Die Demokratie entlässt ihr Kind

Über Jahrzehnte wurden Demokratie und Wehrpflicht zusammen gedacht. Doch wo keine Feinde mehr mit Einmarsch drohen, fehlt für den erzwungenen Dienst an der Waffe die Rechtfertigung. Ein Plädoyer wider die Wehrpflicht

"Aux armes, citoyens!" Seit dieser Parole der französischen Revolution gehören Wehrpflicht und politische Partizipation ideengeschichtlich untrennbar zusammen. Doch schon seit 1919 - als Frauen in Deutschland das Wahlrecht gewährt wurde - ist diese Zwangsläufigkeit aufgehoben. Als schließlich im Januar 2000 der Europäische Gerichtshof entschied, dass zukünftig auch Frauen der freiwillige Dienst an der Waffe erlaubt sein müsse, hielt das politische Feuilleton die Abschaffung der Wehrpflicht nur noch für eine Frage der Zeit. Doch es kam anders. Trotz des EuGH-Entscheids, entgegen der Empfehlung der Weizsäcker-Kommission, die Bundeswehr zu verkleinern, und ungeachtet der Forderungen der Grünen nach Abschaffung der Wehrpflicht, gelangte das Thema nicht ernstlich auf die politische Agenda. Auch der Koalitionsvertrag blieb zu diesem Thema vage, da sich die Regierungsparteien offensichtlich nicht einigen konnten: Rot-Grün kneift.


Die Entscheidung über die Struktur unserer Streitkräfte ständig zu verschieben und stattdessen immer nur ein bisschen an ihr herumzudoktern, ist geradezu fahrlässig. Ursprünglich wurde die Bundeswehr unter den Bedingungen der Blockkonfrontation als ein großes stehendes Wehrpflichtigenheer konzipiert, dessen Ernstfall die große Panzerschlacht in der norddeutschen Tiefebene gewesen wäre. Doch nicht erst die Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan zeigen, dass unsere Streitkräfte inzwischen vor gänzlich anderen Herausforderungen stehen. Und an den Entscheidungen der vergangenen Legislaturperiode wird deutlich, dass Deutschland bereit ist, sich diesen Herausforderungen zu stellen.


Gleichzeitig setzt die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) auf eine verstärkte Integration der europäischen Armeen und verfolgt das Ziel, Europas militärische Schlagkraft zu erhöhen. Nimmt man diesen Anspruch ernst, bedeutet er, dass mittelfristig in Europa eine gemeinsame Armee installiert werden muss - die natürlich nur eine Berufsarmee sein kann. EU-Staaten wie Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und die Benelux-Länder haben bereits jetzt Berufsarmeen. Im Vergleich mit den Vereinigten Staaten muss die EU feststellen, dass ihre Mitglieder zwar etwa die Hälfte der amerikanischen Militärausgaben aufwenden, aber nur zehn Prozent der militärischen Leistungsfähigkeit erreichen. Europa wird hier seiner internationalen Bedeutung nicht gerecht.

Strukturwandel in Deutschland

Diese außenpolitischen Aspekte sind hinlänglich bekannt. Jedoch sollte die Frage nach der Wehrpflicht auch im Kontext der gegenwärtigen strukturellen Modernisierung im Inneren Deutschlands betrachtet werden. Die Bundesregierung hat ein Reformprogramm auf den Weg gebracht, das Deutschland erneuert. Die Gesundheits- und Rentenreform, die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sowie die Einführung von Ganztagsschulen werden unsere Gesellschaft verändern. Für alle diese Veränderungen gilt, dass sie das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft neu definieren. Insofern ist die Gelegenheit günstig, auch die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und ihrer Armee neu zu ordnen. Dabei müssen verfassungsrechtliche Aspekte, wirtschaftliche Rentabilität, militärische Leistungsfähigkeit und gesellschaftliche Werte berücksichtigt werden.


Verfassungsrechtlich ist eine allgemeine Dienstpflicht ebenso unzulässig wie nach internationalen, völkerrechtlich verbindlichen Konventionen. Allein die Aufgabe der Landesverteidigung rechtfertigt, dass junge Männer einen Pflichtdienst in der Armee leisten. Mit Ausnahme der Schweiz sind aber alle Nachbarländer Deutschlands mittlerweile Partner in Nato oder EU. Auf absehbare Zeit ist also nicht damit zu rechnen, dass eine fremde Armee deutsches Territorium angreift. Selbst wenn sich an dieser Situation etwas ändern sollte, könnte der Wiederaufbau der Befähigung zur Landesverteidigung - die so genannte Rekonstitution - innerhalb eines überschaubaren Zeitrahmens bei Bedarf durch die Wiedereinführung der Wehrpflicht erfolgen. In den Vereinigten Staaten beispielsweise ist die Wehrpflicht nicht gänzlich abgeschafft, sondern nur ausgesetzt.

Landesverteidigung am Hindukusch?

Auch der Verteidigungsminister bestätigt den grundlegende Wandel der Sicherheitslage in den Verteidi-gungspolitischen Richtlinien vom 21. Mai 2003, hält aber an der Wehrpflicht mit der Begründung fest, dass Wehrpflichtige bei Naturkatastrophen und anderen Unglücksfällen unersetzlich seien. Weiter argumentiert Peter Struck, die Landesverteidigung beginne bereits am Hindukusch. Sieht man einmal davon ab, dass diese Argumentation wie eine Hilfskonstruktion zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Wehrpflicht wirkt, stellt sich zusätzlich die Frage, ob Wehrpflichtige am Hindukusch überhaupt Strucks Postulat der "Wirksamkeit im Einsatz" genügen könnten. Einsätze wie im Rahmen von "Enduring Freedom" in Afghanistan werden von den hochspezialisierten Berufssoldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK) ausgeführt. Und auch bei der ISAF-Truppe in Kabul kommen keine Wehrpflichtigen zum Einsatz.

 

Mit 283.000 Soldaten ist die Bundeswehr zwar die größte, aber keineswegs die leistungsfähigste Armee der Europäischen Union. So sind beispielsweise permanent 100.000 Soldaten nicht einsetzbar, da sie entweder Grundwehrdienst leisten oder Rekruten ausbilden. Da verwundert es nicht, wenn 8.000 Soldaten im Auslandseinsatz die Armee schon an den Rand der Belastbarkeit bringen. Effizienz und Kosten stehen in keinem vernünftigen Verhältnis.


Die Abschaffung der Wehrpflicht in anderen Staaten hat gezeigt, dass der Verteidigungshaushalt dadurch nicht sinkt. Doch kommen bei einer Wehrpflichtigenarmee zum Verteidigungshaushalt noch weitere Kosten hinzu. Aufgrund der Tatsache, dass die Wehrpflichtigen keiner zivilen Erwerbstätigkeit nachgehen, entstehen Verzichtskosten. Doch nicht nur die Wehrpflichtigen, sondern die Gesellschaft insgesamt verzichtet auf eine höhere zivile Wertschöpfung. Diese indirekten Kosten würden durch die Abschaffung der Wehrpflicht komplett entfallen. Hinsichtlich der Frage nach der ökonomischen Rentabilität der Wehrpflicht muss also die gesamte Volkswirtschaft betrachtet werden.


Die Wehrpflicht ist ihrem Wesen nach eine Naturalsteuer, die Wehrpflichtige in Form von Ar-beitszeit an den Staat abführen. Diese Naturalsteuer ist mit den Grundsätzen sozialdemokratischer Steuerpolitik nicht vereinbar, da sie weder allgemein ist, noch die individuelle Leistungsfähigkeit berücksichtigt. Das öffentliche Gut äußere Sicherheit sollte, da alle Bürgerinnen und Bürger davon profitieren, komplett über das allgemeine Steuersystem finanziert werden.


Die wirtschaftlichen Argumente treffen natürlich auch auf den - von der Wehrpflicht abgeleiteten - Zivildienst zu. Hier kommt allerdings hinzu, dass der Staat durch die Zivildienstleistenden als Konkurrent auf dem Markt für soziale Dienstleistungen auftritt. Nach dem Zivildienstgesetz dürfen Zivildienstplätze nicht geschaffen werden, wenn sie einen bisherigen Arbeitsplatz ersetzen oder die Errichtung eines neuen verhindern. In der Praxis wird dieses Recht oft gebrochen. Durch die staatlich subventionierten Niedrigpreise wird die Entstehung neuer Arbeitsplätze verhindert, da private Anbieter nicht konkurrieren können. Der Zivildienst untergräbt folglich das marktwirtschaftliche Funktionieren der Produktion von sozialen Diensten und die unverzerrte Bewertung von sozialer Arbeit durch die Gesellschaft. Die weit verbreitete Argumentation, die Wehrpflicht müsse erhalten bleiben, damit es den Zivildienst weiter geben könne, ist daher ökonomisch absurd.


Es scheint, dass die wahren Gründe für die Beibehaltung der Wehrpflicht woanders liegen. Zum einen hätte die Bundeswehr ohne Wehrpflicht Probleme bei der Rekrutierung, wie die militärische Führung betont. Die Zeit- und Berufssoldaten der Bundeswehr werden überwiegend über den Grundwehrdienst angeworben. Eine Abschaffung der Wehrpflicht würde die Bundeswehr vor die Aufgabe stellen, ihre Attraktivität als Arbeitgeber zu erhöhen. Dies wäre aber durch interessante Ausbildungsmöglichkeiten und finanzielle Anreize zu lösen.

Besitzstandswahrung ist kein Argument

Zum anderen wird das Thema der Standorte und ihrer meist erheblichen Bedeutung für die regionale Wirtschaft von vielen Politikern verschwiegen. Man stelle sich vor, wie viele Landräte, Bürgermeister, Bundes- und Landtagsabgeordnete bei ihren Wählern für die Schließung von Kasernen, die gleichbedeutend mit Kaufkraftverlust ist, den Kopf hinhalten müssten. Auch wenn diese Haltung durchaus verständlich ist, handelt es sich doch um Besitzstandswahrung, die nicht im Interesse des Gemeinwohls ist.


Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Wehrpflicht ist auch deren Akzeptanz in der Gesellschaft. Der elfte Beirat für Fragen der Inneren Führung der Bundeswehr macht es sich zu einfach, wenn er in seinen Empfehlungen vom Juni dieses Jahres lapidar feststellt: "Die Wehrpflicht ist in der Gesellschaft weithin unumstritten." Denn Umfragen zeigen, dass die Gesellschaft in dieser Frage zunehmend gespalten ist. Eine Ursache dafür liegt sicher in der fehlenden Wehrgerechtigkeit. Da immer weniger Wehrpflichtige benötigt werden, gleicht die Frage, ob man einberufen wird oder nicht, einem Glückspiel. Werden die Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission, die Zahl der Wehrpflichtigen auf 30.000 zu reduzieren, in die Tat umgesetzt, wird sich diese Situation weiter verschärfen. Auch die Andersbehandlung von Männern und Frauen mit dem Hinweis, dass Frauen immer noch Arbeitszeit durch Schwanger- und Mutterschaft verlieren, widerspricht dem politischen Willen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen.

Es geht um Freiheit und Gerechtigkeit

Die Abschaffung der Wehrpflicht legitimiert sich also durch die Verfassung (die einen Pflichtdienst nur ausnahmsweise erlaubt), durch den Anspruch an Professionalität und Wirtschaftlichkeit, besonders aber durch einen Zugewinn an Gerechtigkeit und Freiheit für den Einzelnen. Insofern muss das Thema im Kontext der gegenwärtigen Programmdebatte der SPD diskutiert werden - auch weil mit der Abschaffung der Wehrpflicht ein schmerzhafter Abschied von Traditionen verbunden wäre. Die Sozialdemokratie fühlte sich der Wehrpflicht seit ihrer Gründungszeit verbunden. Das Gothaer Programm von 1875 forderte die allgemeine Wehrhaftigkeit ebenso selbstverständlich wie das aktuelle Grundsatzprogramm sie (noch) bejaht. Überhaupt stand die Wehrpflicht in Deutschland über Generationen als Symbol für Demokratie. Friedrich Engels rühmte sie als "die einzige demokratische Institution Preußens", und Theodor Heuss nannte sie 1949 das "legitime Kind der Demokratie". Inzwischen aber muss überprüft werden, ob dieses Symbol auch heute noch mit den demokratischen Werten der Freiheit und Gerechtigkeit vereinbar ist. Spätestens auf ihrem Parteitag 2005 wird die SPD dies für sich entscheiden müssen.

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