Die Büchse der Pandora

Innerhalb der EU liegt vor der Europawahl einiges im Argen und außenpolitisch zeichnet sich eine neue Ost-West-Krise ab

Am 25. Mai werden die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union ihr neues Parlament wählen. Dass diese Wahl ordnungsgemäß abgehalten wird, steht außer Frage. Ebenfalls am 25. Mai sollen die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine in freier und fairer Wahl ihre neue Werchowna Rada sowie ihren neuen Staatspräsidenten wählen. Dass es zu diesen Wahlen in der vorgesehenen Weise kommen wird, ist nicht nur deshalb ausgeschlossen, weil Russland bereits am 21. März mit der Krim kurzerhand einen Teil der Ukraine annektiert hat. Es erscheint auch unmöglich, weil Russland unter Wladimir Putin offensichtlich fest entschlossen ist, die Ukraine ins Chaos zu stürzen, zu infiltrieren und gegebenenfalls den Osten des Landes militärisch zu unterwerfen, um so die demokratische Selbstbestimmung und Entwicklung dieser europäischen Nation langfristig zu sabotieren.

Damit ist für Europa eine atemberaubend neue Lage eingetreten – eine sicherheitspolitische Konstellation, die nahezu ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges (abgesehen von einigen tatsächlichen „Putin-Verstehern“ wie etwa unserem Autor Ben Judah) niemand mehr für möglich gehalten hätte. Putins Russland hat die internationale Ordnung der vergangenen zwei Jahrzehnte schlicht und einfach aufgekündigt. Das hinterlässt uns progressive Westler fassungslos. Wir können uns den Handel und Austausch unter den Völkern inzwischen kaum noch anders vorstellen als in den Kategorien eines friedlichen Win-win; die Sinnhaftigkeit von Begriffen wie „gemeinsame Entwicklung“ oder „Modernisierungspartnerschaft“ versteht sich für uns von selbst. Tatsächlich liegt dem gesamten Projekt der europäischen Vereinigung, bei allen – beträchtlichen – Defiziten in der Praxis die elementare regulative Idee des better together zugrunde. Wir haben diese Weltsicht – jedenfalls bezogen auf Europa – für die einzige überhaupt noch denk- und vorstellbare gehalten.

Aber da haben wir uns gewaltig geirrt. Mit seiner kühl kalkulierten Aggression gegen die Ukraine, den Westen, das Völkerrecht, alle Prinzipien des friedlichen Interessenausgleichs und die ökonomische Vernunft, ist Putins Russland aus der Welt, wie wir sie kennen und – jedenfalls in Europa – für selbstverständlich hielten, schlankweg ausgestiegen. Auf einmal werden wieder unverhandelbare „Werte“ wie Volk, Blut und Boden in Stellung gebracht. Auch wenn bei diesem Brimborium zunächst vor allem darum geht, den zutiefst kleptokratischen, korrupten und dysfunktionalen Charakter des real existierenden Putinismus zynisch zu verschleiern: Die Dynamiken des völkischen Nationalismus, einmal losgetreten, lassen sich nicht ohne weiteres wieder einfangen. „Die Büchse der Pandora“ heißt eine große neue Studie des Historikers Jörn Leonhard über den Ersten Weltkrieg und dessen verheerenden langfristigen Wirkungen. Ein Jahrhundert später ist Putin auf dem besten Weg, das unter großen Mühen endlich verschlossene Gefäß aufs Neue aufzureißen.

Klar ist schon jetzt: Wenn Europas Bürger und Bürgerinnen am 25. Mai über ihr neues Parlament abstimmen, dann wird es dabei um weitaus mehr gehen als die inneren Probleme der EU. Diese sind, wie unser Schwerpunkt verdeutlicht, auch ohne die neue Ost-West-Krise schon kompliziert genug. Nun wird alles noch viel schwieriger.

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