Die nächsten vier Jahre sind entscheidend

Das sieht nach Arbeit aus: Die SPD muss gleichzeitig ihre Kompetenz als Regierungspartei neu aufbauen, eine inhaltliche Alternative zur Großen Koalition entwickeln, frühere Bündnispartner wieder fester an sich binden und mögliche neue Partnerschaften kultivieren

Politik kennt keine Verschnaufpausen. Obwohl nach dem kräftezehrenden Wahlkampf allen Beteiligten eine Woche Urlaub gut getan hätte, waren unmittelbar nach der Wahl Sondierungsgespräche, Sitzungen des Parteikonvents und die Koalitionsverhandlungen zu absolvieren. Zudem galt es für die SPD, nicht nur einen regulären Parteitag, sondern auch ein Mitgliedervotum zu organisieren. Erst der Bundesparteitag in Leipzig bot schließlich den Raum, sich ausführlich mit dem desaströsen Wahlergebnis vom 22. September auseinanderzusetzen. Die große Kontroverse blieb jedoch aus. Stattdessen schlug sich das Misstrauen der Delegierten gegenüber einer Großen Koalition in durchweg schlechten Wahlergebnissen für die Parteispitze nieder.

Machen wir uns nichts vor: Die Bundestagswahl 2013 war ein Einschnitt. Das linke Lager hat seine Mehrheitsfähigkeit in der Bevölkerung verloren. Erst wenn man die Stimmen von CDU/CSU sowie FDP und AfD zusammenzählt, erhält man ein ehrliches Bild der gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse in Deutschland. Mit seiner Rede in Leipzig hat Sigmar Gabriel die Erwartungen der SPD an einen Koalitionsvertrag deutlich unterstrichen: Koalitionen sind Bündnisse auf Zeit und bedeuten Kompromisse für beide Seiten. Unter den gegebenen Umständen haben wir in den Verhandlungen ein gutes Ergebnis erreicht. Mehr war mit der Union beispielsweise in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Integration nicht zu machen. Gleichwohl bleibt die eigentliche Frage nach den Konsequenzen aus der verlorenen Bundestagswahl unbeantwortet: Wie kann die SPD wieder Wahlergebnisse deutlich über 30 Prozent erzielen? Erst dann können wir glaubhaft einen Anspruch auf die erneute Kanzlerschaft formulieren.

Mobilisierungsfähigkeit auf dem Nullpunkt

Vorschnelle Wahlanalysen sind häufig Instrumente, um machtpolitische Entscheidungen zu legitimieren – und deshalb mit Vorsicht zu genießen. Eine sorgfältige Wahlauswertung braucht Zeit. Gleichwohl drängt sich ein Befund auf: Die meisten Wählerinnen und Wähler haben sozialdemokratische Kernanliegen wie etwa den Mindestlohn unterstützt. Gleichzeitig haben sie aber offenbar nicht darauf vertraut, dass die SPD diese Anliegen in einer Regierung auch wirklich in die Tat umsetzen würde. Das Vertrauen in die SPD ist nach den Jahren der Agenda-Politik also noch nicht ausreichend zurückgewonnen worden. Daran haben weder die programmatischen Korrekturen seit dem Dresdener Parteitag 2009 noch ein von der Partei breit getragenes Wahlprogramm etwas geändert. Im Ergebnis hat die SPD in allen wichtigen Wählergruppen und Milieus zu schlecht abgeschnitten, um aus eigener Kraft eine Regierung bilden zu können. Hinzu kommt, dass die Mobilisierungsfähigkeit der eigenen Kernwählerschaft auf einen Tiefpunkt gesunken ist. Trotz der gut angenommenen Tür-zu-Tür-Kampagne hat die Union deutlich mehr Stimmen aus dem Nichtwählerbereich mobilisieren können als die SPD.

In der großen Koalition erkennbar bleiben

Die nächsten vier Jahre werden nun entscheidend dafür sein, die Partei neu zu positionieren. Der SPD muss es zwingend gelingen, ihre Kompetenz als Regierungspartei auszubauen und gleichzeitig eine programmatische und inhaltliche Alternative zur Großen Koalition zu entwickeln.

Problematisch an der Großen Koalition ist dabei nicht so sehr, mit den Gegnern aus dem Wahlkampf vier Jahre lang zusammenzuarbeiten. Das eigentliche Problem ist grundsätzlicher: SPD und CDU sind ja nicht nur zwei konkurrierende Parteien, sondern auch die zentralen Sammelbecken zweier alternativer Politikmodelle. Tun sich beide Parteien notgedrungen zusammen, drohen diese Unterschiede zu verwischen. Hierunter leidet die SPD erfahrungsgemäß mehr als die Union. Die SPD muss deshalb in der Großen Koalition immer auch die grundsätzliche Alternative einer sozialdemokratischen Politik verkörpern. Sie muss politisch erkennbar bleiben, wenn sie 2017 eine realistische Chance haben will, die Kanzlerin oder den Kanzler zu stellen. Denn das Fehlen einer echten politischen Alternative war ein Grund für die unzureichende Mobilisierung bei der jüngsten Bundestagswahl. So lässt sich auch der vordergründige Widerspruch zwischen dem schlechten Wahlergebnis der SPD und der Zustimmung zu ihren Forderungen erklären. Die SPD-Vorschläge wurden von vielen zwar als eine willkommene Ergänzung zu Angela Merkels bisheriger Politik begrüßt – als grundsätzlicher sozialdemokratischer Gegenentwurf wahrgenommen wurden sie dagegen nicht. Eine Rückeroberung der seit der ersten rot-grünen Bundesregierung verlorenen Millionen Wählerstimmen war unter diesen Voraussetzungen nicht möglich.

Den Spagat zwischen Regierungsbeteiligung und der Entwicklung echter politischer Alternativen zu schaffen, wird in den nächsten vier Jahren eine enorme Selbstdisziplin aller Sozialdemokraten erfordern. Die Erfahrungen der letzten Großen Koalition zeigen, dass die Beteiligung an einer Bundesregierung personelle und organisatorische Ressourcen geradezu aufsaugt und vor allem von der Bundestagsfraktion ein hohes Maß an Gefolgschaft abverlangt. Doch ohne eine eigenständige Rolle von Partei und Fraktion wird die SPD nicht zu alter Stärke zurückfinden. Das Kunststück wird also darin bestehen, ein Verhältnis zur eigenen Regierung aufzubauen, das der Partei erlaubt, programmatische Alternativen zu entwickeln, ohne dabei als ständig nörgelnder Regierungspartner an Zustimmung in der Bevölkerung zu verlieren. Die SPD muss also mit eigenständigen Diskussionsangeboten wieder das Interesse an der Debatte wecken und sich für die anstehenden Wahlen einen programmatischen Vorrat erarbeiten. Wie wichtig die Inhalte sind, hat man im Wahlkampf gesehen: Wann immer über politische Inhalte statt über Banalitäten oder vermeintliche Skandale diskutiert wurde, hat die SPD an Zustimmung gewonnen. Zu den Voraussetzungen einer erfolgreichen Regierungsbeteiligung gehört aber auch, die personelle Aufstellung zu verbreitern und Frauen sowie Nachwuchskräften Raum zur Profilierung einzuräumen.

Der weite Weg von Dresden nach Leipzig

Bei aller Enttäuschung über das Wahlergebnis hat sich die SPD als die führende Partei links der Mitte behauptet. Denn trotz der gegenseitigen Bekenntnisse, zusammenarbeiten zu wollen, war der Wahlkampf der Grünen auch ein Angriff auf die SPD. Die Schwerpunktsetzung auf die Bereiche Steuern und Sozialpolitik zielte direkt auf die Kernkompetenz der SPD. Aus dem Scheitern der Grünen ergibt sich für die SPD jetzt die Chance, die Vorherrschaft im Mitte-Links-Spektrum auszubauen. Zudem wurde mit dem Leitantrag des Leipziger Parteitags endlich geklärt, dass die SPD für die Wahl 2017 keine Koalitionsoptionen mehr grundsätzlich ausschließt. Von Dresden nach Leipzig sind es zwar nur etwa 120 Kilometer, dennoch hat es 19 Jahre gedauert, bis sich die SPD von der „Dresdener Erklärung“ verabschieden konnte, die eine Zusammenarbeit mit der PDS ausschloss. Die SPD stellt sich mit ihrem Beschluss auch darauf ein, dass die erneute Festlegung auf Rot-Grün in vier Jahren von beiden Parteien vermieden werden dürfte.

Wichtig ist, dass alle Flügel der SPD den neuen Kurs mittragen. Auch prominente Parteirechte, die noch vor wenigen Jahren jeden, der sich für eine vorsichtige Annäherung an die Linkspartei ausgesprochen hatte, mit einem Bann versehen wollten, zeigen sich geläutert. Für die SPD bedeutet diese neue Offenheit jetzt, mit der Linkspartei diesseits der Hinterzimmer einen aufgewerteten Gesprächsprozess zu organisieren – ein Unterfangen, das sich angesichts der Spaltungslinien innerhalb von Partei und Fraktion der Linken gewiss nicht als einfach erweisen wird.

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