Die gelungene Verfassung

Die institutionelle Statik des deutschen Regierungssystems trägt auch nach 60 Jahren unverändert gut. Dennoch gibt es an manchen Stellen Renovierungsbedarf. Vor allem beim Thema der direkten Demokratie droht delegitimierender Dauerstreit

Als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens haben Verfassungen im Wesentlichen zwei Funktionen zu erfüllen. Einerseits schreiben sie " als Grundrechtscharta " die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat fest (einschließlich korrespondierender Staatspflichten oder -ziele), andererseits regeln sie " als Organisationsstatut " den institutionellen Aufbau des Staates. Von beiden Funktionen sei im Folgenden nur die letzte angesprochen.

Selbst wenn man sich nur auf die institutionellen Kernmerkmale des Regierungssystems beschränkt, gibt dies Stoff genug. Fünf solcher Merkmale lassen sich für die Bundesrepublik identifizieren: Erstens die durch das Verhältnis von Parlament, Regierung und Staatsoberhaupt konstituierte parlamentarische Regierungsform, zweitens das Wahlrecht, drittens der Föderalismus, viertens die Verfassungsgerichtsbarkeit und fünftens die direkte Demokratie.

Die direkte Demokratie war nicht vorgesehen

Die Merkmale zwei und fünf sind dabei mit Einschränkungen zu versehen. Das Wahlrecht ist nicht Teil der förmlichen Verfassung, sondern einfachgesetzlich geregelt und somit auch mit einfacher parlamentarischer Mehrheit veränderbar. Als Teil des Staatsorganisationsrechtes hat es freilich für die Funktionsweise des parlamentarischen Systems so große Bedeutung, dass es in einer institutionellen Betrachtung nicht ausgeklammert werden kann. Dies gilt zumal, wenn man die aktuellen Veränderungen der Parteienlandschaft berücksichtigt.

Für die direkte Demokratie gilt wiederum, dass sie im Grundgesetz, vom unwahrscheinlichen Fall der Länderneugliederung einmal abgesehen, gar nicht vorgesehen ist. Die Berücksichtigung erfolgt hier gleichsam ex negativo: Gefragt wird, ob die plebiszitäre Enthaltsamkeit auch heute noch angezeigt ist, oder ob nicht das Grundgesetz dem Vorbild der Länderverfassungen folgen sollte, die Volksbegehren und Volksentscheid mittlerweile ausnahmslos eingeführt haben.

"Kanzlerdemokratie"? Nicht unbedingt

Zu den gelungensten Schöpfungen des Grundgesetzes gehört zweifellos die parlamentarische Regierungsform. Die Verfassungsgeber haben die Lehren aus der Vergangenheit gezogen und sich aus guten Gründen gegen die Neuauflage eines Systems mit einem starken Präsidenten entschieden, das für die Weimarer Republik so verhängnisvoll war. In Deutschland wird das Staatsoberhaupt nicht direkt, sondern von einer Versammlung gewählt und bleibt, von wenigen Reservebefugnissen abgesehen, auf zeremoniell-notarielle Funktionen beschränkt. Diese Konstruktion hat sich ebenso bewährt wie die Stärkung der Position des Bundeskanzlers innerhalb der Regierung und gegenüber dem Parlament. Dies wurde besonders durch das neu eingeführte Konstruktive Misstrauensvotum in Artikel 67 des Grundgesetzes gewährleistet, das die Abberufung des Regierungschefs nur bei gleichzeitiger Wahl eines Nachfolgers gestattet.

Zugleich verfügt der Kanzler mit der Vertrauensfrage (Artikel 68) über die Möglichkeit, die eigenen Truppen zur Gefolgschaft zu zwingen oder eine vorgezogene Neuwahl herbeizuführen. Das Zusammenspiel dieser beiden institutionellen Vorkehrungen (an denen nicht gerüttelt werden sollte, auch nicht durch ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages nach dem Vorbild der Länderparlamente) trugen der Bonner Republik in der zeitgenössischen Publizistik schon bald den Ruf einer "Kanzlerdemokratie" ein. Dabei darf jedoch zweierlei nicht übersehen werden: Zum einen sorgt das Parteiensystem in Verbindung mit dem Verhältniswahlrecht dafür, dass im Regelfall Koalitionsregierungen gebildet werden müssen. Zum anderen erfolgte die Stärkung des Regierungschefs nicht auf Kosten der Kontrollrechte und Mitregierungsfunktionen des Deutschen Bundestages, die im internationalen Vergleich durchaus ansehnlich sind.

Aufstieg des Fraktionenparlaments

Kritik entzündet sich immer wieder an der starken Mediatisierung der Abgeordneten durch die Fraktionen, deren Befugnisse im parlamentarischen Betrieb sehr viel weiter reichen als diejenigen der einzelnen Parlamentarier. Die Herausbildung des Fraktionenparlaments kann allerdings nicht dem Grundgesetz angelastet werden. Sie ist vielmehr eine Folge der Entwicklung des Parteiensystems, das den Gegensatz zwischen den beiden großen Parteien im dualistischen Gegenüber von regierender Mehrheit und Opposition reproduzierte. Die Anpassung der rechtlichen Regelungen an den "neuen Dualismus" erfolgte nicht auf der Verfassungsebene, sondern darunter: im Parlamentsrecht, in den Geschäftsordnungen und Satzungen der Fraktionen. Der Verzicht auf eine entsprechende Normierung im Grundgesetz wurde gelegentlich bedauert, da damit dem Missverständnis Vorschub geleistet werde, die Verfassung halte an einem altliberalen Gewaltenteilungsmodell fest.

Große Koalitionen als Problem

Die Einführung von Oppositionsklauseln in einer Reihe von Länderverfassungen hat aber gezeigt, dass die Festschreibung des neuen Dualismus ihrerseits Probleme birgt, indem sie beispielsweise die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Minderheitsregierungen infrage stellt. Große Koalitionen wiederum mögen zwar verfassungsrechtlich unbedenklich sein; sie führen aber dazu, dass wesentliche parlamentarische Kontrollrechte der Opposition, die in der Geschäftsordnung geregelt sind, nicht mehr eingesetzt werden können. So benötigen zum Beispiel die Anstrengung eines Normenkontrollverfahrens vor dem Verfassungsgericht oder die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses die Unterstützung von mindestens einem Drittel der Abgeordneten. Diese Schwellen müssten im Interesse der Funktionsweise des parlamentarischen Systems herabgesetzt werden, wenn " wovon auszugehen ist " Große Koalitionen in Zukunft häufiger vorkommen.

Auch beim Wahlrecht hat sich die Grundstruktur eines modifizierten Verhältniswahlsystems mit Personenwahlkomponente und Sperrklausel bewährt. Forderungen nach einem Systemwechsel in Richtung Mehrheitswahl, wie sie infolge der Pluralisierung der Parteienlandschaft erhoben werden, sind deshalb fehl am Platz " auch in der gemäßigteren französischen Variante des absoluten Mehrheitswahlsystems, die Altbundespräsident Herzog vor kurzem erneut ins Spiel gebracht hat. Eine Wahlrechtsreform, die die kleinen Parteien dezimieren oder ganz zum Verschwinden bringen würde, wäre mit Blick auf die veränderten parteipolitischen Kräfteverhältnisse nicht legitimierbar. Außerdem würde sie der verfassungspolitischen Gewohnheit in diesem Lande widersprechen, solche Reformen tunlichst im Konsens vorzunehmen. Die Bundesrepublik hat sich hierin von der manipulativen Praxis anderer Länder (etwa Italiens und Frankreichs) bisher immer vorteilhaft unterschieden. Fraglich wäre auch, ob sich ein Mehrheitswahlsystem mit den föderalen Strukturen vertragen würde. Käme es zu ähnlichen Reformen in den Ländern, hätte das unweigerlich Konsequenzen für den Bundesrat, wo die Gegensätze zwischen Regierungsmehrheit und Opposition noch unvermittelter aufbrechen könnten als heute.

Die Zukunft der Überhangmandate

Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass beim Wahlrecht alles beim Alten bleiben muss. Mit dem Wechsel vom Vier- zum Fünf-Parteien-System werden zum Beispiel Überhangmandate wahrscheinlicher. Dies könnte zu einer Verzerrung der Verhältnisstimmenanteile bei der Mandatsvergabe führen, die unter Umständen sogar über den politischen Ausgang der Wahl entscheidet. In einem vor kurzem ergangenen Urteil hat das Bundesverfassungsgericht eine Änderung der bestehenden Regelungen angemahnt. Das geltende Zweistimmensystem, das die Entstehung von Überhangmandaten ermöglicht, wurde dabei nicht generell für verfassungswidrig erklärt. Die Richter wollten für die Zukunft aber ausschließen, dass zusätzliche Zweitstimmen für eine Partei zu Mandatsverlusten führen (negativer Stimmeffekt). Um jeglichen Verzerrungseffekt auszuschließen, wäre die konsequenteste Lösung sicher eine gänzliche Beseitigung beziehungsweise Verrechnung der Überhangmandate. Unglücklicherweise haben die Karlsruher Richter dem Gesetzgeber für die Reform eine Frist bis nach der Bundestagswahl gesetzt. Dies ärgert vor allem die SPD, für die sich die jetzige Regelung nachteilig auswirken könnte, wenn sie im September eine Reihe von bisher gehaltenen Wahlkreisen (vor allem im Westen der Republik) an die Union verliert.

Weiterer Korrekturbedarf, den zu befriedigen die Parteien sich aber schwer tun dürften, liegt im System der starren Listen bei den Zweitstimmen, das dem Wähler keinen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments gestattet. Dies erscheint angesichts der schwächer gewordenen Verankerung der Parteien in der Gesellschaft ebenso überholt wie die überkommenen Aufstellungsverfahren der Kandidaten im heutigen Delegiertensystem. Die Länder könnten hier bei den Reformbemühungen eine wichtige Vorreiterrolle spielen.

Der Föderalismus, das ungeliebte Kind

Nirgendwo ist die Verfassung häufiger angepasst und ergänzt worden als im Bereich der föderalen Ordnung. Auf ihn entfällt das Gros der mittlerweile rund 60 Änderungen des Grundgesetzes. Das gemäß Artikel 79 (3) mit Ewigkeitsrang versehene Bundesstaatsprinzip folgt der deutschen Verfassungstradition; gleichzeitig entsprach es einer Forderung der alliierten Siegermächte, deren eigene Vorstellungen sich dabei untereinander aber deutlich unterschieden. Obwohl mit dem Verschwinden Preußens von der Landkarte 1947 ein schwerer Geburtsfehler des Bundesstaates beseitigt war, sollte dieser den Deutschen auch später nicht ans Herz wachsen. Der Föderalismus bleibt ein wenig geliebtes und verstandenes Kind.

Die Schwierigkeiten können auf die Entstehungsgeschichte des Bundesstaates zurückgeführt werden. Die verspätete Nationalstaatsgründung ließ in Deutschland eine Sehnsucht nach Einheitlichkeit entstehen, die in den unitarischen Neigungen der Bundesbürger bis heute nachwirkt. Zugleich prägte sie " in Verbindung mit der versäumten Parlamentarisierung " die bis heute fortbestehenden Grundmerkmale des Systems: die funktionale Gewaltenverflechtung, die dem Zentralstaat das Gros der Gesetzgebungskompetenzen und die Gestaltungshoheit über die Steuern zuweist, während die Gliedstaaten im Gegenzug für die verwaltungsmäßige Durchführung der Bundesgesetze zu sorgen haben und ihnen dafür (sowie für die Wahrnehmung ihrer eigenen Gesetzgebungszuständigkeiten) ein bestimmter Teil am Steuerkuchen verfassungsmäßig zusteht; und das damit verbundene exekutivföderale Prinzip, wonach die Beteiligung der Länder an der Bundesgesetzgebung über deren Regierungen erfolgt (und nicht durch gewählte Abgeordnete).

Selbstfesselung durch Verflechtung

Gerade dies war im Parlamentarischen Rat durchaus umstritten. Dass sich das von den Unionsvertretern favorisierte Bundesratsprinzip anstelle des Senatsmodells durchsetzte, entsprach einem Kompromiss, der als Gegenleistung an die SPD einen Verzicht auf die volle gesetzgeberische Gleichstellung der Länderkammer mit dem Bundestag vorsah. Es ist nicht ohne Ironie, dass sich das Verfassungssystem dann später doch genau in diese Richtung entwickelte. Je stärker der Bund von den "konkurrierenden" Gesetzgebungsbefugnissen Gebrauch machte und je mehr er dabei auch die Durchführung der Gesetze seinem unitarisierenden Zugriff aussetzte, umso höher stieg der Anteil der Gesetze, die der Zustimmungspflicht des Bundesrates unterlagen.

Die Verfassungsreformen der ersten Großen Koalition, die zur Einführung der Gemeinschaftsaufgaben und des großen Steuerverbundes führten, sollten das Verflechtungssystem noch weiter perfektionieren. Tatsächlich mündeten sie jedoch in eine zunehmende Selbstfesselung der beiden staatlichen Ebenen, die unter Effizienz- wie Demokratiegesichtspunkten Probleme aufwarf. Während die am Goldenen Zügel des Bundes gehaltenen Länder kaum noch über eigene politische Gestaltungsmöglichkeiten verfügten, sah sich die Regierungsmehrheit im Bund immer häufiger mit der Situation konfrontiert, dass eine von der Opposition dominierte Länderkammer ihre Gesetzesvorhaben durchkreuzte. So wie Parteien die Bühne des Bundesrates benutzten, um mit Hilfe "ihrer" Länderregierungen bundespolitische Ziele durchzusetzen, so nutzten die Wähler die Gelegenheiten der Landtagswahlen, um die Bundesregierung während der laufenden Legislaturperiode kostengünstig abzumahnen. Die daraus resultierenden Blockierungstendenzen wurden von der Politikwissenschaft schon in den siebziger Jahren hellsichtig beschrieben.

Dürftige Föderalismusreformen

Dennoch dauerte es fast 30 Jahre, bis sich die politischen Akteure zu einer Reform des Systems durchringen konnten. Gemessen an den weit gespannten Erwartungen blieben deren Ergebnisse freilich enttäuschend. Die Länder erhielten nur wenige substanzielle Kompetenzen zurück, und der Anteil der zustimmungspflichten Gesetze konnte " wie erste Untersuchungen ergeben haben " nicht nennenswert gesenkt werden. Noch dürftiger fiel das Resultat der zweiten Reformkommission aus, die sich die Neuordnung der Finanzbeziehungen zum Ziel gesetzt hatte. Nicht nur, dass hier alle weitergehenden Ansätze einer Entflechtung (etwa bei den Steuern) von vornherein ausgeklammert wurden. Auch die als solche begrüßenswerte Verpflichtung auf eine Schuldenobergrenze hat den aus Sicht des Föderalismus fragwürdigen Effekt, dass sie Ländern den letzten verbliebenen Restposten bei der Einnahmengestaltung entwindet.

Ein schwer wiegendes Versäumnis der Föderalismusreformer, dessen Tragweite erst in jüngster Zeit offenkundig geworden ist, war der Verzicht auf eine Neuordnung der Abstimmungsregeln im Bundesrat. Solange sich ihre Anzahl in Grenzen hielt, stellten die Stimmenthaltungen der so genannten gemischten Koalitionen in der Länderkammer kein gravierendes Problem dar. Nachdem diese jedoch im Zuge der Pluralisierung des Parteiensystems inzwischen bei allen Koalitionskonstellationen den größten Block ausmachen und selbst die Große Koalition im Bundesrat über keine eigene Mehrheit mehr verfügt, wird der Druck auf die Ländervertreter, die Abstimmungsregeln zu ändern, zweifellos zunehmen. Die Lösung liegt allerdings nicht in der immer wieder " zuletzt von Innenminister Schäuble " geforderten relativen Mehrheit, die mit Blick auf das wahrscheinliche Überwiegen der Oppositionsstimmen gegenüber den Regierungsstimmen im Bundesrat sogar kontraproduktiv sein könnte. Stattdessen sollte man eine Umkehrung der Abstimmungsfrage (nach dem Vorbild der heutigen Einspruchsgesetze) vornehmen; dies würde die Enthaltungen zu faktischen "Pro-Stimmen" machen.

Die kleinen Münzen der Verfassungsrichter

Verständlich vor dem Hintergrund der Umstände, unter denen Hitler 1933 an die Macht gelangt war, wurde der Verfassungsstaatsgedanke von den Autoren des Grundgesetzes größer geschrieben als die Demokratie. Die Konsequenzen waren das ausgebaute System des Grundrechtsschutzes, das dem Organisationsteil in der Verfassung demonstrativ vorangestellt wurde, die Vorkehrungen zur Bestandssicherung der Verfassung (durch die "Ewigkeitsgarantie" des Artikel 79 und die Einrichtungen der "wehrhaften Demokratie") sowie die Schaffung eines mit weit reichenden Befugnissen ausgestatteten Verfassungsgerichts, das sich zum mächtigsten seiner Art in den westlichen Demokratien entwickeln sollte. Anders als der Föderalismus stellte die Verfassungsgerichtsbarkeit eine Neuschöpfung des Bonner Grundgesetzes dar, die sich auch in der institutionellen Konstruktion (etwa der Richterwahl) gut bewährt hat und aufgrund ihrer überparteilichen Natur unter den Bürgern " neben dem Bundespräsidenten " von allen Verfassungsorganen die größte Wertschätzung genießt.

Nicht die Befugnisse der Karlsruher Richter als solche, sondern die Art und Weise ihrer Wahrnehmung sind jedoch wiederholt in die Kritik geraten. Beklagt wurde und wird besonders die fehlende richterliche Selbstbeschränkung, die den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers über Gebühr beschneide. Schon 1978 mahnte der damalige Justizminister Hans-Jochen Vogel, das Bundesverfassungsgericht solle der Versuchung widerstehen, "die Verfassung in allzu kleine Münze umzuwechseln und bei Detailfragen mit dem Argument aufzutreten, dies und nichts anderes gebiete das Grundgesetz". Tatsächlich hat sich das Gericht bei vielen seiner Grundsatzentscheidungen nicht damit begnügt, die bestehende Gesetzeslage als verfassungswidrig zu verwerfen; es hat auch genaueste Vorgaben gemacht, wie denn ein verfassungskonformes Gesetz auszusehen habe und bis zu welchem Zeitpunkt es zu erlassen sei.

Ungebührliche Einmischung

Der Vorwurf der ungebührlichen Einmischung hat allerdings gleich eine doppelte Kehrseite. Zum einen verfügt das Gericht über keine Möglichkeiten, die gesetzliche Verwirklichung seiner Urteile zu erzwingen, es bleibt also auf den goodwill des Gesetzgebers angewiesen. Dass dieser goodwill nicht von vornherein unterstellt werden kann, lässt sich an zahlreichen Beispielen allein aus der jüngsten Zeit belegen (etwa der Familienpolitik oder des Steuerrechts). Zum anderen kann das Gericht nicht aus eigenem Antrieb tätig werden, sondern erst nach Anrufung. Der Missbrauchsvorwurf müsste sich dann im Grunde eher gegen diejenigen richten, die es ins Spiel bringen. Das kann zum Beispiel die parlamentarische Opposition sein, die der Regierung durch eine Normenkontrollklage eine Niederlage beibringen möchte. Oder die Regierung selbst hat ein Interesse, unpopuläre oder intern umstrittene Entscheidungen auf Karlsruhe abzuwälzen.

EU-Entscheidung in eigener Sache

Entscheidungen des Verfassungsgerichts wirken sich auf die Regierenden demnach in ähnlicher Weise entlastend aus wie Volksabstimmungen oder die Supranationalisierung von Entscheidungskompetenzen. Dem Gericht stehen vergleichbare Rückwälzungsstrategien dagegen nicht zur Verfügung. Auch von der Europäischen Integration ist es in seinen Handlungsmöglichkeiten sehr viel stärker betroffen als die Politik. Während die Regierungen für den Machtverlust, den die Verlagerung von Gesetzesmaterien auf die europäische Ebene bewirkt, dadurch entschädigt werden, dass sie selbst an den Entscheidungen der EU teilnehmen, ja deren eigentliche Träger sind, fehlt ein solcher Kompensationsmechanismus für die Verfassungsgerichtsbarkeit. Die größte Bedrohung des Karlsruher Gerichts geht heute also ausgerechnet vom Europäischen Gerichtshof aus, der über die Befugnis verfügt beziehungsweise diese für sich reklamiert, die Vereinbarkeit sogar des deutschen Verfassungsrechts mit EU-Recht zu prüfen. Das ausstehende Karlsruher Urteil zum Lissabon-Vertrag ist insofern auch eine Entscheidung des Gerichts in eigener Sache.

Bleibt als letzter Punkt die direkte Demokratie. Sowohl unter den Experten als auch unter den Politikern wird die grundsätzliche Abwehrhaltung, die gegenüber den Plebisziten lange Zeit bestand, heute nicht mehr geteilt. Nicht nur, dass über die prinzipielle Zulässigkeit der Volksabstimmungen unter den Verfassungsrechtlern weitgehend Konsens herrscht. Auch die These, dass direktdemokratische Elemente ein sinnvolles Mittel sein könnten, um die Schwächen der heutigen Parteiendemokratie auszugleichen, trifft auf wachsende Zustimmung.

Parlament versus Plebiszit

Dieser Funktion werden die Plebiszite indes nicht automatisch gerecht; maßgeblich ist vielmehr ihre Ausgestaltung. In Deutschland hat man sich auf Länderebene überall für die vermeintlich progressivste Variante der Direktdemokratie entschieden: die so genannte Volksgesetzgebung. Diese gibt den Bürgern die Möglichkeit, selbst Gesetze zu initiieren und sie nötigenfalls gegen den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers durchzusetzen. Das potenziell sehr weit reichende Instrument wird in der Praxis freilich durch allerhand Vorschriften eingeschränkt " seien es Themenausschlüsse, hohe Quoren oder das Recht des Parlaments, Volksbeschlüsse zu korrigieren. Deshalb ist es nur konsequent, wenn die Befürworter der Volksgesetzgebung für Verfahrenserleichterungen eintreten, um die Direktdemokratie tatsächlich anwendbar zu machen. Und die Volksgesetzgebung selbst gibt ihnen das Mittel an die Hand, um die Verbesserungen mit oder gegen den Willen der Regierenden durchzusetzen.

Wenn das Gesetzgebungsrecht des Volkes weiter ausgedehnt wird, bedarf es jedoch keiner großen Fantasie, um sich auszumalen, dass dann auch die Konflikte zwischen dem plebiszitären und dem parlamentarischen Gesetzgeber zunehmen werden. Fälle wie in Hamburg, wo die Regierung mehrere vom Volk beschlossene Gesetze wieder rückgängig gemacht hat, könnten dann genauso auf Bundesebene auftreten und zu einer Dauerauseinandersetzung um die Plebiszite führen. Auch die Frage, wie der Bundesrat in einem Volksgesetzgebungsverfahren angemessen beteiligt werden kann (was auf der Länderebene entfällt), konnte von den Befürwortern des Modells bisher nicht zufriedenstellend geklärt werden.

Das Problem liegt also in der Volksgesetzgebung als solcher. Deren Befürworter haben gewiss Recht, wenn sie den heutigen Zustand der Direktdemokatie als unehrlich kritisieren. Dürfen die Bürger über fast nichts abstimmen, sind die Quoren so hoch, dass erfolgreiche Volksentscheide kaum möglich sind und kann man sich noch nicht einmal auf die Verbindlichkeit der getroffenen Beschlüsse verlassen, dann wird nicht nur die Legitimität des Instruments selbst, sondern die der gesamten Parteiendemokratie untergraben.

Volksgesetzgebung als Risiko

Die andere " ebenso wichtige " Frage stellen die Befürworter allerdings nicht: Ist es denn überhaupt sinnvoll, den Bürgern ein so weit reichendes Demokratieversprechen zu geben? Hier bleiben erhebliche Zweifel angebracht. Ein Blick über den nationalen Tellerrand sollte den Befürwortern eigentlich zu denken geben. Er zeigt, dass ein so radikales Modell der Direktdemokratie in keinem anderen Land Europas verwirklicht ist. Selbst in der Schweiz gibt es die Volksinitiative bislang nur als Verfassungsinitiative. So steht die Vereinbarkeit der Volksgesetzgebung mit dem parlamentarischen System generell in Frage. Nur hat in der politischen Klasse auch unter den Skeptikern niemand den Mut, dieses Problem offen anzusprechen.

Warnung vor dem Dauerstreit

Dabei gäbe es durchaus Alternativen. Auch hier hilft ein Blick in die Schweiz, wo sich die Direktdemokratie im so genannten fakultativen Referendum konzentriert. Dabei tritt der Bürger nicht selber als Gesetzgeber in Aktion; stattdessen hat er die Möglichkeit, ein vom Parlament bereits beschlossenes Gesetz einer nochmaligen Abstimmung zu unterwerfen und es gegebenenfalls abzulehnen. Bei einem solchen Modell würde die Notwendigkeit, Ausschlussgegenstände festzulegen, ebenso entfallen wie das Problem der Verbindlichkeit. Auch wäre die Länderkammer weiter ordnungsgemäß beteiligt. Es müsste lediglich ein Quorum für die Einleitung des Verfahrens festgelegt werden, das " ohne allzu große Hürden aufzubauen " einem Missbrauch des Instruments entgegenwirkt.

Eine realistische Sicht auf die Systemverträglichkeit der Direktdemokratie ist notwendig, um die Debatte über eine plebiszitäre Ergänzung des Grundgesetzes aus der Sackgasse herauszuholen, in die sie durch das starre Festhalten des Verfassungsgebers an der Volksgesetzgebung geführt worden ist. Denn mit dieser dürften nicht nur alle Versuche, die Plebiszite auf Bundesebene einzuführen, zum Scheitern verurteilt sein. Es werden auch die Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung der Volksgesetzgebung in Ländern und Kommunen weitergehen und ein ständiges Hin und Her zwischen benutzerfreundlichen und restriktiven Reformbestrebungen auslösen. Einen solchen Streit um einen wesentlichen Teil seiner konstitutionellen Grundlagen kann sich auf Dauer kein Gemeinwesen leisten, ohne Schaden zu nehmen.

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