Die Evolution des Glaubens

Nicht Rückkehr, sondern Rückgang der Religion!

Nicht erst die jüngste Debatte um die Haltung des Papstes gegenüber der Pius-Bruderschaft hat die Frage nach der Definitions- und Sanktionsmacht in Glaubenssachen aufgeworfen. Diese Frage steht seit Jahrhunderten auf der kirchlichen Tagesordnung. Erinnern wir uns nur an den Abendmahlstreit anlässlich des 1. Ökumenischen Kirchentages in Berlin im Jahr 2003, nach mehr als 400 Jahren Trennung von Katholiken und Protestanten. Findet die Zugehörigkeit zur christlichen Religion seinen symbolischen Ausdruck doch in der Abendmahls- beziehungsweise Eucharistiefeier?

Auch der Theologe Gotthold Hasenhüttl nahm an der Veranstaltung teil; daraufhin wurde ihm das Priesteramt und kurze Zeit später die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen. Für den damaligen Kardinal Joseph Ratzinger war dieser Bruch mit katholischen Grundsätzen eine "Straftat". Ähnlich erging es dem Münsteraner Islamwissenschaftler Muhammad Sven Kalisch, der die Existenz Mohammeds hinterfragte. Islamische Verbände protestierten und forderten, Kalisch solle keine islamischen Religionslehrer mehr ausbilden dürfen.

In bayerischen Schulen wird um das Symbol des Kreuzes gekämpft, in verschiedenen Bundesländern steht das Kopftuch unter Indoktrinierungsverdacht, und in Berlin wütete erst unlängst ein Kampf um das Schulfach Religion. Dabei plädierten die einen für einen offenen Ethik-Unterricht, der sowohl Kenntnisse über das Christentum als auch über Atheismus und Agnostizismus vermitteln soll; die anderen wollten die freie Wahl zwischen Ethik- und Religionsunterricht wieder einführen. Für die Vertreter von "Pro Reli" ist das Wissen über Religion in einer Welt des Fanatismus ein Mittel der Befriedung: "Wer wenig weiß, neigt dazu, sich zu radikalisieren."

Wissen, auch über Gott, über das Gute und das Böse, war schon immer Macht, zumal in Zeiten, in denen dieses Herrschaft legitimierende Wissen nicht selten zu Gewalt und Krieg geführt hat. Das alles mag vordergründig sein und die gesellschaftliche Funktion von Religion unter Beweis stellen. Aber wo wohnt und wer ist Gott, in dessen Namen Menschen handeln? Gibt es den, die oder das überhaupt? Wer glaubt woran? Und woran wurde früher geglaubt? Steht der Glaube für ethische und religiöse Traditionen, die bei den Märchen beginnen, in denen das Gute und das Böse personifiziert und übertrieben werden, und bei den moralischen Inhalten der Religion enden, die uns die Religionsstifter und Gottes Stellvertreter auf Erden offenbaren? Rückkehr der Religionen hin, Kirchenaustritte her " sollte nicht die Antwort darauf eine Rolle spielen, wie man mit Glauben und Religion im öffentlichen Raum und in Erziehung und Schule umgeht? Wir wollen versuchen, eine Antwort zu geben.

Der Philosoph Ludwig Feuerbach, der vielleicht besser als jeder andere bis heute das "Wesen" der Religion erkannt und umrissen hat, bezeichnete Religion im Jahr 1841 in seinem Buch Das Wesen des Christentums als den Traum der Menschheit. Er sah die Religion als das kindliche Wesen der Menschheit, als Resultat kindlicher Fantasien und kindlichen Wunschdenkens: "In der Religion befreit sich der Mensch von den Schranken seines Lebens; hier lässt er fallen, was ihn drückt, hemmt, widerlich affiziert; Gott ist das von aller Widerlichkeit befreite Selbstgefühl des Menschen." Für Feuerbach waren Gott und die Götter Projektionen und Hilfsorgane des Menschen, die ihm dazu dienen, die Illusion von Glück und Erfolg herzustellen. Ähnlich wie viele Aufklärer stellte sich Feuerbach den antiken und mittelalterlichen Menschen als einen "Gemütsmenschen" vor, dessen Religion unmittelbarer Ausdruck seiner kindlichen Natur und seines infantilen Gefühlslebens sei. Der gebildete Mensch des beginnenden Industriezeitalters sei jedoch ein "Verstandesmensch" und unfähig, sich Illusionen und Fantasien so hemmungslos hinzugeben.

Daraus leiten wir die These ab, dass Religion keine Universalie der menschlichen Natur ist, sondern Ausdruck eines anthropologischen Entwicklungsstandes. Wenn das Ausmaß des religiösen Glaubensbekenntnisses der Menschen seit der Aufklärung von Generation zu Generation zurückgeht und mittlerweile ganz nahe daran ist, ganz auszusterben, dann hat das ebenso mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun wie mit dem geistigen Entwicklungsstand des Menschen. Religiösität, ob sie nun als Einstellung sozialisiert wird oder zur natürlichen Grundausstattung des Menschen gehört, entpuppt sich so als Bestandteil des kindlichen Entwicklungsniveaus des vormodernen Menschen.

Den Schlüssel zum Verständnis von Religion, so die hier vertretene These, bildet die entwicklungspsychologische Theorie der Religion. Sie stellt andere Theorien in den Schatten, denn die Entwicklungspsychologie erklärt aus einem Guss sowohl die starke und universale Religiosität der vormodernen Bevölkerungen als auch die sukzessive Ausbreitung anderer, laxer Formen religiösen Engagements, aber auch agnostischer und atheistischer Tendenzen in der Moderne.

Dass Menschen vormoderner Gesellschaften auf einem kindlichen Entwicklungsniveau im Wortsinne verharren, haben seit der Aufklärung viele Klassiker der Geistes- und Sozialwissenschaften aufgezeigt. Erst die von dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget begründete kulturvergleichende Psychologie hat den erforderlichen Nachweis erbracht, dass alle Erwachsenen, ganz gleich in welcher Kultur, die ersten beiden Stadien der psychisch-kognitiven Entwicklung erreichen, also das sensomotorische und das präoperationale Stadium. Das dritte Stadium der konkreten Operationen wird hingegen in einfachen Gesellschaften nicht mehr von allen Erwachsenen ausgebildet, sondern nur noch von einem kleineren Teil der Bevölkerung und in wenigen Wirklichkeitsbereichen. Das Stadium der adoleszenten Persönlichkeitsstufe, das der formalen Operationen, wird in vormodernen Gesellschaften kaum oder gar nicht erreicht. Dieses vierte Stadium ist durch die Entwicklung abstrakten, hypothetisch-deduktiven, kombinatorischen und systematischen Denkens gekennzeichnet. Ferner wird das magische, animistische und artifizialistische Weltbild durch ein empirisch-kausales und naturwissenschaftliches ersetzt. Und schließlich zeichnet sich das vierte Stadium durch die Evolution ausgebildeter Moralvorstellungen aus. In diesem Sinne kann man auch von einer Anhebung des anthropologischen Entwicklungsniveaus sprechen.

Von der Vollreligiosität zur Restreligiosität

Das bedeutet, dass Vollreligiosität im Sinne von Mircea Eliade und präformales Entwicklungsniveau zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, während Agnostizismus und Atheismus einen Teil der Denkentwicklung der höheren Stufen des formal-operationalen Denkens in der Moderne darstellen. Die so genannte Restreligiosität in modernen Bevölkerungsgruppen ist dann als Folge einer stellenweise noch schwachen Entwicklung des formal-operationalen Denkens zu verstehen.

Der Übergang von der Vollreligiosität zur Restreligiosität und zum Agnostizismus ist genauso wenig ein abrupter Übergang, der sich plötzlich vollzieht, wie die Transformation vom präformalen zum formal-operationalen Denken. Mit der Zunahme des formal-operationalen Denkens sowie der kritischen und logischen Denk- und Urteilsfunktionen begann die Abschwächung des religiösen Denkens und Kultus. Der Verstand ist immer weniger in der Lage, an ein Leben im Paradies oder in der Hölle zu glauben, an einen strafenden und belohnenden Gottvater, an Teufel, Engel und Heilige, an die reale Wirkkraft von Gebeten und Opfern, an göttliches Schicksal und Vorsehung, an Schutzmächte im Leben und an eine göttliche Ordnung, die sich auch diesseitig positiv auswirkt. Religion wird von kindlichen Funktionen des Gemüts, des Gefühls, des Verstandes und der Phantasie erzeugt und getragen.

Mithilfe der Volkskunde und der Religionssoziologie lässt sich zeigen, dass die Europäer vor 100 Jahren noch deutlich frömmer und abergläubischer waren als heute. Von Generation zu Generation zeigen die Messwerte eine Abnahme religiösen Glaubens und kultischer Praxis. Etwa 50 Prozent der Europäer glauben heute nicht mehr an einen Gott und ein Jenseits. Es stellt sich daher die Frage, wie stark der Glaube der anderen Hälfte wirklich noch ist " im Verhältnis zur Glaubensstärke der Großväter. In Umfagen sagen nur noch etwa 15 Prozent der Jugendlichen in Deutschland, dass "Gott für sie im Leben wichtig" sei.

Auch die im Vergleich mit Europäern oder Japanern stärkere Religiosität der Nordamerikaner ist kein Einwand gegen das Argument, dass moderne Gesellschaften insgesamt weniger religiös sind als Menschen vormoderner Kulturen. Trotz der zunehmenden Bedeutung von Kreationisten und einiger anderer Sekten ist das religiöse Erleben der Nordamerikaner ebenfalls nur eine Schwundversion der "archaischen Vollreligion", wie Mircea Eliade von der Universität Chicago betont, der bedeutendste Religionswissenschaftler der vergangenen Jahrzehnte. Eliade spricht mit Blick auf alle modernen Kulturen vom Ende der Religion.

Auch in Amerika ist die Religion auf dem Rückzug

Schon Max Weber erklärte die lebendigere Religiosität in den Vereinigten Staaten mit der Vergemeinschaftung der Amerikaner, die ihren Glauben in protestantischen Sekten praktizierten und die Gemeindekultur mit Religion verquickten. Die sprichwörtliche Religiosität der Amerikaner ist das Erbe ihrer Gründerväter, die mehrheitlich als protestantische Einwanderer aus Europa kamen. Die meisten Amerikaner sehen den amerikanischen Traum "untrennbar verbunden" mit dem religiösen Erbe, gingen doch die puritanischen Pilgerväter von der Idee des auserwählten Volkes Gottes aus. Sie duldeten keine Einmischung des Staates, was zur strikten Trennung von Kirche und Staat führte. Beispielsweise wäre eine staatlich eingezogene Kirchensteuer wie in Deutschland in Amerika noch heute undenkbar. Schon den Pilgervätern ging es nicht darum, den Staat vor der Religion zu schützen, wie das für Europa gilt, sondern die Religion vor dem Staat.

Genau deshalb ist es in Amerika auch selbstverständlicher, über Glauben und Religion zu reden. In Europa hingegen kam es zu einer Privatisierung der Religiosität und einer Eventisierung der Religion in Gestalt von Kirchentagen, Weltjugendtagen und Papstbesuchen. Der Glaube mutierte zum verwalteten Glauben, der nicht ernst genommen wird " ganz im Gegensatz zum Islam. Der neue Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, meint denn auch, die Kirche müsse sich ein Beispiel an Amerika nehmen und in der Gesellschaft missionieren. In Wirklichkeit hat der Rückgang des religiösen Erlebens aber eben auch die Vereinigten Staaten nicht ausgespart, wie sich etwa im Bundesstaat Utah feststellen lässt, wo es immer weniger Mormonen gibt, oder bei der American Academy of Sciences, deren Mitglieder sich nur noch zu sieben Prozent als religiös bezeichnen. Auch im amerikanischen Alltag ist die schwindende Bedeutung des Tischgebets, des Kirchgangs und des Gemeindepfarrers nicht zu übersehen.

Selbst in den Entwicklungsländern erodiert die Religiosität. In Stammesgesellschaften sowie in antiken und mittelalterlichen Hochkulturen ist die jeweilige Bevölkerung dagegen zutiefst religiös. "So gibt es kein Denken und kein Tun, das nicht religiös geprägt wäre. Der Atheismus ist dem Afrikaner völlig fremd", stellt der Afrikaforscher Innocent Oyibo fest. Nach Lucien Fébvre, dem französischen Mentalitäten-Historiker, ist in Europa "Atheismus im 16. Jahrhundert noch undenkbar" gewesen. Und Aaron Gurjewitsch, sein russisches Pendant, fügt mit Blick auf das Mittelalter hinzu: "Ein vorgefasster und konsequenter Unglaube war ausgeschlossen."

Mit anderen Worten, die Entsprechung von präformalem, kindlichem Entwicklungsniveau und Vollreligiosität einerseits und elaborierten formalen Operationen und Restreligiosität, Agnostizismus und Atheismus andererseits verifiziert nicht nur die Religionstheorie von Feuerbach. Sie zeigt auch, dass die Entwicklungspsychologie der Schlüssel zum Verständnis von Wesen, Natur und Geschichte der Religion ist.
Alle Religionen manifestieren sich in Götterlegenden, die die Geschichte und die Taten Gottes auf mythische Weise erzählen. Laut Wilhelm Wundt, dem Gründervater der akademischen Psychologie, sind die meisten Göttermythen reine Märchen, während die Göttersagen in der Hauptsache dem Märchen verwandt bleiben und sich nur durch gelegentliche Orts- und Zeitangaben unterscheiden. Das Hauptkennzeichen der Märchen und Sagen ist die Rolle des Zaubers, des Zauberhelden und die Außerkraftsetzung der Gesetze der Physik. Insofern sind Märchen und Sagen dem Traum verwandt und entstammen ihm sogar teilweise. Gott und Göttin zeigen ihre Macht, indem sie Wunder vollbringen, auf überraschende Weise handeln und die Welt in einen magischen Garten verwandeln. Auch in den Legenden von Zeus, Jahwe, Jesus, Krishna, Wotan und Buddha treten die Protagonisten als Zauberer in Erscheinung, ganz ähnlich den Helden in anderen Typen von Volksmärchen.

Wenn Bohnen sprechen und Tiere erklären, was zu tun ist

Märchenforschern wie Wilhelm Wundt, Franz Riklin und Friedrich von der Leyen fiel auf, dass Märchen einerseits dem Traum entsprechen, andererseits aber auch der Wachwirklichkeit von Kindern und den meisten Erwachsenen vorindustrieller Gesellschaften, nicht nur von Stammeskulturen. Ein einfaches Denken bildet die Wurzel dieser Gemeinsamkeiten zwischen Traum und Märchen, Kind und "Primitivem". Metamorphosen, Magie und Außerkraftsetzung der Gesetze der Physik sind auch Merkmale des Traumgeschehens. Dass Götter sich in Tiere oder Menschen sich in Steine, Pflanzen oder Tiere verwandeln, Menschen und Götter zaubern können, ein Wunder jederzeit möglich ist " das glauben die Erwachsenen vormoderner und Kinder moderner Kulturen auch in der Wachwirklichkeit!

Menschen vormoderner Kulturen hielten in ihrer Alltagswelt und Wachwirklichkeit genau die Dinge für gegeben, von denen auch die Märchen berichten. Einige Beispiele: Australische Ureinwohner führten Krankheit darauf zurück, dass jemand die Nieren gestohlen und den Hohlraum mit Gras zugestopft hat; auch glaubten sie, dass die Toten sich in Steine, Berge, Flüsse und Sterne verwandeln: Die Lex Salica brummte menschenfressenden Hexen 8.000 Pfennige Strafe auf; rund um den Globus wurde geglaubt, dass sich Menschen in Raubtiere verwandeln können und das Kommen des Frühjahrs nur durch magische Riten zu gewährleisten ist; der Seelenwanderungsglaube (Tier- und Objektverwandlungen) war ebenso verwurzelt. Kinder und vormoderne Erwachsene erleben die Wirklichkeit märchenhaft und die Märchen als Berichte über Wirklichkeiten. So wie in den Märchen Bohnen sprechen und Tiere den Menschen erklären, was zu tun sei, so wurden im europäischen Mittelalter Raupen und Schweine vor Gericht zitiert, um ihnen wegen begangener Missetaten den Prozess zu machen.

Dass Erwachsene vorindustrieller Gesellschaften in gleicher Weise wie Kinder von Märchen, nicht nur von Göttermärchen, fasziniert sind, ist immer wieder bewiesen worden. So hat Hans Dieckmann in den sechziger Jahren erwachsene Marokkaner im Rif-Gebirge beobachtet, die sich regelmäßig Märchen erzählten. Ihm zufolge war "das Märchen noch immer ein bewusster, lebendiger Anteil" für das Fantasieleben dieser Menschen. Bei genauerem Hinschauen besteht auch die Genesis des Alten Testaments aus Märchen und Legenden, wie Heinrich Krauss, Friedrich von der Leyen und Wilhelm Wundt anschaulich belegen. Bis ins 18. Jahrhundert wurde jedoch die Genesis, wie alle anderen Teile der Bibel, als Tatsachenbericht gewertet. Der Heilige Augustinus, Thomas von Aquin und Martin Luther schrieben ernsthafte Traktate über die Länge der Pausen, die Gott bei der Erschaffung der Tiere eingelegt haben musste und wie Menschen wohl technisch Sex gehabt hätten, wenn sie nicht aus dem Paradies vertrieben worden wären. Auch dass Gott die Menschen aus Lehm formt, ist rund um den Globus geglaubt worden. Gebärfreudige Frauen aus einigen Gegenden Afrikas stellen bis heute einen Eimer Wasser neben ihr Bett, damit Gott nachts in ihrem Körper aus Lehm ein Baby formen kann.

Die Genesis als naives Märchen

Kindliche Leichtgläubigkeit ist die Voraussetzung dafür, die Genesis als Tatsachenbericht zu werten, in dem von Jahwe die Rede ist, der, vom Tagwind berührt, durch den Garten Eden schreitet und streng auf die Schlange und Adam einredet. Die Entwicklung formal-operationaler, also rationaler, kritischer und logischer Denk- und Verstandesfunktionen macht es unmöglich, die Genesis anders als ein naives Märchen zu deuten.

Während Erwachsene vorindustrieller Kulturen ihr Leben lang von Märchen fasziniert sind und an sie glauben, verstehen in der Gegenwartsgesellschaft Kinder zwischen dem vierten und dem achten Lebensjahr Märchen als reale Schilderungen, wie Psychologen wie Bruno Bettelheim und Karl Bühler vor Jahrzehnten festgestellt haben. Genau wie der vormoderne Mensch versteht auch das heutige Kind noch nichts von den Naturgesetzen und hält Wunder, Verwandlungen, Zauberer, Gespenster und Hexen für Phänomene, die in der Nachbarschaft, im Dunkeln oder im Keller geschehen. Die Entwicklung der Denkfunktionen und des Wirklichkeitsverständnisses macht es dem modernen Teenager unmöglich, sich noch nach dem zehnten Lebensjahr für Märchen zu interessieren. Umso mehr beginnt er, sich für Robinsonaden und später für Romane zu begeistern.

Alle Religionen stellen ihre Götter in Märchen und Legenden vor. Der vormoderne Mensch glaubt an seine Götter nur deshalb, weil er an Märchen glaubt. Kindliche Märchenpsyche und Gottglaube sind daher zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Vormoderne Menschen glauben an Geister, an die Götter der Natur, der Ahnen und des Himmels und an den Kosmos als Gott. Im Mittelpunkt steht dabei der Glaube an Ahnengötter und den Himmelsgott " Phänomene, die in jeder vormodernen Kultur vorkommen. In Australien, im indianischen Amerika, in China, Japan, Indien und Afrika sowie im Mittelmeerraum hatte der Kern des Gottesglaubens mit den Ahnengöttern zu tun. Sie spielten in Gebeten und Kulthandlungen immer eine größere Rolle als andere Götter. Den Ahnengöttern wurden dieselben Funktionen übertragen wie den Hoch- und Himmelsgöttern, so dass diese in "mystischer Partizipation" mit jenen standen. Wie dem Himmelsgott wurde den Ahnengöttern die Erschaffung und Steuerung der Welt zugeschrieben. Sie wurden angebetet, und ihnen zu Ehren wurden Opfer dargebracht. Denn man hoffte, von ihnen nach dem Tod in den Himmel aufgenommen zu werden.

Unter Ahnengöttern verstand man ganz konkret die toten Eltern, Groß- und Urgroßeltern. Man spürte ihre Präsenz im Alltag und fühlte sich von ihnen abhängig. Die regelmäßigen Kultopfer, die oft täglichen Speise- und Trankopfer, sind nichts anderes als die materielle Versorgung der toten Vorfahren, von denen man glaubte, sie seien auch als materiell-immaterielle Geister weiter auf Nahrungsmittel angewiesen. So wie die Alten von den Kindern versorgt wurden, als sie noch lebten, so erhielten auch sie nach ihrem Tod Speise und Trank.

Man kann verstorbene Eltern und Vorfahren nur dann als Götter verehren, wenn man sie auch schon zu Lebzeiten als Götter verehrt hat. Viele 40-jährige Afrikaner und Australier fürchten daher die Magie ihrer 60-jährigen Eltern (und der Älteren) und verehren sie. Der Ahnenkult zeigt also, dass der Götterglaube auf die Beziehungen zwischen den Generationen sowie auf die Liebe des Kindes zu seinen Eltern und die Furcht vor ihnen zurückgeht. Der vormoderne Mensch pflegt seine pietätische Haltung gegenüber seinen Eltern ein Leben lang, und nur auf dieser Grundlage konnte sich der Toten- und Ahnenkult als Kern des Götterkults seit der Altsteinzeit bis in die jüngste Vergangenheit halten. Plötzlich sieht man, wie auch der Glaube an Himmels- und Ressortgötter aus dieser Quelle entstanden ist.

Der französische Kinderpsychologe Pierre Bovet hat schon in den fünfziger Jahren überzeugend dargelegt, dass Liebe und Furcht die beiden Grundhaltungen des Kindes gegenüber seinen Eltern sind. Das Kind glaubt zunächst an die Allmacht, Allwissenheit und Güte seiner Eltern. Es glaubt an ihre Machtmagie über Natur und Wirklichkeit. Das Kind traut seinen Eltern genau die Fähigkeiten zu, die es auch Gott zuschreibt. Nach dem sechsten Lebensjahr beginnen die Kinder der modernen Kultur jedoch an der Vollkommenheit ihrer Eltern zu zweifeln und übertragen diese Einstellung auch auf den Himmelsgott. Der vormoderne Mensch entwickelt jedoch die erste Skepsis kaum oder gar nicht; er verehrt seine Eltern und Vorfahren ein Leben lang. Im Grunde basieren die Pietätshaltung gegenüber Eltern und Großeltern und damit der Toten- und Ahnenkult, folglich auch die Religion insgesamt, auf der ausbleibenden Entwicklung der ersten skeptischen Krise und der lebenslangen Existenz der kindlichen Psyche und Mentalität.

Die Götter sind die Mittel!

Der vormoderne Mensch kann also auf Elternpersonen " ob es sich um Ahnen oder um Gottvater (oder die Gottesmutter) selbst handelt " sein Leben lang nicht verzichten. Er benötigt entweder reale oder imaginäre Elternfiguren, die ihn durch das Leben steuern, und bleibt damit sein Leben lang ein "Kind", das seine Eltern oder seinen Gott liebt und fürchtet und auf deren Beistand hofft. So führt auch der Weg der Kindespietät nach konfuzianischer Tradition den Menschen zu seinen Eltern und zu Gott, wie Roman Malek mit Blick auf die religiöse Tradition Chinas argumentiert: "Wer aus kindlicher Pietät lebt und die Sorge für das Wohlergehen der Eltern als die höchste Pflicht im Leben ansieht, wird die kindliche Verehrung besser verstehen, die man dem himmlischen Vater schuldet." Denn die Götter sind es, die den Kosmos tragen.

Indem der Mensch sie durch seine Opfer am Leben erhält, ist er jedoch die Ursache für die Existenz des Kosmos. Die Götter sind die Mittel, mit denen der Mensch den Kosmos ermöglicht. Der Mensch selbst ist aber der Zweck, die letzte Ursache. Die Götter sind die Mittel!

Kinder der Moderne glauben bis zum neunten Lebensjahr, dass Eltern (und Ältere) den Kosmos geschaffen haben und ihn regieren. Zunächst verstehen Kinder Natur und Wirklichkeit als verlängerten Arm der Eltern: So wie die Eltern Haushalt und Familie für die Kinder organisieren, so kontrollieren sie auch die gesamte Wirklichkeit. Aus ihrer Sicht beherrschen die Eltern die Natur, um ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. So entpuppen sich Eltern und Kosmos als nützliche, auf das Kind bezogene Funktionen, wie auch Piaget und Bovet argumentieren.

Wenn der vormoderne Mensch von seinen Ahnen gutes Wetter, Kriegsglück, Ernteerfolg, Kindersegen und Gesundheit erbittet, glaubt er genau wie das Kind der Moderne im Alter bis zum neunten Lebensjahr, dass die Ahnen (die Eltern) nicht nur den Haushalt, sondern den ganzen Kosmos kontrollieren. Studien über den Ahnenkult offenbaren, dass die Chinesen, Inder und Afrikaner genau diesen Kinderglauben bis ins 20. Jahrhundert hinein im buchstäblichen Sinne kultiviert haben. So stellen Klaus Müller und andere in ihrem Band Soul of Africa fest: "Hat man Sorgen oder ist gar in Not geraten, wendet man sich an die Ahnen in dem sicheren Vertrauen, dass sie helfen werden. Nicht selten erscheinen sie dann auch den Ihren im Traum, raten und erteilen ihnen den einen oder anderen hilfreichen Hinweis und warnen vor Gefahren. Generell gelten die Ahnen als wohlwollend, besorgt und hilfsbereit. Sie nehmen lebhaften Anteil an den Geschicken der Ihren, beobachten das Geschehen auf Erden genau, um jederzeit helfend, korrigierend oder, wenn es sein muss, auch strafend einzugreifen."

Der Himmel als ganz realer Ort

In diesem Sinne hat Gott nicht nur den Kosmos erschaffen und hält ihn aufrecht, sondern er regelt auch sämtliche Ereignisse und Abläufe. Letztlich gehen jeder Sonnenschein und Wind, jede Jahreszeit und jeder Krieg, jedes tägliche Geschehen und jedes Ereignis auf ihn zurück. Gott belohnt und bestraft seine Kinder, indem er ihnen angenehme oder unangenehme Dinge schickt. So werden empirische Ereignisse als mystische Belohnungen oder Bestrafungen erfahren. So wie das artige Kind von seinen Eltern Bonbons bekommt und das unartige ohne Essen ins Bett geschickt wird, so erfährt der vormoderne Mensch sein ganzes Leben als eine von den Göttern gefertigte Fügung, indem jedes Unglück als Strafe und jedes Glück als Belohnung gesehen und empfunden wird.

Kinder im Alter bis zum zehnten Lebensjahr haben noch nicht die abstrakte Denkfähigkeit, um den Tod als das Ende der Existenz begreifen zu können. Es gelingt ihnen nicht, sich eine Welt vorzustellen, in der sie selbst nicht mehr da sind. Ihr Denken ist noch sinnlich-konkret, egozentrisch und kann ein Ende der eigenen Bewusstseinstätigkeit nicht verstehen. Erst das formal-operationale Denken verfügt über die logischen Bezugssysteme, die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung und zur Reflexivität, sich das zeitliche Ende des eigenen Bewusstseins und der eigenen Person im wahrsten Sinne des Wortes ausdenken zu können.

Wenn das Kind mit dem physischen Ende von Tier und Mensch konfrontiert wird, dann sieht es den Tod als einen Übergang in eine andere Lebensform. Es glaubt an Seelenwanderung, an Reinkarnation und an ein Leben an einem anderen Ort. Kinder begreifen den Himmel als einen ganz realen Ort, der nicht weit entfernt ist und an dem sich die Menschen aufhalten und betätigen. Himmel und Hölle werden nicht als Symbole und Metaphern verstanden, sondern als konkrete Räume, in denen sich konkrete Menschen bewegen. Der Realismus der Jenseitsvorstellungen korrespondiert mit dem sinnlich-konkreten Denkniveau der Kinder, die noch nicht das formal-operationale Denken erreicht haben.

Bis zum Einsatz des formal-operationalen Denkens dominieren illusionäre Fantasien, Wunschdenken und Märchenpsyche. Das Kind glaubt sofort, dass Seelen und Engel mit dem Gottvater auf Wolken sitzen, Lieder singen, Harfe spielen, Weintrauben essen, weiße Kleider und Goldschmuck tragen. Sie haben echte und Schweiß treibende Angst davor, im Falle einer Verurteilung in Kesseln zu braten, vom Teufel gepeitscht oder zerfleischt zu werden und auf ewig an einem elenden Ort verharren zu müssen.

Die vormoderne Menschheit weist in gleicher Weise die Merkmale des Glaubens an den Tod und das Jenseits auf, die man in unserer Kultur nur noch bei Kindern findet. Daher malten sich Jäger, Bauern und Philosophen ein für sie vorgesehenes pralles und vergnügliches Leben im Jenseits aus, während sie sich für ihre Feinde einen Aufenthalt im Feuertopf oder im Schwefelbad ersannen. Die Seelen reinkarnieren sich in Nachfahren, Tieren oder Bäumen, fliegen zur Sonne oder zu den Sternen, ruhen und schlafen in den Gräbern, um wieder aufzuerstehen, leben auf Inseln, schmoren in der Hölle oder vereinigen sich mit ihren Vorfahren und mit Gott im Himmel. Die Himmels- und Höllenvorstellungen sind genauso konkret gemeint wie bei den Kindern; sie werden wortwörtlich verstanden.

Was folgt aus alledem? Die Entwicklungspsychologie kann die zentralen Ideen und Praktiken der Religionen aus den Wurzeln erklären. Hingegen geben die heutigen Religionswissenschaften, die sich damit begnügen, Religion aus der Sinnsuche, aus dem Bedürfnis nach Sicherheit, Transzendenz, Ordnung, Herrschaft oder Kommunikation zu erklären, keine analytische, sondern nur eine deskriptive Orientierung. Die Religionssoziologie, für die Religion ein "soziales Phänomen" ist, bietet keine Konzepte zur Dekodierung von religiösen Lehren und Riten an. Sie macht einen Bogen um das, was Religion zuallererst ausmacht, nämlich Lehre, Idee, Ritus, Kult und Glaubenspraxis.

Selbstverstümmelung, Menschenopfer, Kannibalismus

Wer die Rolle der Religion in der Gegenwartsgesellschaft verstehen will, muss zuerst ihr Wesen erkennen. Die Entwicklung der Religion ist zweifellos ein Indikator für den Entwicklungsstand des gesellschaftlichen Bewusstseins und des Kulturlebens. Die Formen der Religion in den archaischen Gesellschaften, der enorme Aufwand an Zeit, Kapital und Engagement, der der Religion und des Glaubens wegen getrieben wurde, belegt nicht nur die stärkere Frömmigkeit und die größere Nähe zur Gewalt dieser Gesellschaften. So schildert der französische Soziologe Emile Durkheim anschaulich die Begräbnisriten der australischen Ureinwohner. Sie verloren häufig die Impulskontrolle, so dass sich zu dem beklagten Todesfall weitere Tötungen gesellten, auch unter nahen Verwandten. In den alten Kulturen ist Religiosität häufig mit Selbstverstümmelung, Menschenopfern und Kannibalismus verbunden. Schon die antiken Kulturen sind fanatisch gegen Abweichler und Ketzer vorgegangen, nicht nur das christliche und islamische Mittelalter.

Es gilt, Religion und Religiosität aus den Grundlagen der geistigen und kulturellen Entwicklung zu erklären, um ihre Rolle in Gesellschaft und Geschichte richtig einschätzen zu können. Die dargelegte Argumentationskette belegt und verdeutlicht den Rückgang und nicht die Wiederkehr der Religionen, von der immer wieder die Rede ist. Dass Glauben und Religion heute vermehrt eventisiert werden, die Religiosität sich aber ins Private zurückzieht, ist dafür ein ebenso schlagender Beweis.

zurück zur Person