Die kriminelle Seite der Marktlogik

Organisierte Kriminalität ist nicht nur ein Sicherheitsproblem, das sich mit harter Hand in den Griff bekommen ließe. Wer dauerhafte Fortschritte erzielen will, der muss Märkte neu regulieren und Rechtsstaatlichkeit stärken

Wenn in den vergangenen Jahren von Organisierter Kriminalität die Rede war, dachte man zumeist an die dramatische Situation in Lateinamerika. Die Probleme schienen weit weg zu sein. Aber das ist eine Fehleinschätzung. Beispielsweise zeigt ein jüngst veröffentlichter Bericht von Scotland Yard, wie die britische Polizei und Justiz vor zehn Jahren von Kriminellen systematisch unterwandert wurden. Auch die Morddrohung gegen den italienischen Staatsanwalt Nino de Matteo verdeutlicht, dass in Europa die Organisierte Kriminalität eine Gefahr für den Rechtsstaat und die Demokratie ist. Höchste Zeit also, das Problem aus progressiver Perspektive neu in den Blick zu nehmen.

Mehr illegale Geschäfte durch mehr Verbote

Es liegt in der Natur illegaler Aktivitäten, dass es keine zuverlässigen Daten über sie gibt. Im Jahr 2011 schätzte das United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) den Gesamtumfang krimineller Einkünfte auf 2,3 bis 5,5 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Der mittlere Wert von 3,6 Prozent entsprach 2009 2,1 Billionen Dollar. Etwa 40 Prozent davon entfielen auf Aktivitäten der Organisierten Kriminalität, was umgerechnet etwa 1,5 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung bedeutet. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen war der Verkauf illegaler Drogen für 350 Milliarden Dollar verantwortlich, gefolgt vom Geschäft mit gefälschten Waren (rund 250 Milliarden Dollar) und Menschenhandel (30 Milliarden Dollar).

Trotz der schwachen Datenbasis lassen sich mit Blick auf die Organisierte Kriminalität einige zentrale Zusammenhänge beschreiben: Erstens hängt der Umsatz illegaler Güter und Dienstleistungen nicht nur von der Nachfrage ab. Entscheidend ist auch, welche Güter und Dienstleistungen verboten sind oder so reguliert werden, dass sie für illegale Geschäfte interessant sind. Mehr Verbote führen zu mehr Organisierter Kriminalität. Zweitens erscheint es plausibel, dass die Organisierte Kriminalität etwas mehr als proportional zum Welt-Bruttoinlandsprodukt zunimmt. Da die wichtigsten illegalen Güter und Dienstleistungen für Geringverdiener und Erwerbslose nicht erschwinglich sind, dürfte das Wachstum der Mittelschichten zu einer überproportionalen Nachfrage nach illegalen Gütern und Dienstleistungen führen.

Drittens ist das verbreitete Argument zweifelhaft, dass Globalisierung und Handelsliberalisierung für das mögliche Wachstum der Organisierten Kriminalität verantwortlich sind. Die Globalisierung erleichtert weltweite Transaktionen, aber nicht nur die Organisierte Kriminalität profitiert davon, sondern auch diejenigen Institutionen, die sie bekämpfen. Die Handelsliberalisierung hat sogar einen eher negativen Effekt: Wenn Produkte durch Zölle und Marktregulierungen künstlich im Preis steigen, wird der illegale Handel mit Dienstleistungen und Waren attraktiver. Die Liberalisierung des Handels hingegen reduziert die Profitmargen für verschiedene illegale Geschäfte.

In schwachen Staaten bleiben Morde ungestraft

Somit wirken zwei der beschriebenen Faktoren auf eine Zunahme der Organisierten Kriminalität hin und lediglich einer auf ihre Verminderung. Es ist also durchaus von einem Anstieg der Organisierten Kriminalität auszugehen.

Allerdings unterliegen nicht alle illegalen Güter und Dienstleistungen dieser Dynamik. Im Hinblick auf illegalen Waffenhandel sind die entscheidenden Faktoren lokale und regionale Konflikte, wobei das Gesamtvolumen des illegalen Waffenhandels verglichen mit den oben genannten illegalen Branchen gering ist. Bei der Schutzgelderpressung wiederum sind das Versagen oder die Abwesenheit des Rechtsstaates entscheidend.

Organisierte Kriminalität wird immer häufiger mit Gewalt assoziiert. Tatsächlich folgt aus dem illegalen Charakter der Geschäfte, dass Konflikte mit und zwischen den Akteuren nicht legal zu regeln sind und deshalb häufig gewaltsam „ausgehandelt“ werden. Vereinbarungen über illegale Geschäfte sind häufig prekär, Fehlverhalten wird regelmäßig gewalttätig bestraft. Das Ausmaß dieser Gewalt variiert jedoch dramatisch.

Weil die mit Organisierter Kriminalität verbundene Gewalt in der öffentlichen Wahrnehmung weltweit zugenommen hat, wird diese fast ausschließlich als Sicherheitsproblem gesehen. In vielen Ländern beschränken sich die gegen sie gerichteten Maßnahmen auf eine Politik der „harten Hand“ – mit katastrophalen sozialen Folgen: Überfüllte Gefängnisse werden zu Ausbildungsstätten der Kriminalität, und durch den Einsatz von Streitkräften zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität eskaliert die Gewalt. Oft werden dabei Menschenrechte missachtet.

UNODC schätzt, dass allein im Jahr 2010 weltweit rund 468 000 Morde begangen wurden. Die Regionen mit den höchsten Mord­raten sind das südliche Afrika und die Länder der Drogenachse in Lateinamerika. Die Organisierte Kriminalität ist dabei nur für einen kleineren Teil der Morde verantwortlich. In Europa und Asien wird ihr Anteil auf fünf Prozent geschätzt, in Lateinamerika dagegen auf 25 Prozent. Dort hat die Gewalt in den letzten zehn Jahren trotz Wirtschaftswachstums und einem Rückgang der Armut insgesamt dramatisch zugenommen.

Der Hauptgrund für die globalen Unterschiede liegt in der Legitimität und den Kapazitäten der Staaten und insbesondere ihrer Justizsysteme. Starken Staaten mit hoher Legitimität gelingt es, die Mordraten deutlich zu senken, weil die Morde häufig aufgeklärt werden. In vielen lateinamerikanischen Ländern hingegen gehen 90 Prozent der Mörder straflos aus. So werden in Kolumbien in gerade einmal 30 Prozent der Mordfälle die Täter identifiziert. Und nur in knapp 10 Prozent der Fälle kommt es zu einer Verurteilung und Haftstrafe.

Die Ursachen für schwache Staaten mit versagenden Justizsystemen sind vielschichtig. In Lateinamerika sind beispielsweise die historisch hohe Landkonzentration, Konflikte und Bürgerkriege die Ursache. Ein starker und legitimer Rechtsstaat konnte sich nicht entwickeln und die Institutionen des Staates wurden von wirtschaftlichen und kriminellen Interessen übernommen. Im Ergebnis sind die Justiz- und Sicherheitsorgane schlecht ausgebildet, unterfinanziert, häufig korrupt und von kriminellen Akteuren unterwandert.

Die Absatzmärkte liegen in den reichen Staaten

Die Gründe für die Schwäche von Staaten mögen weltweit variieren, aber das Ergebnis ist gleich: Je schwächer die Staaten, je weniger Legitimität und je geringer die Kapazitäten ihrer Justizorgane, desto mehr Raum hat die Organisierte Kriminalität. Und umso größer ist die Gefahr, dass Konflikte gewaltsam ausgetragen werden. Die meisten betroffenen Länder sind arm und haben eine extrem ungleiche Einkommensverteilung. Für viele Menschen bietet die Organisierte Kriminalität bessere Aussichten auf soziale Mobilität als legitime Karrieren. In vielen dieser Länder gibt es zudem als Ergebnis sozialer und wirtschaftlicher Konflikte bewaffnete illegale Gruppen, und häufig verfolgen auch Teile der staatlichen Sicherheitskräfte illegale Geschäfte.

Während die gravierendsten Auswirkungen der Organisierten Kriminalität in armen Ländern mit schwachen Institutionen und starken sozialen Konflikten auftreten, liegen ihre wichtigsten Absatzmärkte in den reichen Ländern. UNODC schätzt, dass gut 90 Prozent des weltweiten Umsatzes illegaler Drogen in OECD-Ländern gemacht werden – im Jahr 2009 etwa 320 Milliarden Dollar. Gleichwohl die mit der Organisierten Kriminalität verbundene Gewalt vergleichsweise gering ist, versuchen kriminelle Akteure auch hier, öffentliche Institutionen zu unterwandern. Insgesamt sind die Institutionen und Gesellschaften der OECD-Staaten jedoch widerstandsfähiger. Die akute Gefährdung von Rechtsstaat und Sicherheit mag hierzulande noch vergleichsweise begrenzt sein – dennoch gibt es fünf gute Gründe, das Problem jetzt anzugehen:

Erstens verschleiert das moderate relative Wachstum das flotte Wachstum des absoluten Umsatzes der Organisierten Kriminalität. Das Missverhältnis der Ressourcen der Organisierten Kriminalität auf der einen und den akut betroffenen Staaten mit schwachen Institutionen auf der anderen Seite nimmt zu. Das erhöht die Gefahr auch für deutsche und europäische Institutionen. Dies bedeutet zweitens, dass eine ganze Reihe von Staaten aus eigener Kraft bald nicht mehr in der Lage sein wird, ihre Institutionen zu stärken und die Akteure der Organisierten Kriminalität zurückzudrängen.

Drittens ist selbst in Ländern mit theoretisch für den Kampf gegen die Organisierte Kriminalität ausreichenden Ressourcen wie Mexiko, Kolumbien oder Venezuela nicht sicher, ob die politischen Eliten den notwendigen politischen Willen entwickeln können.

Viertens wird häufig übersehen, dass sich auch in Nachbarschaft zur Europäischen Union in einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Jugoslawiens kriminelle Akteure wichtiger öffentlicher Institutionen und Unternehmen bemächtigt haben. Wie der britische Journalist Misha Glenny in seinem Buch McMafia anschaulich analysiert, sind darunter auch Teile der Sicherheitskräfte.

Keine der üblichen Gegenstrategien funktioniert

Fünftens ist die Nachfrage nach illegalen Gütern und Dienstleistungen in den reichen Ländern die Hauptquelle der finanziellen Mittel. Diese befeuern die Gewalt und die Unterwanderung in den Produktions- und Transitländern. Das Problem liegt also zu einem großen Teil auch in unserer Verantwortung.

Was können wir in Deutschland und Europa also gegen die Organisierte Kriminalität tun? Zwei komplementäre Ansätze sind vonnöten: Ihre Einnahmen müssen reduziert und die Institutionen in den Ländern gestärkt werden, die mit der Bewältigung der Organisierten Kriminalität überfordert sind.

Um die Einnahmen zu reduzieren, wurden bislang drei Ansätze diskutiert und verfolgt: die Repression der Produktion und des Handels, die Repression der Nachfrage sowie die Unterbrechung der finanziellen Transfers und die Bekämpfung der Geldwäsche. Keine dieser Strategien hat bisher funktioniert. Werden Produktion und Handel bekämpft, sind die Leidtragenden zumeist nicht die Bosse und Finanziers, sondern die Bauern, Dealer und Kuriere. Zur Unterdrückung der Nachfrage müsste man wiederum die Konsumenten kriminalisieren und so die Gefängnisse überfüllen. Das ist weder sinnvoll noch praktikabel. In der Praxis setzt sich tendenziell die Entkriminalisierung des Konsums durch, was natürlich zur Folge hat, dass die Nachfrage bestehen bleibt. Schließlich ist die Bekämpfung der Geldwäsche ein beliebter und sinnvoller Politikvorschlag, aber auf diesem Gebiet bleibt es bisher hauptsächlich bei markigen Worten und Ankündigungen. Kein Zweifel: Es braucht weitere Ansätze, um die Ressourcen der Organisierten Kriminalität zu reduzieren.

Zeit für intelligente Marktregulierung

Eine vielversprechende Option ist es, einzelne, bisher illegale Teilmärkte durch Regulierung und staatliche Kontrolle neu zu ordnen und so der Organisierten Kriminalität die dortigen Profite zu entziehen. Im Kern geht es um die Frage, welche Aktivitäten so gravierende Konsequenzen für die betroffenen Individuen und Gesellschaften haben, dass sie mit Nachdruck verfolgt und bestraft werden sollten. Dies trifft mit Sicherheit auf Menschenhandel und Menschenschmuggel zu; sie verstoßen gegen elementare Menschenrechtsnormen. Es gilt jedoch nicht für die meisten heute illegalen Drogen. Die Grenzziehung zwischen legalen und illegalen Drogen sollte deshalb systematisch überprüft werden. Durch eine differenzierte Regulierung und staatliche Kontrolle der illegalen Drogen auf Pflanzenbasis ließe sich nach Schätzung lateinamerikanischer Fachleute mehr als die Hälfte des Umsatzes mit diesen Drogen der Organisierten Kriminalität entziehen. Das wären mehr als 150 Milliarden Dollar. Die Legalisierung und Regulierung des Konsums von Marihuana in Uruguay sowie in den ameri­kanischen Bundestaaten Colorado und Washington sind spannende Testfälle.

Allerdings erschweren schwache Institutionen in den Ursprungsländern der Drogen eine umfassende Regulierung. Vonnöten ist internationale Kooperation: Progressive europäische Kräfte sollten gemeinsam mit Partnern aus Lateinamerika die gegenwärtige Drogenpolitik auf den Prüfstand stellen. Ein fortschrittlicher Ansatz könnte die Regulierung ins Zentrum stellen und diese mit Strategien zur Stärkung des Rechtsstaates und der Demokratie verbinden.

Es wird aber immer auch Märkte geben, die aus übergeordneten Erwägungen nicht legalisiert, ja nicht einmal entkriminalisiert werden dürfen. Zu Ihrer Bekämpfung und strafrechtlichen Verfolgung braucht es einen funktionierenden, gut ausgestatteten Rechtsstaat. Gerade die internationale Zusammenarbeit in diesem Feld muss systematischer betrieben werden als bisher. Die Stärkung der Sicherheitsbehörden und Justizorgane durch weitreichende Reformen hierzulande und in den Produktions- und Transitländern der Organisierten Kriminalität ist dazu zwar unabdingbar, setzt aber eine demokratische Kontrolle durch Parlamente und Zivilgesellschaft voraus. Eine kurzfristige und einseitig sicherheitspolitisch motivierte „Ertüchtigung“ von Sicherheitsorganen hingegen greift zu kurz und kann sich sogar kontraproduktiv auswirken: Denn das einzige, was der Organisierten Kriminalität noch mehr in die Hände spielt als ein schwacher Sicherheitssektor, ist ein starker Sicherheitssektor, der durch Korruption und politische Verstrickung kompromittiert und für kriminelle Zwecke instrumentalisiert werden kann. Folglich muss im Kampf gegen Organisierte Kriminalität der Sicherheitssektor genauer in den Blick und in die Pflicht genommen werden, als manchem von uns vielleicht lieb ist.

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