Die Krise in den Hirnen

EDITORIAL

Auch wenn es schockierend klingt: Die Welt ist rund. Und sie bewegt sich. Davor mag es einem gruseln; it’s a jungle out there, entdeckt der entsetzte deutsche Laubenpieper und lässt hastig die Rolläden herunter. Man kann die globale Regsamkeit aber auch als Chance begreifen, selbst dabei zu sein, um endlich auch einmal wieder in Fahrt zu kommen. Das wäre die weitaus bessere Idee, denn wie gerade Sozialdemokraten einst sehr genau verstanden: Fortschritt ohne Bewegung gibt es nicht. Auch das bleibt heute und in Zukunft rundherum wahr. Wer einmal, wie die Deutschen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, formidablen Wohlstand – und damit die beste Voraussetzung sozialer Gerechtigkeit – aufgehäuft hat, der kann daraus in Zeiten globaler Dynamik nicht den geringsten automatischen Anspruch ableiten, dass es nun alleweil exakt so zu bleiben habe. Wie die Weltläufte in den kommenden Jahrzehnten verlaufen werden, ist völlig offen. Nur dass nie und nimmer auf der Höhe bleibt, wer sich geistig oder sonstwie ausklinkt – das wissen wir heute schon genau.

Sich aus ihrem Elend zu erlösen müssen die Deutschen schon selber tun. Allerdings werden ihnen dabei Neugier auf die Welt und ihre eigene Gegenwart von Nutzen sein. Wir empfehlen diesmal den Blick auf die Türkei. Denn längst nicht nur in China und Indien, Finnland und Litauen spielt heute die Musik. Eine der dynamischsten Gesellschaften überhaupt ist die türkische. Deren Ökonomie wuchs 2004 um volle zehn Prozent, das Land am Bosporus ist im Aufbruch. Aus deutscher Perspektive ist das schon deshalb eine gute Nachricht, weil eine dynamische Türkei als strategischer Partner und – hoffentlich – Vollmitglied der EU einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, Europa insgesamt auch im 21. Jahrhundert zu einer erfolgreichen Weltregion zu machen.

Was nebenan in der Türkei geschieht, betrifft Deutschland aber noch aus einem anderen Grund. Weil es hier eine türkischstämmige Community von 2,6 Millionen Menschen gibt, sind die Schicksale beider Gesellschaften besonders intensiv miteinander verwoben. Noch so eine große Zukunftsfrage – doch bislang hat gerade die deutsche Mehrheitsgesellschaft kaum erkannt, dass die türkische Einwanderung ein Prozess ist, der nur dann gelingen kann, wenn er als Win-win-Konstellation für alle Beteiligten begriffen wird. Gibt diese Gesellschaft die Ghettokinder von Berlin-Neukölln oder Köln-Chorweiler auf, dann hat sie sich in Wahrheit selbst aufgegeben.

„Die Krise, die ihr fürchtet, ist die Krise eurer Hirne“, rief einst Helmut Schmidt. Ein grandioses Wort, treffliche Mahnung zu jeder Zeit. Es könnte ja sein, dass durchaus zu bewältigen wäre, was einem gerade am bedrohlichsten vorkommt – ließe man sich nur einmal ernsthaft auf das Problem ein. Deutschland hat in den vergangenen Jahren ermutigende Versuche unternommen, sich in der veränderten Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts zurechtzufinden. Für die Flucht in eine Parallelwelt voll alter Antworten auf alte Fragen sind die Zeiten zu ernst.

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