismus in der Kultur. Jenseits von östlichem Kommunismus, westlichem Kapitalismus und weltweitem Konservatismus wäre dann ein Dritter Weg mit dem Ziel der Selbstverwaltung der Produzenten und Konsumenten wie der Selbstbestimmung der Weltbürger im Zeichen nichtverletzenden Zwanges, funktionaler Führung und pluralitärer Freiheit beschritten", so der Politologe Ossip K. Flechtheim damals. Reformsozialistische Jusos suchten nach Vorbildern des "Dritten Weges", die - wie auch immer - demokratische und sozialistische Elemente zu kombinieren versuchten. Ob aber Jugoslawien, skandinavische Staaten, die CSSR, Chile, Portugal oder später Nicaragua - die Suche nach Modellen war nicht frei von Idealisierungen.

Auch wenn das Projekt "Aufbau sozialistischer Demokratie in einem Land" längst im Archiv vergangener utopischer Hoffnungen abgelegt ist, bleiben doch Kontinuitätselemente der damaligen "Dritter Weg"-Debatte: Er erschien damals wie heute als etwas Nicht-Abgeschlossenes, eher als eine Suchbewegung, die zu richtigen Lernfragen herausforderte. Er zeichnete sich durch Neugier und Offenheit auf der Basis fester Grundwerte aus, auch dadurch, zunächst vor allem zu wissen, in welche Sackgassen man sich nicht verrennen wollte. Damals wie heute liegt dem "Dritten Weg" ein Politikverständnis zugrunde, sich nicht auf kurzfristige und inhaltsleere Machteroberungs- und -erhaltungsstrategien reduzieren zu lassen. Es geht auch heute um klar definierte Ideen und um den Versuch der Verwirklichung von Projekten, die von diesen Ideen gestützt werden. Die Instrumente der Verwirklichung werden möglichst pragmatisch gewählt. Erkennbar bleiben soll aber der Zusammenhang zwischen Einzelschritten aktuellen Regierungshandelns und der programmatischen Himmelsrichtung. Den "roten Faden" muss man zumindest grob vor Augen haben, um nicht vom Wege abzukommen.

Die deutsche Sozialdemokratie beginnt mit der Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogrammes. Die heftigen Auseinandersetzungen zum Blair-Schröder-Papier haben gezeigt, wie notwendig integrative Lernprozesse sind, um auf der Höhe der Zeit anzukommen. Die beiden britischen Standardschriften des "Dritten Weges" (Tony Blair: The Third Way. New Politics for the new Century, London 1998 und Anthony Giddens: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt/M. 1999) enthalten Leitfragen, die auch für die hiesigen Programmdebatte zentral sind:

Blair nennt in seinem Ideenaufriss vier Grundwerte der neuen Politik: 1. Gleicher Wert jedes Individuums, 2. Chancen für alle, 3. Verantwortlichkeit, 4. Gemeinschaft (Community). Wieweit sollten liberal geprägte Vorstellungen von Chancengleichheit gegenüber starken Gleichheitswerten der sozialdemokratischen Tradition Vorrang haben und wieweit sollte das amerikanische Projekt des Kommunitarismus (Verantwortlichkeit, Gemeinschaft) aufgegriffen werden? Blair präferiert eine politisch-kulturelle Kampagne für mehr individuelle Verantwortlichkeit und mehr Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft.

Sind aber makroökonomische Steuerung und politische Regulierung zu ersetzen durch die Idee der Partnerschaft von Politik und Wirtschaft? Wieweit sollte die von Blair verfolgte Strategie der "inclusion", das heißt die Chance der Teilhabe des Einzelnen im Arbeitsleben sowie am Gemeinschaftsleben, Ersatz oder Ergänzung sozialstaatlicher Absicherung sein? Sollte die Verantwortung, sich in der neuen riskanteren Ökonomie zu behaupten, letzten Endes beim Individuum selbst liegen? Oder sind neue Dämme gegen die von Richard Sennett so negativ beschriebenen Folgen allseitiger Flexibilisierung ("Kultur der Unsicherheit") zu errichten?

Giddens bietet in seinem Buch eine vertiefte gesellschaftspolitische Grundlegung der neuen Synthese aus Grundwerten der alten Sozialdemokratie und Politikkonzepten des Liberalismus. Das ist nicht weiter überraschend, bedeutete doch programmatische Revision in der Geschichte der Sozialdemokratie von Bernstein bis zum Godesberger Programm in der Regel die Neuaufnahme liberaler Elemente. Das Buch von Giddens hat hierbei den Vorteil, differenziert zu argumentieren, etwa bei seinem Plädoyer für die Stärkung der Zivilgesellschaft - dort fragt er, was der Staat zur Unterstützung selbiger leisten kann.

Bei Giddens behält der Staat seine Kernaufgaben der Schaffung öffentlicher Güter, er kann weder durch die Märkte noch durch die Organisation der bürgerlichen Gesellschaft ersetzt werden, aber er bedarf in Zeiten der Individualisierung und Globalisierung einer gründlichen Erneuerung seiner Organisationsweise und Handlungsformen.

Die programmatisch zu klärenden Punkte liegen jenseits der Ebene von Pauschalisierungen und Parolen. - Hier muss genauer hingesehen, präzisiert und vermittelt werden: Muss das Wissen darum, dass Globalisierung als "act of life" ziemlich unabweislich ist, dazu führen, jedem Mindestmaß an politischer Rahmensetzung und Regulierung auf europäischer und internationaler Ebene eine Absage zu erteilen? Sind Konzepte des Investitions- und Innovationsstaates, der Förderung einer Kultur des Unternehmertums nicht doch vereinbar mit dem traditionellen sozialdemokratischen Politikkonzept der kollektiven Verantwortung für den Schutz individueller Würde? Letzteres stellt - von starken Wählergruppen unterstützt - die eigentliche Grundlage des Sozialstaats dar.

Auch ein "Dritter Weg" wird Markt, Zivilgesellschaft und Staat kombinieren. Es ist keine geringe Aufgabe, die Arbeitsteilung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft unter veränderten Bedingungen neu zu justieren. Setzt man weniger auf sozialstaatliche Gleichheitstrategien des umverteilenden und regulierenden Wohlfahrtsstaates, schließt dies kurzfristige Einschnitte, schmerzhafte Sparoperationen, zurückgewiesene Partialinteressen und schwieriger zu organisierende Zustimmung ein. Vielleicht wird die Berliner Republik, wenn nicht gleich für den "Dritten Weg", so doch stehen für "Trampelpfade in die Zukunft" (so einst Erhard Eppler in anderem Zusammenhang). Sozialdemokratische Programmarbeit muss auch bei laufendem Regierungsgeschäft eingebettet sein in eine Kultur des handlungsbezogenen politischen Diskurses, der Aufklärung und soziale Verpflichtung ernsthaft zusammenbringt. Dazu scheint das Ambiente der Metropole, in der sich neue Trends konturierter abzeichnen und Politik sich nicht so leicht ins "Raumschiff" zurückziehen kann, ganz gut geeignet.

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