Die Arbeit fängt gerade erst an

In den Heften 1 und 3/2002 der Berliner Republik lieferten sich Thomas Leif, Bernhard von Rosenbladt und Martin Nörber einen heftigen Streit um Zivilgesellschaft und Zukunft des Ehrenamtes. Auslöser der Debatte war die Arbeit der "Enquete-Kommision Zukunft des Bürgergesellschaftlichen Engagements" im Deutschen Bundestag. Hier umreißt deren Vorsitzender MICHAEL BÜRSCH die Erkenntnisse der inzwischen abgeschlossenen Recherchen

Bürgerschaftliches Engagement ist eine unverzichtbare Bedingung für den Zusammenhalt der Gesellschaft" - aus dieser Grundüberzeugung heraus hat der Deutsche Bundestag im Dezember 1999 die Enquete-Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" eingesetzt und ihr den Auftrag erteilt, konkrete politische Strategien und Maßnahmen zur Förderung des freiwilligen, gemeinwohlorientierten, unentgeltlichen Engagements in Deutschland zu erarbeiten. Diesen Auftrag hat die Enquete-Kommission nunmehr erfüllt. Nach gut zweijähriger Arbeit legt sie eine systematische Bestandsaufnahme der Wirklichkeit bürgerschaftlichen Engagements und politische Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen vor.


Leitend für die Arbeit der Enquete-Kommission war zunächst und vor allem die Vielfalt bürgerschaftlichen Engagements. Neben der Tätigkeit in Vereinen und Verbänden, Kirchen, karitativen und anderen gemeinnützigen Organisationen, in Freiwilligenagenturen, Hospizbewegung oder Tafeln umfasst es - um nur einige Beispiele zu geben - die Mitarbeit in Selbsthilfegruppen, Nachbarschaftsinitiativen und Tauschringen, ferner politisches Engagement in Bürgerinitiativen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Volksbegehren oder anderen Formen von direktdemokratischer Bürgerbeteiligung, auch die Arbeit in Parteien und Gewerkschaften oder den Einsatz in Freiwilligendiensten. Nicht zuletzt zählen dazu gemeinwohlorientierte Aktivitäten von Unternehmen und Stiftungen mit gemeinnütziger Zielsetzung.


Insgesamt engagieren sich rund 22 Millionen Menschen in Deutschland bürgerschaftlich, das ist jeder Dritte über 14 Jahren. Die Kommission ist allerdings nicht der "Faszination der großen Zahl" (Thomas Leif) erlegen, denn dann hätte sie ihren Bericht auf die schlichte Feststellung reduzieren können: "Dem bürgerschaftlichen Engagement in Deutschland geht es gut; es gibt keinen Handlungsbedarf." Die hohe Zahl an Engagierten ist für die Kommission vielmehr Ansporn gewesen, die Tätigkeit dieser vielen Bürgerinnen und Bürger zu würdigen, aber auch ihre Motivation zu stärken, sich weiter für die Gesellschaft einzusetzen. In diesem Sinne gibt der Bericht sowohl für das individuelle Engagement als auch im Hinblick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Vielzahl von Handlungsempfehlungen für die zukünftige Entwicklung der Bürgergesellschaft in Deutschland.

Geteilte Regeln, Normen und Werte

Fazit der Bestandsaufnahme: Bürgerschaftliches Engagement bedeutet Vielfalt, und erst in diesem weiten Verständnis, das all die unterschiedlichen Tätigkeiten einbezieht, erschließt sich deren Bedeutung für unser Gemeinwesen. Die Bürgerinnen und Bürger erneuern mit ihrem freiwilligen Engagement in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Tag für Tag die Bindekräfte unserer Gesellschaft. Sie schaffen eine Atmosphäre der Solidarität, der Zugehörigkeit und des gegenseitigen Vertrauens. Kurz, sie erhalten und mehren, was wir heute "soziales Kapital" nennen: die Verbundenheit und das Verständnis zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft, die Verlässlichkeit gemeinsam geteilter Regeln, Normen und Werte und nicht zuletzt das Vertrauen in die Institutionen des Staates.


Maßgeblich für die Arbeit der Enquete-Kommission war eine weitere Leitlinie: Die Förderung bezieht sich nicht nur auf die aktiven Bürgerinnen und Bürger und deren je individuelles Engagement, sondern hat vor allem eine gesellschaftspolitische Dimension. Die Debatte war lange Zeit bestimmt von jener Perspektive, die die engagierten Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt rückt und bürgerschaftliches Engagement als einen bunten Markt der Möglichkeiten erscheinen lässt. Auch das Interesse der Enquete-Kommission galt Fragen nach der individuellen Motivation der Engagierten und nach der Gestaltung von Rahmenbedingungen, die geeignet sind, die persönliche Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement zu erhöhen. Dabei kann man einen Strukturwandel in den Motiven der engagierten Bürgerinnen und Bürger feststellen: Während Menschen sich früher typischerweise langfristig einer bestimmten Organisation verpflichteten und "ihrem" Verein ein Leben lang verbunden blieben, engagieren sich heute immer mehr Menschen eher spontan und projektförmig.

Engagement muss zur jeweiligen Lebenssituation passen. Noch bedeutsamer aber ist die Beobachtung, dass bürgerschaftlich Engagierte mit ihren Aktivitäten heute in stärkerem Maße Bedürfnisse nach Eigenverantwortung und Selbstbestimmung verbinden als früher; daraus resultieren neuartige Anforderungen an Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. An den veränderten Motiven werden sich auch zukünftige Strategien und Maßnahmen zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements orientieren müssen.

Gemeinschaftsfähigkeit muss gelernt werden

Darüber hinaus aber steht die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements im Kontext eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Reformprojekte unserer Zeit: der Stärkung der Bürgergesellschaft. Die Bürgergesellschaft, jenes Netzwerk von selbst organisierten und freiwilligen Assoziationen - Vereine und Verbände, NGOs, Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen, Stiftungen und Freiwilligendienste, aber auch politische Parteien und Gewerkschaften et cetera - bildet ein Tätigkeitsfeld eigener Art zwischen Staat, Wirtschaft und Familie. Als Reformperspektive erfordert die Bürgergesellschaft auf Seiten der Wirtschaft Unternehmer und Unternehmen, die sich dem Gemeinwesen gegenüber verantwortlich verhalten und in diesem Sinne als "Corporate Citizens" selbst Teil der Bürgergesellschaft sind. Unternehmerisches bürgerschaftliches Engagement - gerade in seinen neuen Formen längerfristiger Partnerschaften zwischen Unternehmen und gemeinnützigen Organisationen - wird entscheidende Bedeutung für die Zukunft bürgerschaftlichen Engagements haben. Vor allem aber bedarf die Bürgergesellschaft eines unterstützenden Staates, der gemeinnützige Aktivitäten nicht durch unnötige bürokratische Auflagen reglementiert und hemmt, sondern sie erleichert und ermöglicht. Kurz: Es geht um ein neues Verhältnis zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, in dem bürgerschaftliches Engagement eine zentrale Rolle spielt.


Besonders wichtig sind dabei jene Organisationen, Institutionen und Initiativen, die gewissermaßen das Verbindungsstück zwischen den engagierten Bürgern und Bürgerinnen auf der einen Seite und der Bürgergesellschaft als Ganzer auf der anderen Seite bilden. Denn die Bürgergesellschaft besteht eben nicht nur aus Individuen, sondern auch aus einer Vielzahl verschiedenartiger Organisationen. Sie bilden die institutionelle Grundstruktur der Bürgergesellschaft - und geben zugleich die Rahmenbedingungen für das bürgerschaftliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger vor.


Bürgergesellschaft bedeutet auch, dass wir die Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement nicht als selbstverständlich gegeben annehmen können. Bürgerschaftliches Engagement muss gelernt werden - in der Familie, im Freundeskreis, in der Schule. Die Öffnung der Schule zur Bürgergesellschaft und civic education, das Lernen von Gemeinschaftsfähigkeit und sozialer Kompetenz, gehören zum Fundament der Förderung bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland.

Bürger, bitte übernehmen Sie!

Mit ihrem Bericht wendet sich die Enquete-Kommission nicht nur an Bundesregierung und Gesetzgeber, sondern an eine Vielzahl von Akteuren. Die Bürgerinnen und Bürger, die zivilgesellschaftlichen Organisationen, aber auch die staatlichen Institutionen und nicht zuletzt die Unternehmen und die Gewerkschaften - sie alle sollen ermutigt werden, sich stärker als bisher für bürgerschaftliches Engagement zu öffnen. Denn die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich zu engagieren, steht in direkter Wechselwirkung zu den Möglichkeiten zu bürgerschaftlichem Engagement, die von den Organisationen geboten werden. Demokratische, beteiligungsfreundliche Strukturen staatlicher Institutionen und die glaubwürdige Gemeinwohlorientierung von Unternehmen haben direkten Einfluss auf die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen.
Die Arbeit der Enquete-Kommission ist beendet, aber die Arbeit zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements hat gerade erst angefangen. Nun ist es Aufgabe der Bürgergesellschaft, die nachhaltige Förderung bürgerschaftlichen Engagements entschieden in Angriff zu nehmen.

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