Die erste Stortingswahl nach Utøya

Die Norweger haben ihre von Jens Stoltenbergs Arbeiterpartei geführte Regierung abgewählt. Gesiegt hat ein bürgerlich-populistisches Bündnis. Doch die Sozialdemokraten und Stoltenberg, der Held der Wochen nach Utøya, sind nicht am Ende

Nach acht Jahren rot-grüner Regierung unter Führung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei brachte die norwegische Stortingswahl vom 9. September den seit vielen Monaten prognostizierten Machtwechsel. Ein Mitte-rechts-Bündnis steht kurz vor der Regierungsübernahme: Erna Solberg, die Parteivorsitzende der Konservativen (Høyre), versucht derzeit, eine Regierung zu bilden gemeinsam mit der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, der Christlichen Volkspartei und den Liberalen. Die Fortschrittspartei würde mit ihrer erstmaligen Regierungsbeteiligung endgültig zu einem anerkannten Akteur innerhalb der norwegischen Parteiendemokratie aufsteigen.

Die erste landesweite Parlamentswahl nach den Anschlägen auf das Regierungsviertel in Oslo und den Massenmorden auf der Insel Utøya wirft dabei einige Fragen auf, die im krisengeschüttelten europäischen Ausland für Verwunderung sorgen: Warum haben die Norweger die rot-grüne Regierung trotz guter Wirtschaftsdaten und hohen Haushaltsüberschüssen abgewählt? Warum spielte das Massaker von Utøya im Wahlkampf keine Rolle mehr, gerade im Hinblick auf das Abschneiden der Fortschrittspartei, bei deren Jugendverband der Attentäter bis vor wenigen Jahren Mitglied gewesen war?

Auf der linken Seite ist die sozialdemokratische Arbeiterpartei der große Verlierer der Wahl. Sie verlor 4,5 Prozentpunkte und kam auf 30,8 Prozent der abgegebenen Stimmen. Überdurchschnittlich starke Verluste musste die Partei vor allem in einigen Hochburgen hinnehmen, wo die Konservativen deutliche Zugewinne verbuchen konnten. Diese haben mit einem Gesamtergebnis von 26,8 Prozent annähernd zehn Prozentpunkte dazugewonnen und sind der eindeutige Gewinner der Wahl. Die Fortschrittspartei, die bei der letzten Wahl noch mit fast 23 Prozent stärkste Partei im Mitte-Rechts-Block geworden war, verlor fast sieben Prozentpunkte und kommt nur noch auf 16 Prozent. Viele ihrer ehemaligen Wähler wechselten zu den Konservativen. Die kleinen Mittelparteien des bürgerlichen Spektrums, Christdemokraten und Liberale, konnten sich in ihren Bastionen gut behaupten und kamen daher sicher über die Vier-Prozent-Hürde.

Für die kleineren Parteien des linken Lagers und Bündnispartner der Arbeiterpartei wurde die Wahl jedoch zu einer Zitterpartie. Die Sozialistische Linkspartei schaffte mit ihrem jungen Vorsitzenden Audun Lysbakken den knappen Wiedereinzug ins Storting. Sie verlor über zwei Prozentpunkte und kam auf 4,1 Prozent. Die bäuerliche Zentrumspartei – das grüne Element im Farbenspektrum der norwegischen Parteiendemokratie – kam auf 5,5 Prozent und musste leichte Verluste hinnehmen.

Wie ist der Machtwechsel in Norwegen auf Basis der Ergebnisse zu interpretieren? Drei Erklärungen bieten sich an. Erstens haben die Konservativen in Norwegen, ähnlich wie bereits die Schwesterpartei in Schweden, seit einigen Jahren ihren Kurs dezidiert in die Mitte des politischen Spektrums gerichtet und ihre Steuersenkungsrhetorik zugunsten einer wohlfahrtsstaatsfreundlicheren Agenda zurückgestellt. Die ständige Argumentation mit harten, ökonomischen Fakten und das so entstandene Image einer „kalten Zahlenpartei“ wurde durch ein menschlicheres Bild ersetzt. Die Konservativen in Norwegen redeten im Wahlkampf mehr über Wohlfahrt und Infrastruktur als über Steuern und forderten die Sozialdemokraten damit auf ihrem ureigenen Politikfeld heraus.

Wird das reiche Norwegen mental zu einer Firma?

Die Erfolgsstrategie hat gute Gründe: Noch immer gibt es lange Wartelisten für Operationen, die Krankenhäuser sind häufig überbelegt und die Infrastruktur ist in manchen Gegenden schlecht ausgebaut. Und das trotz der hohen Investitionen der rot-grünen Regierung in diesen Bereichen. In Norwegen leben etwa fünf Millionen Menschen auf einer Fläche, die um einiges größer ist als Deutschland. Die gewaltige Nord-Süd-Ausdehnung des Landes stellt jede Regierung vor eine gewaltige Herausforderung: Sie hat allen Bürgern die gleiche wohlfahrtsstaatliche Grundversorgung zu sichern. Um eine vorindustrielle Siedlungsstruktur weiter aufrechtzuerhalten, fließen immer größere Summen in die Infrastruktur der ruralen Regionen.

Ein zweiter Punkt, der auch bei der Wahl 2013 wieder zum Tragen kam, hängt mit der mentalen Veränderung der Bevölkerung durch den Ölreichtum zusammen. Der bedeutende Schriftsteller Jan Kjærstad hat in einem Artikel in der Tageszeitung Aftenposten die Veränderung hin zu einem durch und durch ökonomischen Denken in Politik und Gesellschaft pointiert dargestellt. Die Alternative, ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der in der Nachkriegszeit in Norwegen dominiert habe, gehöre der Vergangenheit an. Das Land sei zu einer Firma geworden, in der Kommerz und Profit ethisches Denken abgelöst habe. Diese Tendenz habe zu einem „Verlust von Werten“ und „von kollektiven Zielen“ geführt.

Der Reichtum des Landes kann somit auch eine „Spirale der Unzufriedenheit“ erzeugen, wo der gestiegene wirtschaftliche Ertrag bei den Bürgern höhere Begehrlichkeiten gegenüber dem Staat erzeugt, die dieser gar nicht erfüllen kann. Auch können politische Alternativen zum Wachstums- und Profitdenken nicht mehr erfolgreich artikuliert werden. Der „Petropopulismus“ wurde in der Vergangenheit vor allem von der Fortschrittspartei angefacht, die mehr Gelder aus den Ölfonds für Infrastruktur und die Rente versprach. Damit werden schlechte Straßen und lange Wartezeiten in Krankenhäusern zu sinnbildlichen Fehlleistungen einer Regierung. Zudem ist Norwegen durch den Ölboom zu einem Hochlohnland geworden. Die Preise stiegen explosionsartig an. Der Journalist Sten Inge Jørgensen schrieb im Debattenorgan des internationalen Think Tanks Policy Network: „Während sie im Ausland wie Könige leben können, finden es die meisten Norweger zu teuer, in einem Restaurant in ihrer Nachbarschaft zu essen.“

Die Populisten gelten nun als gesellschaftsfähig

Die Konservativen haben ihre Strategie erfolgreich auf den Wunsch der Bürger nach einem höheren Reformtempo und einer Entlastung ausgerichtet, natürlich ohne einen Systemwechsel herbeiführen zu wollen. Sie warben mit Steuererleichterungen, mehr Wahlfreiheit im Wohlfahrtsbereich und einer konkurrenzfähigen Wirtschaft abseits der Ölbranche. Durch die geplante Teilprivatisierung von Staatsunternehmen wie Statoil oder Telenor sollen Milliarden in die Staatskasse fließen und neue Finanzierungsmöglichkeiten eröffnen.

Drittens kommt es im fragmentierten norwegischen Parteiensystem mehr denn je auf Bündnisfähigkeit und eine komplementäre Wähleransprache zwischen den Parteien im jeweiligen Lager an. Offenbar haben die Mitte-rechts-Parteien aus der Vergangenheit gelernt und schlossen daher vor der Wahl 2013 eine mögliche Vier-Parteien-Koalition nicht mehr kategorisch aus. Insbesondere Erna Solberg, die bei der Stortingswahl 2009 noch eine engere Kooperation mit der Fortschrittspartei abgelehnt hatte, sprach sich frühzeitig für einen Regierungsbeteiligung dieser Partei aus.

Der Erfolg des Mitte-rechts-Blocks ist aber nicht nur mit einer möglichen Bündnisoption im bürgerlichen Lager zu erklären, sondern auch mit den Wählerwanderungen innerhalb dieses Lagers. Obwohl die Fortschrittspartei kräftig Wähler verlor, konnten die Konservativen diese Stimmen – wie bei der Kommunalwahl vor gut zwei Jahren – größtenteils auffangen und weitere Wähler von der Arbeiterpartei hinzugewinnen. Christdemokraten und Liberale blieben mehrheitlich stabil.

Im rot-grünen Lager dagegen verloren nicht nur die Sozialdemokraten, sondern auch die Zentrumspartei und die Linkssozialisten deutlich an Stimmen. Die Verluste des großen Koalitionspartners in Gestalt der Arbeiterpartei vermochten die kleineren Partner im Regierungsblock nicht zu absorbieren. Im Gegenteil haben die Linkssozialisten seit der Wahl 2005, als sie erstmals Regierungsverantwortung übernahmen, mehr als die Hälfte ihrer Stimmen verloren. Nicht nur die Schwäche der Arbeiterpartei bei der Wahl 2013 hat den Machtwechsel herbeigeführt, sondern auch die Schwäche ihrer Koalitionspartner.

Die Anschläge vom 22. Juli 2011 spielten bei der Wahl im selben Jahr nur eine untergeordnete Rolle und schwangen lediglich beim Wahlkampfthema „Sicherheit“ mit, das vor allem von der rechtspopulistischen Fortschrittspartei eingebracht wurde. Die Partei hatte schon vor dem Massaker eine bessere finanzielle und materielle Ausstattung für die Polizei und die Sicherheitsbehörden gefordert. Latent kamen dabei auch die Versäumnisse des Krisenstabes während der Breivik-Attentate wieder aufs Tapet, die im Sommer 2012 in einem Bericht öffentlichkeitswirksam benannt wurden. Ministerpräsident Stoltenberg, der nach den Anschlägen die richtigen Worte fand und zum personifizierten Symbol der Versöhnung wurde, verlor durch die Offenlegung der Mängel des Krisenstabs nicht nur an Sympathiewerten, sondern musste auch führende sozialdemokratische Vertreter in Politik und Behörden entlassen. Nach dem anfänglichen Aufstieg der Arbeiterpartei in Umfragen auf Werte über 40 Prozent verlor die Partei wieder kräftig an Unterstützung. Die landesweiten Kommunalwahlen vom 12. September 2011, bei denen die Arbeiterpartei schließlich 31,7 Prozent erzielte und die Konservativen mit 28 Prozent knapp dahinter landeten, waren somit ein Vorbote des Gesamtergebnisses der Stortingswahl 2013.

Utøya sollte kein Thema mehr sein

Alle Parteien hatten im Vorfeld der diesjährigen Wahl signalisiert, die Anschläge und die Biografie des Täters Anders Behring Breivik in ihren Wahlkämpfen nicht zu thematisieren. Auch das Thema „Einwanderung“ stand bei dieser Wahl nicht weit oben auf der Agenda, auch nicht bei der Fortschrittspartei. In ihrer diesjährigen Wahlkampagne stand das Ziel der „Trygghet“ im Vordergrund, welches nicht nur Sicherheit der Bürger vor Kriminalität, sondern auch Geborgenheit im Sinne sozialer Sicherheit durch den Wohlfahrtsstaat bedeutet.

Eine direkte Verbindung von der Programmatik der Fortschrittspartei zu den Taten von Breivik, wie sie zahlreiche ausländische Kommentatoren zogen, können daher nur wenige Norweger nachvollziehen. Auch weil dieser vor seiner paranoiden Radikalisierung die Parteijugend wieder verlassen und sie selbst wohl als zu „systemnah“ betrachtet hatte. Doch einen gewaltigen Imageschaden hat die Fortschrittspartei seitdem trotzdem zu verarbeiten.

Die Fortschrittspartei in Norwegen orientiert sich ideologisch an der rechtsliberalen Venstre Dänemarks, die im südlichen Nachbarland zwischen 2001 und 2011 den Regierungschef stellte. In ihrem Programm bezeichnet sich die Fortschrittspartei als „liberalistische Volkspartei“, die auf das „westliche Kulturerbe“ und somit auf einem christlichen und humanistischen Weltbild aufbaut. Auch wenn es ideologische Anknüpfungspunkte gibt, ist sie weit weniger radikal als die Rechtspopulisten der Nachbarländer, die Dänische Volkspartei und die Schwedendemokraten.

Gewiss sind unter Wählern und Mitgliedern der Fortschrittspartei weiterhin xenophobe Vorstellungen vorhanden, in der offiziellen Parteiprogrammatik steht allerdings eine Mischung aus Wirtschaftsliberalismus und Sozialpopulismus deutlich im Vordergrund. Auch sprachlich setzt sie sich noch immer deutlich vom PR-Sprech der übrigen Parteien ab und sieht die gewöhnlichen Durchschnittsnorweger als ihre Zielgruppe an. Ihre Gegner sind die vermeintlichen urbanen, akademischen Machteliten, die nach ihrer Sicht vor allem die Arbeiterpartei dominieren. Die Fortschrittspartei, die einst als Steuerprotestpartei entstanden ist, vereint eine striktere Einwanderungspolitik mit Forderungen nach Steuersenkungen und der Begrenzung staatlicher Bürokratie. Zudem fordert sie als einzige Partei in Norwegen, dass mehr Gelder aus den Ölfonds in die überlasteten Krankenhäuser und in die Infrastruktur fließen. Insofern ist die Fortschrittspartei das „wilde“ Element im norwegischen Parteiensystem, das gegen die angebliche Konsenskultur aufbegehrt.

Vorwerfen kann man der Fortschrittspartei, dass sie für viele Jahre eine populistische Stimmung gegen die multikulturelle Gesellschaft angefacht und die größten Gefahren für Norwegens Sicherheit außerhalb der Landesgrenzen gesehen hat. Der Terrorist Breivik aber kam aus der bürgerlichen Mitte der norwegischen Gesellschaft. Insofern trägt die Fortschrittspartei immerhin eine Mitverantwortung an einem Klima der antiislamischen Stimmungsmache, in dem sich der Täter Breivik weiter radikalisiert hatte.

Die Frage bleibt, ob sich die norwegische politische Kultur mit der Aufnahme der Fortschrittspartei in eine Mitte-rechts-Regierung weiter in eine Richtung bewegt, in der eine rigide Einwanderungspolitik und ein wohlfahrtsstaatlicher Chauvinismus zum politischen und gesellschaftlichen Klima gehören. Anfang Oktober verständigten sich die Konservativen und die Fortschrittspartei auf eine Minderheitsregierung, die von Liberalen und Christdemokraten toleriert wird. Damit ist Erna Solberg mit der Bildung eines festen Vier-Parteien-Bündnisses vorerst gescheitert.

Wie geht es weiter mit der Arbeiterpartei? Es handelt sich um das zweitschlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte. Und dennoch sollte man sich vor Abgesang hüten. Denn bei der Wahl 2005, als die Partei wieder die Regierung übernahm, erreichte die Partei auch gerade einmal 32,7 Prozent der Stimmen, konnte aber auf zwei stärkere Bündnispartner zählen.

Auf die Bündnisfähigkeit kommt es an

Dies unterstreicht, wie wichtig auch künftig die sozialdemokratische Bündnisfähigkeit im norwegischen Parteiensystem ist. Die Sozialdemokraten sind perspektivisch nicht schlecht aufgestellt, da sie ebenfalls Partner in der bürgerlichen Mitte haben. Derzeit ist dies die bäuerliche Zentrumspartei, die im Mitte-rechts-Lager früher einmal viel stärker verankert war. Darüber hinaus haben es die Grünen zum ersten Mal geschafft, mit einem Kandidaten in das Parlament einzuziehen. Auch mit den Grünen, die im Vorfeld der Wahlen deutlich erklärt hatten, keinem der beiden Lager anzugehören, die allerdings überwiegend linksliberale Programmpunkte vertreten, bieten sich in der Zukunft eventuell Kooperationen an.

Jens Stoltenberg wird die sozialdemokratische Oppositionsfraktion im Storting führen und hat eine konstruktive Zusammenarbeit mit den anderen Parteien angekündigt. Die Stellung der Arbeiterpartei wird dadurch beeinflusst werden, ob es den Mitte-rechts-Parteien überhaupt gelingt, ein geschlossenes und einheitliches Bündnis zu schmieden. Gelingt im Mitte-rechts-Spektrum kein funktionsfähiges Bündnis, könnte die Arbeiterpartei vorzeitig wieder auf die Übernahme der Regierung hoffen.

Norwegen hat noch immer eine stark verankerte Sozialdemokratie, die sich erneuern kann. Das zeigte die Wiederannäherung an die Gewerkschaften und die Schärfung des Profils nach der Wahlniederlage 2001. Und wie besonnen und ausgleichend Jens Stoltenberg für die norwegische Demokratie und traumatisierte Nation nach dem Massaker von Utøya agierte, kann nicht genug gewürdigt werden. Gleichwohl besteht die besondere Herausforderung für die norwegische Arbeiterpartei darin, den „reformierten“ Konservativen von Erna Solberg eine glaubhafte und alternative Deutung entgegenzusetzen, die weiter auf Werte wie Solidarität und Gleichheit baut. Trotz der aktuellen Niederlage sind Jens Stoltenberg und seine Arbeiterpartei populär und stellen die stärkste Fraktion im Parlament. Stoltenberg sagte am Wahlabend: „Ich bin enttäuscht, aber nicht besiegt.“

zurück zur Ausgabe