Die Gleichcheit, das Glück und der Wohlfahrtsstaat

Macht ein großzügiger und umfassender Wohlfahrtsstaat die Menschen glücklicher und zufriedener? Die Durchsicht aller verfügbaren empirischen Studien ergibt eine klare Antwort: ja, definitiv - und vor allem dort, wo zugleich die Korruption niedrig und das soziale Vertrauen hoch ausfällt. In Gesellschaften mit geringer Ungleichheit ist eben dies der Fall

Aufgrund einer wachsenden Zahl an Vergleichsstudien existiert mittlerweile eine Fülle von Daten, mit denen sich der Erfolg unterschiedlicher Gesellschaften ermitteln lässt. In repräsentativen Umfragen werden Menschen gefragt, ob und in welchem Maße sie mit ihrem Leben „glücklich“ oder „zufrieden“ sind. In der sozialwissenschaftlichen Literatur spricht man von „subjektivem Wohlbefinden“.    

Weil das subjektive Wohlbefinden sowohl zwischen als auch innerhalb von Staaten erheblich variiert, hat sich eine große, empiriegestützte Glücksforschungsindustrie entwickelt, die sogar ihre eigene internationale Zeitschrift hat. Natürlich ist die Liste der potenziellen Gründe dafür, dass Menschen sich unterschiedlich wohl fühlen, endlos lang. Empirische Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass es das subjektive Wohlbefinden steigert, wenn man verheiratet ist, Kinder hat, sich frei und gesund fühlt und religiösen Aktivitäten nachgeht. Auf der anderen Seite kann man sich leicht vorstellen, dass persönliche Sorgen, Langzeitarbeitslosigkeit, mentale Probleme, erfolglose Liebesbeziehungen und ähnliches die meisten Menschen unglücklicher machen.

Aus vielen guten Gründen kann die Politik auf diese individuelle Ebene keinen Einfluss nehmen – sie sollte es vielleicht auch gar nicht versuchen. So wurde argumentiert, der dominierende cultural mode eines Landes oder einer Region sei für das subjektive Wohlbefinden wichtiger als wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen oder Sozialreformen, wie sie das politische System hervorbringen kann (oder auch nicht). Dies dürfte die wichtigste Erklärung dafür sein, warum Lateinamerikaner ein höheres subjektives Wohlbefinden zu Protokoll geben, als es Indikatoren wie wirtschaftlicher Wohlstand, der Grad der Ungleichheit oder Kennzahlen der Volksgesundheit in ihren Ländern eigentlich vermuten lassen würden.

Politisch sind die Umfragen zum subjektiven Wohlbefinden nicht zuletzt deshalb interessant, weil schon ein erster Blick auf die Zahlen unerwartete Ergebnisse zu Tage fördert: So gibt es nicht nur – wie zu erwarten wäre – erhebliche Unterschiede zwischen den armen, undemokratischen Entwicklungsländern und den reichen, demokratischen Industriestaaten, sondern auch zwischen den Industrieländern. Nehmen wir Westeuropa als Beispiel. Man müsste ja annehmen, dass die Lebenszufriedenheit der Menschen in denjenigen Ländern besonders hoch ist, in denen ein wärmeres Klima herrscht, in denen die Sonne die längste Zeit des Jahres scheint, wo die familiären und sozialen Beziehungen eng sind (zumindest den herkömmlichen Stereotypen zufolge) und in die viele Europäer gern in den Urlaub fahren – also in Italien, Spanien oder Griechenland. Ebenso wäre zu erwarten, dass die (wieder den Stereotypen zufolge) kalten, sozial isolierten, individualistischen und bierernsten nordischen Staaten bei Glück und Lebenszufriedenheit schlecht abschneiden.

Das Gegenteil ist richtig. Laut dem jüngsten Eurobarometer vom September 2009 geben nur 8,6 Prozent der Menschen in den drei genannten südeuropäischen Ländern an, mit ihrem Leben „sehr zufrieden“ zu sein, in Dänemark, Schweden und Finnland beträgt der Durchschnitt bei dieser Frage 52 Prozent. Diese Unterschiede sind übrigens ziemlich stabil, seit das erste Eurobarometer im Jahr 1975 veröffentlicht wurde. Die vergleichende Sozialforschung steht vor einem Rätsel, schließlich handelt es sich allesamt um demokratische Staaten, die der Europäischen Union angehören, dem reichen industriellen Westen zuzuordnen sind und die als Wohlfahrtsstaaten gelten. Offensichtlich können wir bereits eine wichtige Schlussfolgerung ziehen, nämlich dass nicht alle, sondern nur manche Wohlfahrtsstaaten in der Lage sind, Glück zu produzieren.

Wohlfahrtsstaat und Wohlbefinden

 Anhand der Vergleichswerte zum subjektiven Wohlbefinden und Angaben darüber, wie generös oder umfassend die dazugehörigen Wohlfahrtsstaaten sind, lässt sich statistisch analysieren, ob und unter welchen Bedingungen beide Faktoren in Beziehung zueinander stehen. Einfach ausgedrückt: Macht ein generöserer und umfassenderer Wohlfahrtsstaat Menschen glücklicher und zufriedener? Eine Durchsicht der verfügbaren empirischen Forschungsarbeiten ergibt eine klare Antwort: ja, definitiv! In einer neuen Studie haben Alexander Pacek und Benjamin Radcliff die 18 am meisten entwickelten Länder der OECD miteinander verglichen. Sie haben dafür eine große Menge qualitativ hochwertiges Datenmaterial verwendet und zahlreiche Kontrollvariablen einbezogen (zum Beispiel Arbeitslosigkeit, das Ausmaß des sozialen Vertrauens, das Pro-Kopf-Einkommen, den Grad an Individualismus). Laut Pacek und Radcliff verifizieren die Zahlen „klar und eindeutig die Hypothese, dass der Wohlfahrtsstaat zum menschlichen Wohlbefinden beiträgt“. Ein Befund, den andere Studien mit ähnlicher Herangehensweise bestätigen.

Was im Norden anders ist

 In gewisser Weise ist dieses Ergebnis kontraintuitiv: Es entkräftet einen großen Teil der Kritik, die gegen den Wohlfahrtsstaat vorgebracht worden ist, nicht zuletzt aus den angelsächsischen Ländern. Die Vorwürfe sind vielfältig: Der Wohlfahrtsstaat schaffe eine Abhängigkeitskultur; er führe zu plumpen bürokratischen Eingriffen ins Privatleben und verletze die persönliche Integrität von Menschen; er sei schlecht für das Wirtschaftswachstum; er stigmatisiere die Armen; er verdränge Zivilgesellschaft und ehrenamtliches Engagement – um nur einige Kritiken zu nennen. Es steht also vieles, was öffentlich diskutiert wird, im Widerspruch zu den Erkenntnissen der empirischen Sozialforschung. Wenn ein Mehr an Wohlfahrtsstaat ein Mehr an Lebenszufriedenheit bedeutet, wieso galt dieser dann so lange als Sündenbock für alle möglichen gesellschaftlichen Übel?

Bei näherer Betrachtung der empirischen Studien zeigt sich, dass das durchschnittliche subjektive Wohlbefinden umso höher liegt, je generöser und umfassender der Wohlfahrtsstaat ist. Allerdings geht dieser Zusammenhang zu einem guten Teil auf die nordischen Staaten zurück. Das wirft mindestens zwei Fragen auf: Ist der Wohlfahrtsstaat in den nordischen Ländern qualitativ irgendwie anders beschaffen? Geben die Umfragen noch etwas anderes her, das mit diesen beiden Variablen – subjektives Wohlbefinden und Umfang des Wohlfahrtsstaates – in Zusammenhang steht?

Die Antwort auf beide Fragen lautet: Ja. Die nordischen Länder weisen nicht nur ungewöhnlich hohe Werte beim subjektiven Wohlbefinden auf. „Ausreißer“ sind sie auch bei zwei weiteren wichtigen Variablen, die die Einstellungen der Menschen zum Wohlfahrtsstaat betreffen: Erstens ist Korruption in diesen Ländern ein seltenes Phänomen. Zweitens ist das soziale Vertrauen (in Umfragen mit der Frage erhoben, ob die Leute „generell denken, dass man anderen Menschen vertrauen kann“) höher als in den meisten anderen Ländern. Genau an dieser Stelle gibt es einen Zusammenhang mit „Gleichheit“: Sowohl niedrige Korruption als auch hohes soziales Vertrauen sind kausal mit geringer Ungleichheit verbunden. «

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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