Die Intelligenz des Marktes ist begrenzt

Wer Innovation will, darf nicht einfach nur an ein paar Stellschrauben drehen

Das Szenario ist noch im Gedächtnis: Der amerikanische Präsident gab eine Pressekonferenz, neben ihm, am stärksten beachtet, jener amerikanische Forscher, der mit großem technischen Aufwand die Sequentierung des menschlichen Genoms vorangetrieben hatte, Craig Venter. Die zu verkündende Nachricht war so gewaltig, dass es der englische Premierminister für geboten hielt, sich von einem Londoner Studio aus via Satellit zuschalten zu lassen. Es ging um eine grundstürzende Innovation des 21. Jahrhunderts, um einen ersten Schlüssel zum menschlichen Genom. Aber das Szenario könnte man sich ähnlich auch vorstellen, hätte ein Wissenschaftler einen Meilenstein in der Nanotechnik oder in der Teilchenphysik erreicht. Worum ging es eigentlich? Keiner der Beteiligten hätte sagen können, welche konkreten Folgen die Erschließung des Genoms haben wird, doch die Hoffnungen schäumten geradezu über, weltweit spekulierten die Medien über die Folgen. Es ging um das Neue selbst, die erahnten Möglichkeiten, es ging um die "Innovation" an sich.

Kaum ein Begriff wird so positiv verwendet wie jener der Innovation. Innovation steht nicht nur für das Neue, sondern auch für das Bessere, für Modernität und Dynamik. Zwar gibt es Stimmen, die den beschleunigten Wandel der Gesellschaft skeptisch sehen und auf die Risiken und Nebenwirkungen hinweisen. Die Kritik richtet sich aber nicht gegen den Begriff Innovation. Ihm scheinen positive Assoziationen vorbehalten zu sein. Innovation ist die Grundlage für den Wohlstand von morgen, sie ist die Basis für die künftige Teilhabe an den Produktionsprozessen. So verstanden, lässt sich Innovation aber leider nicht verordnen. Sie fällt auch nicht einfach so vom Himmel. Wer also organisiert wie das Neue? Hier beginnen nach medialen Gipfelerlebnissen die forschungspolitischen Mühen der Ebene.

Jedes System hat seine eigene Logik

Innovation bezieht sich nach allgemeinem Verständnis vor allem auf wissenschaftliche Entdeckungen und technologische Erfindungen, die in wirtschaftlich erfolgreichen Produkten münden. Diesem Begriff von Innovation kann man quantitative Kenndaten zuordnen, etwa die Zahl der Patentanmeldungen, die Zahl der Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften, die Investitionen in Forschung und Entwicklung und so weiter. Leider lassen sich aber nicht einfach ein paar Stellschrauben finden, an denen man nur drehen müsste, um die Innovationen zu fördern. Nachhaltige Innovation bezeichnet eine Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung im ganzen, erfasst die Politik selbst, die Wissenschaft, die Wirtschaft. Jedes dieser Systeme gehorcht seiner je eigenen Logik und kann nur unter Verlust seiner spezifischen Stärke den Kriterien anderer Systeme untergeordnet werden: Was in dem einen System eine Stärke ist, kann in einem anderen System eine Schwäche sein - und umgekehrt.

Drei Innovationssysteme beeinflussen einander auf sehr verschiedenartige Weisen: die Wissenschaft, die Wirtschaft und die Politik. Gerade die Übergänge, etwa der von der Wissenschaft zur Wirtschaft, sind für die Frage, wie innovationsfähig eine Gesellschaft insgesamt ist, von besonderer Bedeutung. Denn die Übergänge zwischen den recht eigenwilligen Systemen lassen sich am schwersten organisieren.

Die Wissenschaft richtet sich nach der Qualität neuer Erkenntnis aus. Je größer der Erkenntnissprung, je stärker alte Gewissheiten infrage gestellt werden, desto höher ist die wissenschaftliche Reputation des Forschers. Dabei spielen - jedenfalls im Bereich der Grundlagenforschung - weder die wirtschaftliche Verwertbarkeit, noch die politische Akzeptanz eine herausragende Rolle. Die eingangs erwähnte Pressekonferenz ließ deshalb auch unter Wissenschaftlern eher ein Stirnrunzeln zurück. Auch ist das Maß der aufgewendeten Mühe ein eher nachrangiges Kriterium, sofern nur die Erkenntnis solide abgesichert ist. Ein paar Seiten in den Annalen der Physik, die Einstein benötigte, um seine spezielle Relativitätstheorie darzustellen, wiegen in der Wissenschaftsgeschichte mehr als lebenslang bearbeitete Konvolute zu sehr speziellen Themen.

Der erfahrene Forscher hält sich zurück

Das Phänomen des Erkenntnissprungs ließ Thomas Kuhn den Begriff des Paradigmenwechsels in die Debatte einführen: Wissenschaft entwickelt sich nicht nur linear und in kleinen Schritten, obwohl sie dies in der überwiegenden Zeit tut, sondern manchmal eben auch sprunghaft. Was heißt das für die Frage der Innovation in der Wissenschaft? Weitreichende Innovation ist wegen der Sprunghaftigkeit ihres Auftretens oft nur schwer vorhersehbar. Erfahrene Wissenschaftler sind daher zumeist sehr zurückhaltend, wenn sie nach Prognosen über die Entwicklung ihres Fachs gefragt werden. Zum einen sind die Erkenntnissprünge nicht vorhersehbar, zum anderen kann es sein, dass scheinbar nahe Ziele durch neu auftretende Hindernisse wieder in weite Ferne rücken. Die Unvorhersagbarkeit ist auch der Grund dafür, dass das Delphi-Verfahren, welches die ungefähr absehbare Entwicklung in verschiedenen Wissenschaftszweigen und Technologiesparten ermitteln soll, eine komplexe, mindestens einmal rückgekoppelte Befragung von vielen Wissenschaftlern in jeder Disziplin vornimmt.

Wie weiß die Börse, ob das Neue gut ist?

Im System Wirtschaft wiederum verbinden sich mit Innovation zukünftige Gewinnerwartungen. Jene Art der Innovation, die gänzlich neue Märkte erschließt, hat gegenüber der inkrementellen Verbesserung bekannter Produkte eine größere wirtschaftliche Potenz. Weil das Gewicht des an den Börsen gehandelten Kapitals immer mehr zunimmt, gelten die Börsen als Seismografen für innovative Prozesse. Die innovativen Teile der Wirtschaft werden mit weit höheren Börsenwerten notiert als die weniger innovativen. Ein gutes Beispiel ist die besonders ausgeprägte Hausse der Technologiewerte in den vergangenen Jahren. Dass auch die Aussagekraft der Börsenwerte (und damit die Prognosefähigkeit der beobachtenden "Analysten") begrenzt ist, zeigt wiederum die abrupt einsetzende Baisse der jüngsten Zeit.

Für die wirtschaftliche Innovation sind wissenschaftliche Entdeckungen und technische Entwicklungen allerdings nicht die einzige Grundlage. Auch neue Produktionsverfahren können Innovationskraft haben. Ein besonders herausragendes Beispiel hierfür ist die Entwicklung der Fließbandproduktion von Automobilen durch Henry Ford. Die Technologie seines ersten Serienproduktes, der Tin Lizzy, war konventionell, die Art der Produktion keineswegs. Im System Politik ist es am schwierigsten, allgemeine Maßstäbe zur Beurteilung von Innovation festzustellen. Hier bieten sich fundamentale Werte an, solche die überparteilich sind und andere, die parteipolitisch begründet werden. Es gibt Werte, die über eine parteipolitische Ausrichtung hinaus weisen, wie sie etwa die Verfassung vorgibt. Dazu gehören die Menschenwürde, der Schutz des menschlichen Lebens und die Selbstbestimmung. Diese Werte werden in der Regel vorausgesetzt, aber, wie die Diskussionen um die Biotechnologien der vergangenen Monate gezeigt haben: Manchmal sind sie auch eine Rückversicherungsadresse.

Was aus den Grundwerten folgt

Aus den Grundwerten der Sozialdemokratie folgt, dass Innovation daraufhin geprüft werden muss, ob sie soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit in höherem Maße zu verwirklichen hilft. Innovation heißt hier, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt auch in Anbetracht des raschen Wandels der Gesellschaft, der weltweiten Verflechtung der Wirtschaft, der technologischen Herausforderungen bestmöglich gewahrt bleibt und die Wirtschaftskraft gestärkt wird. Dabei hat die Politik vor allem die wichtige Aufgabe, für die Entwicklung der Innovationssysteme Wissenschaft und Wirtschaft und ihr Zusammenwirken zu sorgen.

Ein Vorschlag, die politische Rahmensetzung für Innovationen zu verbessern, lautet recht einfach: So viel Markt wie möglich! Ist es nicht der Markt, der letztlich über Wohlstandswachstum entscheidet? Ist es nicht der Markt, an dem sich ablesen lässt, ob ein politisch verantwortetes Forschungsprogramm sich rentiert, ob das Geld hier "gut angelegt" ist?

Die Voraussetzungen des Zusammenspiels

Diese Argumente sind betörend einfach. Zu einfach. Denn wenn es richtig ist, dass Politik, Wissenschaft und Wirtschaft je eigenen Logiken gehorchen, dann ist eine Reduzierung des Problems auf die Logik der wirtschaftlichen Prozesse schlicht unterkomplex. Die Gefahr, das voraussetzungsreiche Zusammenspiel der verschiedenen Innovationssysteme nachhaltig zu stören, ist dann erheblich. Das bedeutet keineswegs, dass die Systeme voneinander nicht lernen können: So kann etwa die interne Organisation der Wissenschaftseinrichtungen eine starke Infusion des Wettbewerbsgedankens gut gebrauchen. Universitäten können sich durchaus als wirtschaftliche Subjekte wahrnehmen und für die mögliche Vermarktung ihrer Innovationen sorgen - etwa über ein ausgebautes Patentwesen. Das sind aber Maßnahmen, die in der internen Organisation partielle Veränderungen bedeuten, nicht aber die Angleichung an den Markt. Der Versuch hingegen, den Markt als einzige Steuerungsinstanz einzusetzen, blockiert Innovationspotential, denn auch der Markt ist nur von begrenzter Intelligenz.

Zurück zum Anfang: Was ist denn nun eigentlich passiert bei jener Pressekonferenz? Trat da ein Wissenschaftler an die Öffentlichkeit und verkündete eine wissenschaftliche Großtat? Oder präsentierte sich da ein genialer Unternehmer, um mit der Unterstützung des amerikanischen Präsidenten seine Geldgeber von der Richtigkeit ihrer Investition zu überzeugen? Die Aktienkurse seines Unternehmens Celera Genomics stiegen jedenfalls deutlich. Die Frage wird schwer zu entscheiden sein. Tatsächlich hat sich Craig Venter große Verdienste in der Erkundung des menschlichen Genoms erworben. Allerdings ist sein Ziel nicht in erster Linie, die scientific community zu unterrichten, sondern möglichst viele Patente zu erwirken.

Wie ist es nun um den Innovations-Dreitakter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik in Deutschland bestellt? Das politische System kennzeichnet gerade im Bereich der Forschungspolitik eine Mehrebenen-Struktur: Es gibt Zuständigkeiten auf Länderebene, auf Bundesebene und auf europäischer Ebene. Diese Verflechtung erhöht nicht gerade die Transparenz der Mittelzuweisungen. Es ist zu hoffen, dass etwa das sechste Forschungsrahmenprogramm der EU hält, was sein Entwurf verspricht: dass nämlich die europäische Förderung mehr auf die Grundlagenforschung konzentriert wird und auf diese Weise etwas Entflechtung schafft.

Auf nationaler Ebene hat die föderale deutsche Struktur die Eigenschaft, schnellen Veränderungsprozessen langsam zu folgen. Von Kritikern wird die Versäulung des deutschen Forschungssystems moniert, weil sie zu unübersichtlichen und unbeweglichen Förderstrukturen beitrage. Allerdings hat dieses System den Vorteil langfristiger Planungssicherheit für die Forschungsvorhaben, und es gewährleistet wissenschaftseigene Entscheidungsstrukturen. Die Methode der Projektsteuerung, welche die Bundesregierung gerade für die Grossforschungsinstitute favorisiert, weist einen Weg zwischen politischem Aktionismus und der Zuweisung von Forschungsmitteln allein nach institutionellen Förderungsschlüsseln. Die Evaluierung der Forschungseinrichtungen durch den Wissenschaftsrat hat das hohe Niveau der Forschung in den einzelnen Institutionen nachgewiesen.

Die Politik als Koordinationskatalysator

Bei der Bestandsaufnahme des Wissenschafts- und Forschungssystems in Deutschland ist zu bedenken, dass zwei Drittel der F&E-Investitionen im System der Wirtschaft getätigt werden. Der staatliche Anteil entfällt je zur Hälfte auf die Hochschulen und die Forschungsorganisationen. Die staatliche Verantwortung für den Forschungsprozess ist aber größer, als es der reale Anteil der Forschungsinvestitionen vermuten lässt. Grundlagenforschung mit hoher strategischer Bedeutung findet überwiegend in den staatlich finanzierten Forschungsinstituten statt. Entscheidend ist, ob es gelingt, die Synergien des verzweigten Forschungssystems zu erhöhen. Hier haben die angelsächsischen Länder einen strukturellen Vorteil, deren Forschung in höherem Maße in den universitären Standorten verdichtet ist.

Wissenschaftliche Innovation in den Natur- und Ingenieurwissenschaften hängt immer mehr ab von Investitionen in Forschungsgeräte. Also müssen die Wissenschaftler entweder höhere öffentliche Investitionen in die Forschung fordern oder die Kooperation mit der Wirtschaft suchen. Die Wirtschaft ihrerseits ist immer mehr davon abhängig, auf dem neuesten Wissensstand zu sein, um Produkt- und Prozessinnovationen verwirklichen zu können. Hier sucht sie ihrerseits vermehrt die Nähe zur Wissenschaft. Die Politik muss Katalysator dieser Kooperation sein.

Ist das schon alles? Wir müssen auch lernen

Das Bildungssystem in Deutschland hat einige strukturelle Mängel: Da ist der relativ niedrige Anteil der akademische Gebildeten. Der sprunghafte Anstieg des BAFöG-Fördervolumens durch die neue Reform machte noch einmal deutlich, welchen Defizite die staatlichen Anstrengungen, die Zahl der Studierenden zu erhöhen, in früheren Jahren hatten. Den Prognosen über die Entwicklung der Arbeitswelt folgend, darf man erwarten, dass der Bedarf an höherwertigen Ausbildungsgraden unvermindert steigt. Das heißt aber, dass jede Anstrengung unternommen werden muss, die akademische Ausbildung auszubauen. Der relative Anteil der Hochschulabschlüsse ist hierzulande im Vergleich zu den USA, aber auch zu europäischen Staaten wie Norwegen niedrig; er liegt deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Dabei sind die Hochschulen schon jetzt am Rande ihrer Kapazität. Priorität muss daher der Weg der Mittelerhöhung für Bildung und Forschung haben, den die Bundesregierung seit 1998 beschritten hat.

Darüber hinaus muss an vielen Stellen die Effizienz des Hochschulsystems auf den Prüfstand gestellt werden. Hierzu ist das Prinzip der Budgetierung, sind neue Leitungsstrukturen und erfolgsabhängige Mittelzuweisungen (abhängig etwa von der Zahl der Studierenden) ein erster Schritt. Dann müssen weitere Geldquellen erschlossen werden: etwa Joint Ventures mit der Wirtschaft, die Patentierung und Vermarktung von Erfindungen durch die Hochschulen (wie es die jetzt anstehende Änderung des Arbeitnehmererfindungsgesetzes vorsieht) und das vermehrte Engagement im Bereich der Weiterbildung. Die Einnahmen beispielsweise des MIT aus der Verwertung von Erfindungen und Entwicklungen sind erheblich. Studiengebühren für das grundständige, berufsvorbereitende Studium sind dagegen kaum ein Mittel, da sie der Erhöhung der Zahl der Studierenden entgegenstehen und effektiv zu wenig Ressourcen bewegen könnten.

Auch andere Orte der Bildung sind immer stärker in der Diskussion. So wird darüber nachgedacht, welchen Bildungsauftrag Kindergärten haben. Die Kinderpsychologie hat nachgewiesen, wie wichtig die ersten sechs Lebensjahre für die Lernfähigkeit des Menschen sind. Für die Grundschulen sind Modellversuche mit bilingualem Unterricht eingerichtet worden, Computer finden hier immer größere Verbreitung. Die weiterführenden Schulen werden durch berufsweltnahe Lerneinheiten angereichert, das Abitur soll schon nach zwölf Jahren zu erreichen sein. Für alle Schultypen werden immer stärker Ganztagsschulen gefordert.

Der Innovationsmotor Deutschland hat Stärken, die allerdings von Mängeln begleitet werden. Bundespolitische Initiativen wie die deutliche Erhöhung der Mittel für Bildung und Forschung, die Erhöhung der BAFöG-Zuweisungen um 50 Prozent oder die Dienstrechtreform sind Schritte, diese Mängel zu beheben. Hier kommt es auf Kontinuität an. Zukunftsweisend ist Innovationspolitik nur, wenn sie die Innovationspotentiale der einzelnen Bereiche steigert und zugleich ihr Zusammenspiel verbessert. Einfache und pauschale Ratschläge führen nicht weit. Der Versuch, die Effizienz in einem einzigen System kurzfristig zu erhöhen, gefährdet dieses langfristige Zusammenspiel von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Genau darauf aber kommt es an.

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