Die Debatte hat begonnen

In Deutschland ist es so: Die einen übersetzen Gerechtigkeit mit Gleichheit. Die anderen fordern "Freiheit statt Gleichheit" Beide Wege sind nicht zeitgemäß. Gerecht ist heute, was Menschen zur Teilhabe am Leben der Gesellschaft befähigt

"Wer die alten Ideologien verabschiedet, räumt das Gelände auf, auf dem dann neue Ideen wachsen können. Erst wer den Gedanken der materiellen Gleichheit mit allem Respekt entlässt, wird wieder frei, die Fragen nach Gerechtigkeit und Solidarität neu zu stellen. Irgendwann wird die Debatte wieder beginnen. Die geistige Lähmung der Konservativen, der intellektuelle Stillstand der Sozialdemokraten werden nicht ewig währen." (1)

Inzwischen ist es so weit. Die Debatte hat begonnen. Für viele überraschend hat der Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, die Akzente neu gesetzt. "Die Bedingungen für Gerechtigkeit verändern sich. Die Frage, wie eine Politik der Gerechtigkeit auszusehen habe, wurde im westlichen Nachkriegsdeutschland vor allem als Frage der gerechten Verteilung des Zuwachses an Wohlstand und Einkommen diskutiert - also als Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Diese Perspektive wird den aktuellen Herausforderungen so nicht mehr gerecht. Wir brauchen einen umfassenderen Begriff von Gerech-tigkeit. Gerecht ist, was Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es selbst gerne gestalten möchten."(2)


Selten zuvor hat der Generalsekretär einer Regierungspartei so sehr mit Tabus und Traditionen der eigenen Partei gebrochen. Es ist das Dilemma, aber auch die Chance der regierenden Sozialdemokratie, dass sie beides zugleich machen muss: den Sozialstaat reformieren - und begründen, warum sie was tut. Was jahre-, ja jahrzehntelang eine beliebte Praxis nicht nur in der SPD war (die einen kümmern sich um Programme, aber nicht um die Wirklichkeit; die anderen machen Politik, ohne sich von grundsätzlicheren Überlegungen stören zu lassen), das dürfte in Zukunft so nicht mehr aufgehen. Die Grundsatzdebatte kann nicht länger in luftigen Höhen stattfinden. Sie wird ständig durchkreuzt durch notwendige Sanierungsmaßnahmen, die sich dann in immer kürzeren Fristen als unzulänglich erweisen (Haushalt, Gesundheit, Rente). Das Dilemma der SPD besteht darin, dass sie beides zugleich tun muss. Die Chance für die SPD liegt darin, dass sie beides zugleich tun kann: verändern und die Werte und Ziele benennen, um derentwillen die alten Traditionen, Routinen und Strukturen nicht einfach weiter geführt werden können.

Die Ahnung einer besseren Zukunft

Erneuern, um zu bewahren - eigentlich nur so kann am Beginn des 21. Jahrhunderts die Maxime lauten, ganz unabhängig davon, wer gerade regiert. Es ist freilich offen, ob dies gelingt: ob eine Regierung, die Reformen wagt, sich durchsetzen kann angesichts der großen Zahl der Veto-Spieler; und wenn ja, ob sie dann auch Erfolg hat bei Wahlen. Sicher scheint hingegen, dass alles andere (also gar keine oder nur halbherzige Reformen und auch die bloß mit schlechtem Gewissen) alles nur schlimmer macht: die Lage des Landes und jene der SPD. Erfolg wird eine Politik, die vieles anders machen muss, nur haben, wenn sie dafür gute Gründe benennen kann, die über den Tag hinaus weisen, und wenn sie dies auch offen und selbstbewusst tut. Revisionen lassen sich leichter ertragen, wenn am Horizont nicht unbedingt gleich Visionen, aber doch Bilder oder wenigstens die Ahnung einer besseren Zukunft sichtbar werden.


Mit der Regierungserklärung vom 14. März 2003 (Agenda 2010) und mit der Rede von Olaf Scholz am 16. Juli 2003 haben Regierung und SPD offensichtlich die Strategie geändert und versuchen nicht mehr, die notwendigen Reformen gleichsam hinter dem Rücken der Partei in die Politik einzuschmuggeln, während auf der Vorderbühne die alten Girlanden neu drapiert werden. Beide Male geht es um ein Kernthema nicht nur der SPD: Was heißt und wie schafft man Gerechtigkeit in einer veränderten Welt? Was kann und was soll der Sozialstaat heute und morgen noch oder wieder (!) leisten? Die beiden Reden brachten einen Paradigmenwechsel in der deutschen Sozialpolitik und Sozialphilosophie. Nicht so sehr wegen dieser oder jener Ankündigung, sondern wegen der erstmaligen öffentlichen Aussage eines Bundeskanzlers, dass der real existierende Sozialstaat, so wie er geworden ist, eine der Ursachen ist für wirtschaftliche und soziale Fehlentwicklungen im Lande; wegen der klaren Ansage des Generalsekretärs der SPD, dass der traditionelle Ideenhaushalt der SPD nicht länger ausreicht, die Probleme des Landes erfolgreich anzugehen und dabei das, was der Partei wichtig und wertvoll ist, in einer veränderten Welt zu bewahren.

Werte im Wandel

Wer in Deutschland über Werte und Wandel oder gar über Werte im Wandel spricht, läuft Gefahr, nicht oder falsch verstanden zu werden. Das hat wenig mit böser Absicht zu tun und viel mit der deutschen Tradition. Zu eingewurzelt ist die Vorstellung, Werte seien wie der Tabernakel einer katholischen Kirche: immer da und unveränderlich, matt vielleicht vom Staub der Zeit, aber dann kann man sie ja blank polieren und wieder im alten Glanze präsentieren. In der Rhetorik der Werte gibt es erstaunliche Parallelen zwischen konservativen Sozial- und konservativen Christdemokraten. Dabei kennt die Geschichte viele Beispiele, wie Werte weiter entwickelt werden können und müssen. "Freiheit" etwa war und ist ein hoher Wert in der Ideengeschichte seit Aristoteles. Die Bürger der Polis waren ebenso glühende Anhänger der Idee der Freiheit wie später die amerikanischen Verfassungsväter. Dass Freiheit und Politik nur zusammen gedacht werden können, war für sie selbstverständlich. Ebenso aber hat es sich für sie von selbst verstanden, dass diese politische Freiheit für einige wenige reserviert blieb, während Frauen, Sklaven und andere nicht Bürger eines freien Gemeinwesens werden konnten. Im Laufe der Zeit hat sich mit der rechtsstaatlichen Demokratie ein umfassenderes Verständnis von Freiheit durchgesetzt und mit der Entwicklung zum Sozialstaat dann auch ein Gespür dafür, dass Freiheit nicht ohne bestimmte Voraussetzungen gelebt werden kann. Die Verhältnisse und das Bewusstsein haben sich geändert, nicht die Idee der Freiheit. Diese ist vielmehr stärker, moderner und wirkungsmächtiger aus der Entwicklung hervorgegangen, die übrigens keineswegs abgeschlossen ist, wie das Thema Migranten und Bürgerrechte rasch deutlich macht. Genau darum geht es nun auch bei dem Versuch, Gerechtigkeit neu zu denken. Die SPD ist dabei, sie von ihrer engen Bindung an die Gleichheit zu befreien und sie dafür an die Idee der Freiheit zu binden, deutlicher als dies je zuvor in der Geschichte der SPD geschehen ist: "Freiheit und Gerechtigkeit bedingen sich wechselseitig. Eine Politik, die Menschen dauerhaft in Abhängigkeit bringt, sie entmündigt oder ihnen ihre Selbstachtung nimmt, ist weder gerecht noch freiheitlich" (Scholz).


Damit ist eine Debatte eröffnet, die an anderen Orten schon seit Jahren und viel gründlicher geführt wird als hierzulande. Es ist vordergründig eine theoretische Debatte. Doch Theorien haben Folgen. Man darf voraussagen, dass die Entwicklung der beiden immer noch großen Parteien sich auch darin unterscheiden und daran entscheiden wird, ob und wie sie in Theorie und Praxis den mittleren Grund finden zwischen zwei falschen Alternativen, die in Deutschland immer die Diskurswelt beherrscht haben: Die einen haben Gerechtigkeit mit Gleichheit übersetzt und Gleichheit mit Umverteilung. Es ist diese Denk- und Politikschule, welcher der Kanzler, sein Generalsekretär sowie sein Superminister den Kampf angesagt haben. Andere tragen die Fahne "Freiheit statt Gleichheit" vor sich her, ohne zu fragen, was geschehen und verändert werden muss, damit in der heutigen Zeit möglichst viele Menschen möglichst gute Chancen haben, ihre möglichst vielen Freiheiten auch tatsächlich verwirklichen zu können. Gibt es einen mittleren, gemeinsamen Grund, auf dem sich Probleme, Wertorientierungen und Mehrheiten zusammenfinden können?

Revisionen oder: Eine neue Sicht der Dinge

Schon vor Jahren hat der amerikanische Publizist Mickey Kaus, der übrigens der Demokratischen Partei näher steht als den Republikanern, einen frischen Gedanken in diese Debatte gebracht.(3) Er schlägt vor, zwischen materieller Gleichheit ("material equality") und sozialer Gleichheit ("social equality") zu unterscheiden. Das eine Konzept thematisiert Geld, Einkommen und Vermögen, eben die klassische Umverteilungsfrage. Es begreift und beurteilt den Menschen und die Gesellschaft nach ihren ökonomischen Möglichkeiten. Das andere Konzept thematisiert den sozialen und politischen Status der Menschen: Bürgerrechte, Teilhabechancen, Mitwirkungsmöglichkeiten, Zugang zu Bildung und Arbeit, und es beurteilt eine Gesellschaft danach, wer ein- und wer ausgeschlossen ist. Das sind unterschiedliche Perspektiven, und entsprechend lassen sich unterschiedliche Leitbilder für die Politik formulieren.

Die Grenzen des sozialen Monetarismus

Für das eine Leitbild stehen die materiellen und die ökonomischen Fragen im Zentrum der Politik. Kaus spricht von einem Money Liberalism. Der Doppelsinn dieses Begriffes offenbart, was sonst in der politischen Debatte verborgen bleibt, nämlich die große Gemeinsamkeit zwischen den neuen Liberalen und den alten Sozialdemokraten. Diese Gemeinsamkeit läßt sich in zwei Worte fassen: Money matters - auf das Geld kommt es an! Die Geldmenge, so predigen Milton Friedman und seine Gemeinde, entscheidet über Inflation, Arbeitslosigkeit und nahezu alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Die Geldmenge, so sagen die neoliberalen Monetaristen, entscheidet über den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes.

 

Ganz ähnlich klingt es von der anderen Seite des politischen Spektrums: Die Höhe und die Bezugsdauer der finanziellen Transfers entscheiden über die soziale Qualität und lösen die sozialen Probleme. Die Geldmenge, so sagen es die sozialen Monetaristen, entscheidet über den sozialen Erfolg eines Landes. Die einen glauben, der Markt werde alles richten. Die anderen glauben, staatliche Transfers seien die Lösung aller Probleme. Monetaristen sind sie alle beide. Die beiden Pole des politischen Denkens sind im Grunde dem gleichen Leitbild verpflichtet: einem materiellen Begriff von Politik.

Gegen diesen monetaristisch verengten Begriff von Politik setzt Mickey Kaus ein ganz anderes Leitbild. Er nennt es Civic Liberalism. Man könnte von einem zivilen oder von einem bürgerschaftlichen Liberalismus sprechen oder auch von einem sozialen Republikanismus. Es ist dies die Alternative zu jenem materiell-ökonomischen Denken, das gegenwärtig die Politik links und rechts bestimmt und dem zu allen möglichen Themen nichts anderes einfällt als Steuern runter oder Transfers rauf. Reformen unter dem Leitbild des "sozialen Republikanismus" würden dagegen "versuchen, die Sphären des Lebens, in denen Geld und Verdienst zählen, zu begrenzen und gleichzeitig die öffentlichen Sphären auszudehnen, in denen Einkommensunterschiede keine Rolle spielen" (Kaus). Reformen würden sich nicht am Status quo und seinen Defiziten und Unzulänglichkeiten orientieren, sondern in einer Art "idealistischem Vorgriff" an den Fähigkeiten und Entwicklungschancen der einzelnen Menschen wie der ganzen Gesellschaft.(4)

Kuchen backen, um ihn zu verteilen

In diesem Lichte gewinnt dann auch die Reform des Wohlfahrtsstaates Sinn und Perspektive. Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, dass eine partielle Umverteilung notwendig ist: von den hoch produktiven Sektoren der Wirtschaft in die weniger produktiven Sektoren der Gesellschaft; vom Sozialstaat in den Bildungsstaat; von denen, die viel haben zu denen, die wenig oder nichts haben; von Vergangenheitssubventionen in Zukunftsinvestitionen. Umverteilung wird nicht verschwinden. Aber sie ist nicht länger der Königsweg zu mehr Wohlfahrt, und sie hat schwer wiegende negative Folgen. Eine Gesellschaft, die ihre politische Aufmerksamkeit und ihre knappen finanziellen und moralischen Ressourcen auf Umverteilung und nicht auf Wachstum konzentriert, bleibt hinter ihren wirtschaftlichen und hinter ihren sozialen Möglichkeiten zurück: Sie wird ihre ökonomischen und ihre sozialen Ziele verfehlen. Wenn alle mit der gerechten Verteilung des Kuchens beschäftigt sind und keiner mehr fragt, wie dieser größer werden könne und alle etwas davon haben, dann ist der wirtschaftliche und soziale Niedergang programmiert. Sinn und Zweck einer sozialen Politik liegen nicht länger in der Verteilung, sondern in der Mehrung und in der Verbesserung: von Arbeit und Bildung, von Chancen und Teilhabe. Der Zweck einer sozialen Politik sind die Wachstumschancen von Mensch, Wirtschaft und Gesellschaft.


Die Anforderungen an eine solche Politik werden rasch deutlich, aus der biografischen Perspektive des Einzelnen wie aus der Perspektive der modernen Gesellschaft mit all ihren Chancen und Risiken. Es geht einmal darum, dem sozialen Absturz entgegenzuwirken, und das, wenn nötig, gerade bei jungen Menschen durchaus auch mit einer gewissen "tough love", also mit einer Mischung aus Zuwendung und Härte. Ein Staat, der gesunden jungen Menschen Geld ohne Gegenleistung gibt, handelt unsozial. Und es geht zum anderen darum, die Mobilität der Menschen nach oben immer wieder offen zu halten, Übergänge zu erleichtern und die Menschen in kritischen Lebenspassagen zu unterstützen. Es kommt darauf an zu verhindern, dass der soziale Fahrstuhl nach unten durchknallt, und dafür zu sorgen, dass er für alle nach oben immer wieder zu besteigen ist. Das bedeutet: weniger Geld in die Sicherung von Lebenslagen und mehr Geld in die Flankierung von riskanten Übergängen. Wenn das Leben der Menschen nicht mehr linear verläuft, muss Gerechtigkeit neu und umfassender definiert werden: nicht mehr nur zwischen Gruppen und nicht mehr nur für die Start- und Jugendphase.

Die neuen Prioritäten

Gerechtigkeit, so verstanden, hat Konsequenzen für die Sozialpolitik. Was hat Priorität? Was steht ganz oben auf der Tagesordnung? Auch hier lassen sich leise Revisionen beobachten: Sozialpolitik soll die Ungleichheit bekämpfen, sagt nach wie vor eine starke Minderheit - und wünscht sich den Sozial- und Steuerstaat als Umverteilungsagentur. Der Sozialstaat soll den Lebensstandard sichern, war der Glaube und die Hoffnung von Bismarck bis Blüm. Der Sozialstaat soll die Spaltung der Gesellschaft verhindern und alle Menschen befähigen, an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aktiv teilzunehmen - der Sozialstaat als Mittel zum Zweck einer zivilen Gesellschaft der Teilhabe für alle und jeden: Das ist die politische Linie, die sich immer mehr abzeichnet.

Soziale Armut und "Netzwerkarmut"

Die Regierung Schröder hat wichtige Schritte in die richtige Richtung eines aktivierenden Staates und einer integrativen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik getan. Die Bedeutung der Bildungspolitik als Antwort auf die soziale Frage des 21. Jahrhunderts wird zunehmend erkannt und eindrücklich beschworen. Doch ein wirklicher Reformwille ist weit und breit nicht zu erkennen. Das Fehlen einer breiten Bildungsoffensive stellt eines der säkularen Versäumnisse der Gegenwart dar. Ein anderes ist die Vernachlässigung der Städte und Gemeinden. Dass viele Probleme nicht mehr national, sondern nur noch transnational gelöst werden können, das hat sich inzwischen herumgesprochen. Dass in der nämlichen Weise viele Probleme nicht mehr national, sondern nur noch subnational gelöst werden können, ist allenfalls Gegenstand folgenloser Sonntagsreden über Subsidiarität.

 

 

Dabei ist offensichtlich: Die härtesten sozialen Probleme der Zukunft werden in den Kommunen gelöst - oder sie werden nicht gelöst. Es gibt nicht nur materielle, sondern auch soziale Armut: "Netzwerkarmut" (Ulrich Pfeiffer), das Fehlen von Bindungen, Kontakten, unterstützenden Netzen, eine Armut, der mit Geld nicht beizukommen ist und die doch oft der Anfang von materieller Armut und Exklusion ist. Das Wegbrechen mancher Stadtviertel und der Ausschluss ganzer Teile der Bevölkerung lässt sich durch eine Novellierung von Bundes- oder Landesgesetzen nicht ändern. Die Lebensqualität der Menschen entscheidet sich in den Kommunen: von den Schulen über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bis hin zu der Integration alter Menschen. Zu entdecken wären Städte und Gemeinden als politische und soziale Räume, in denen das soziale Spiel der Zukunft gewonnen oder verloren wird.(5) Solange solche politischen Kernfragen nicht einmal gestellt werden, wird jede Gemeindefinanzreform oberflächlich bleiben.

Verlorene Jahre oder ein neuer Anfang?

Ein Beobachter hat jüngst mit Blick auf die neunziger Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts von einer "verlorenen Zeit" gesprochen.6 Das war ein zutreffendes Urteil über die bleierne Zeit am Ende der Ära Kohl und wohl auch für die erste Regierung Schröder/Fischer. Was seit dem 14. März 2003 geschehen ist, hätte man so vorher von einer SPD-geführten Regierung nicht für möglich gehalten. Und sie bewegt sich doch, die deutsche Politik. Sie stellt offen alte Routinen und klammheimlich auch alte Mentalitäten in Frage. Mentalitäten wandeln sich langsam. Sie explizit und systematisch verändern zu wollen ist nicht der Brauch des Landes. Und doch dürfte ohne eine "Politik der Mentalitäten" (Wolf Lepenies) das Projekt scheitern, den Wandel in Deutschland erfolgreich zu gestalten. Der neue Blick auf die Gerechtigkeit ist nicht der schlechteste Anfang, Bewegung nicht nur in die Politik, sondern auch in die Köpfe zu bringen.


(1) Warnfried Dettling, Wirtschaftskummerland? Wege aus der Globalisierungsfalle, München 1998, S. 226.
(2) Olaf Scholz, Gerechtigkeit und solidarische Mitte im 21. Jahrhundert, Vortrag auf dem Forum Gerechtigkeit am 16. Juli 2003 im Willy-Brandt-Haus in Berlin; siehe auch dessen Beitrag zum Thema in der Frankfurter Rundschau vom 7. August 2003; außerdem: Matthias Machnig: Die Chancen und das Machbare, in diesem Heft.
(3) Mickey Kaus, The End of Equality, New York 1995.
(4) Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen: Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München und Wien 2000.
(5) Warnfried Dettling, Die Stadt und ihre Bürger: Neue Wege in der kommunalen Sozialpolitik: Grundlagen, Perspektiven, Beispiele, Gütersloh 2002.
(6) Hans Jörg Hennecke, Die dritte Republik: Aufbruch und Ernüchterung, München 2003. Er bezieht sich dabei auf Jan Ross: Die verlorene Zeit. Ein kurzer Rückblick auf die langen neunziger Jahre, in: Merkur 56 (2002), Nr. 639, 555-565.

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