Die linke Mitte braucht den produktiven Wettbewerb

Im vergangenen Jahrzehnt ventilierte die SPD die Vision der "Neuen Mitte", während die Linkspartei einer "Neuen Sozialen Idee" nachhing. Programmatisch fehlte es beidem an Kontur und Substanz. Jetzt muss über Parteigrenzen hinweg die Verständigung darüber intensiviert werden, was progressive Politik im 21. Jahrhundert ausmachen soll. In der "Berliner Republik" hat sie bereits begonnen

Was waren das für paradiesische Zeiten im Jahr 1999, als die Zeitschrift Berliner Republik in Erscheinung trat: Die bürgerlich-konservativen Parteien waren abgewählt, die CDU steckte in einer tiefen, existenziellen Krise. Die drei Parteien der linken Mitte hatten eine so große rechnerische Mehrheit errungen, dass es für zwei von ihnen zur Regierungsmehrheit ohne die dritte reichte. Der alte Traum vom „rot-grünen Projekt“ war hinter die faszinierende Idee zurückgetreten, eine „Neue Mitte“ in der Gesellschaft ansprechen oder sogar politisch konstituieren zu können. Wie im Vorgriff darauf fanden sich in der SPD vor allem jüngere Politikerinnen und Politiker zusammen, um fern der alten Strömungslinien von „links“ und „rechts“ Politik, Strategie und Programm zu entwickeln, zu debattieren und zu beeinflussen. Ihr Podium, ihr Sprachrohr wurde die Berliner Republik.

Zehn Jahre später muss die SPD ihr historisch schlechtes Ergebnis bei der Bundestagswahl verkraften. Von 16 Bundesländern wird nur noch der Stadtstaat Bremen rot-grün regiert, dafür gibt es bereits zwei bürgerlich-grüne Koalitionen, in Hamburg und im Saarland. An die Stelle der 1998 scheinbar überflüssigen und 2002 fast final gescheiterten PDS ist die LINKE getreten – unter Führung jenes Mannes, der zehn Jahre zuvor an der Spitze der SPD gestanden hatte und der seit 2005 mit dem Versprechen einer „Neuen Sozialen Idee“ die linke Mitte durcheinanderbrachte.

Programmatisch freilich haben weder die „Neue Mitte“ noch die „Neue Soziale Idee“ Kontur und Substanz gewonnen. Nach dem kurzen Wetterleuchten eines gemeinsamen programmatischen Papiers mit Tony Blair war Gerhard Schröders Kanzlerschaft geprägt von der Auflösung eines gewaltigen Reformstaus aus der Ära Kohl und vom Umbau des Sozialstaates. Dass dies kein Ausbau von Sozialstaatlichkeit war, hat die Betroffenen und viele Anhänger der traditionellen Sozialdemokratie heftig aufgebracht. Die Reformen haben die „Neue Mitte“ nicht um ein konstruktives politisches Projekt versammelt und für einige der dazu zu zählenden Gruppen die Gefahr prekärer Existenz eher verschärft.

Der Umbau des Sozialstaates war kein Selbstzweck  

Was dabei vielen aus dem Blick geriet: Der Umbau des Sozialstaates war kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für einen den modernen Herausforderungen angemessenen Neuaufbau. Denn die Globalisierung und die Dynamisierung technologischer Zyklen machen Brüche im Leben von immer mehr Menschen unausweichlich. Darauf muss sich Sozialstaatlichkeit einstellen. Neben der Abfederung solcher Risiken geht es darum, dass es nach dem Ab auch wieder ein Auf geben muss. Nicht Ausgrenzung und Ruhigstellung auf Mindestniveau, sondern die Unterstützung der Menschen beim Wiederein- und -aufstieg – das ist die Aufgabe, die zu lösen ist. Viel Raum für eine Neue Soziale Idee, die das alte sozialdemokratische Ideal einer Aufstiegsperspektive für alle unter den heutigen Bedingungen verwirklicht.

 Die Linke – und das meint hier nicht nur die Partei DIE LINKE, sondern auch Sozialdemokraten und Grüne – hat angesichts dieser Herausforderung derzeit wenig zu bieten. Zu vieles wird retrospektiv definiert, zu sehr ist man auf die zurückliegende Schröder-Reform fixiert und in der Vorstellung befangen, man hätte das alles irgendwie nicht machen dürfen. Das muss nicht so sein und nicht so bleiben. Es gab und es gibt Alternativen – sowohl bei der SPD wie bei der LINKEN. In der SPD liegt seit einigen Jahren der programmatische Ansatz des „vorsorgenden Sozialstaates“ auf dem Tisch. Und in der PDS hatte sich bereits der Landesverband Sachsen-Anhalt auf den Weg gemacht, gestalterische linke Politik und gesellschaftliche Innovation  zueinander in Beziehung zu setzen. Gefordert wurde ein Paradigmenwechsel von nachsorgender Sozialpolitik hin zu vorsorgender Gesellschaftspolitik.

In dieser Zeitschrift wie in anderen, ihr nahen Zusammenhängen wiederum gibt es seit längerem – über Parteigrenzen hinweg – eine Verständigung darüber, was progressive Politik im 21. Jahrhundert ausmacht. Progressive Politik kann keine ausschließlich nacheilende Politik sein. Und schon gar keine rückwärts gewandte, im Gewesenen verharrende, institutionell und strukturell das Frühere verklärende. So wird auch der neue Sozialstaat nicht der alte des vorigen Jahrhunderts sein, der in seiner überkommenen Art die neuen Aufgaben löst. Der neue Sozialstaat braucht flexible Strukturen und Institutionen, die soziale Gruppen zu Akteuren macht und wechselseitig in Beziehung setzt. Er muss nicht nur unverrückbare Mindeststandards wie beispielsweise Mindestlöhne festsetzen, sondern er braucht dazu Strukturen und Institutionen, die Aushandlungsprozesse ermöglichen, Balancen wahren, Balancen herstellen können. Er muss die Konflikte produktiv machen und aus sich heraus zum Ausgleich führen – wie es etwa mit der Tarifautonomie oder mit Selbstverwaltungsmöglichkeiten lange Zeit gelang. Und der neue Sozialstaat braucht die Kompetenz und die Kraft, solche Prozesse zu garantieren, zu flankieren und ihre Ergebnisse im Sinne des Gemeinwohls zu gewährleisten – nach innen wie nach außen, nationalstaatlich wie im Rahmen der Europäischen Union und unter den Bedingungen der Globalisierung.

Auf dem Weg zur neuen sozialen Demokratie

Dieser Weg würde dann nicht nur zu einer nachhaltigen Modernisierung des Sozialstaates ohne Funktionsverlust führen, sondern zugleich mit einer Durchlüftung von Staat und Gesellschaft beginnen. Er würde den Weg zu komplexer, aktiver Interessenvertretung eröffnen und den Menschen die Überzeugung geben, dass ihre Interessen nicht nur von anderen wahrgenommen werden, sondern dass sie selbst die Möglichkeit haben, sich zu organisieren und ihre eigenen Angelegenheiten auf ihre Weise in die Hand zu nehmen. Das wäre eine neue Form sozialer und direkter Demokratie – jenseits der bisherigen Vertretungsmonopole.

So könnte sich eine Neue Soziale Idee als Katalysator einer wieder integrationsfähigen neuen sozialen Demokratie mit mehr Akteuren erweisen – und die „Neue Mitte“ von der Enttäuschung befreien, nur Adresse für Appelle gewesen zu sein. Parteipolitisch wäre es das Ende des unversöhnlichen Gegenübers von „Neuer Mitte“ und „Neuer Sozialer Idee“, es wäre das Ende der derzeit dominierenden verzagten Rückwärtsgewandtheit und der Beginn eines neuen, produktiven Wettbewerbs – eines Wettbewerbs, in dem die Grundlagen eines Projekts der linken Mitte im 21. Jahrhundert gelegt werden. In der Berliner Republik hat er bereits begonnen. «


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