Die Leitsätze der SPD sind richtig - und ungeheuer überholt



Um das Jahr 1985 hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, dessen Achsen bis heute im Begriff sind, eine neue Kultur zu koordinieren. Ich nenne sie Kultur der Suspension. Ihr kraftvoller Eigensinn scheint von keiner Partei ausreichend reflektiert zu sein. Die wirkmächtigsten Parameter dieser kulturellen Evolution sind die Prinzipien der Heterogenität und der Diversität: die Koexistenz des Unvereinbaren; das Moderieren der Widersprüche; die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Im Jahr 1985 also begann der postmoderne Pluralismus und die Entpolitisierung der Massen durch den flotten Siegeszug des totalen Entertainments. Man war, im Westen freilich, auf dem Gipfel des sehnsuchtslosen Wohlstands angekommen. Die in diesem Humus sozialisierte und künftig für die Gestaltung der Republik verantwortliche Kohorte der heute 30-Jährigen ist weitestgehend geschichtsvergessen und entspiritualisiert. Sie ist radikalindividualisiert. Ideologien, Kontexte, metaphysische Obdächer sind verschwunden, Milieus zersplittert, Ideologien entsorgt. „Links“ und „rechts“ als politische Richtungsangaben spielen keine Rolle mehr. Es gibt keine Idee des Sozialen mehr, solidarische Gerechtigkeit ist für die meisten der konfektionierten Ichlinge ein Anachronismus aus dem Märchenreich der Gründungsmythen der Bonner Republik. Die lebenslang gesicherte, lineare Erwerbsbiografie ist ebenso passé wie der Generationenvertrag oder die deutsche Tugend. Gott ist tot und das Ende der großen Mythen gekommen.

In der Dämmerung der digitalkapitalistischen Zukunft wird das vom globalen Lifestyle bestimmte Arbeitsleben in befristeten Kurzzeitverträgen ablaufen, in Projekten und Episoden unter dem Imperativ ständiger Mobilität. Der Einzelne als Multitasking-Maschinchen richtet sich in Intervallen ein, nicht mehr im berechenbaren Leben. Man muss sich keinen transhumanistischen Träumereien hingeben, um zu sehen, dass sich das Bild vom Menschen als autonomes Subjekt zu retuschieren begonnen hat: Die Hirnforschung spricht uns den freien Willen ab, die Gentechnik stellt die Unveräußerlichkeit des Individuums in Frage, „Freiheit“ und „Würde“ stehen zur Disposition. Der Faktor Vernunft muss neu definiert werden. Theologische Antworten spielen trotz Re-Religiosierung dabei keine Rolle mehr, umso mehr sind intellektuelle, will heißen visionäre Antworten gefragt. Kurzum: Die klassische Moderne hat sich vollendet. Nichts führt also an der Verhandlung eines neuen Selbstverständnisses vorbei.

Für ein Grundsatzprogramm des 21. Jahrhunderts Antworten auf Herausforderungen der „Europäisierung“, „Globalisierung“ und den „sozialen, demografischen und technischen Wandel“ zu geben, ist das mindeste, und es ist höchste Zeit dazu.

Mein Einwand gegen die Leitsätze der SPD ist ein ganz anderer: Ich finde sie schon jetzt überholt. Sie sind in ihrer Kantenlosigkeit unerhört richtig, ja wohlfeil geraten, aber mit der Wirklichkeit spätestens von übermorgen in Konflikt, deren Beschleunigung alle bisherigen Begriffe und Instrumente des Politischen zu Anachronismen degradiert. Politik ist mehr als die Generierung, Verwaltung und Verteilung von Geld. Natürlich, wir, die Staatsbürger, müssen Grundsätze, grundlegende, leitende Sätze diskutieren, eine, wie es heißt, „neue soziale Übereinkunft“ schaffen, Wertvorstellungen prozessual verhandeln (wer? wo? wie?), die Konzertierung unterschiedlichster Interessen choreografieren und trotz entschwindender Verbundenheit Verbindlichkeiten entwickeln.

Das Volk zerfällt in Völkchen

Nun haben wir es allerdings mit einer Verselbständigung in totaler Dynamik zu tun. Die stete Differenzierung einzelner Subsysteme erfordert immense Synchronisationsleistungen. Kulturen entwickeln sich nicht länger über Verfahrensrationalitäten einer formalen Demokratie. Das Problem der postnationalen, postmetaphysischen und postindustriellen Identität wird sich vermutlich nicht mehr grundsatzprogrammatisch lösen lassen. Die Zeit der Volksparteiendemokratie geht meines Erachtens ihrem Ende entgegen, weil das System in heterogene Subsysteme zerfasert und das Volk in Völkchen zerfällt. Es ist absehbar, dass die Zukunft in koexistenten Gruppierungen und ihren Koalitionen liegen und sich die Organisation des Politischen grundlegend wandeln wird.

Im Rahmen der Revision unserer Grundlagen in der digitalkapitalistischen Spätmoderne mit all ihren Irrationalismen muss es meines Erachtens auf jeden Fall ein radikales Bekenntnis zu Eliten geben, besonders Bildungseliten, muss einheimische Wissenschaft höchsten Stellenwert erhalten, medizinische und gentechnische Forschung sich von moralischen Klammern befreien, die interdisziplinäre Reflektion gefördert und der Begriff Verantwortung neu dekliniert werden – in Hinsicht auf die ökologischen Grundlagen des Ganzen und die Rechte und Pflichten des Einzelnen. Die bedrohlich wachsende, verwahrloste, sich abspaltende Unterschicht muss ideell eingefangen werden, ein Konsortium der Vernunft die Direktoren und Programmleiter aller Fernsehanstalten zur Qualitätsverbundenheit anleiten, damit das Land der Denker nicht vollkommen auf den Boulevard kommt. Und wir müssen fragen, was wir unter gelingendem Leben, wie wir Heil und Heilung, Alter und Tod verstehen wollen.

Weil sie im Paradigmenwechsel der analogen zur digitalen Kultur sozialisiert wurden, können die jetzt 30-Jährigen den Wandel am besten gestalten. Sie sind die ersten kriegsschadenfreien, flexibilisierten, kosmopolitisierten Berlinerrepublikbürger, die als Scharnier zwischen den Achtundsechzigern und dem zersprengten Bildungsbürgertum die Idee des Gemeinwohl-Staates revitalisieren könnten. Sie sind aufgerufen, eine Ethik des Widerstreits zu entwickeln. Teile der künftigen Funktionseliten regredieren dieser Tage in den undogmatisch-heimeligen Konservatismus einer Neuen Bürgerlichkeit. Die SPD wäre nicht allzu schlecht beraten, sich gerade um sie und ihre Kinder zu bemühen.

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