Deutschlands Verantwortung für Afghanistan

Schon einmal hat der Westen Afghanistan im Stich gelassen - eine Folge war der Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001. Warum wir es unseren Verbündeten und uns selbst schuldig sind, dieses Mal die Nerven zu behalten

Fast täglich überbringen die Medien schlechte Nachrichten aus Afghanistan. Reflexartig fragen deshalb viele Beobachter, ob sich unser Engagement am Hindukusch überhaupt lohnt, ob der militärische Einsatz Erfolge zeigt und wie lange wir dort bleiben wollen. Wenn deutsche Soldaten ums Leben kommen, wie im Mai dieses Jahres in Kunduz, fallen die Reaktionen noch heftiger aus: Dann wird sogleich gefordert, die Truppen abzuziehen, weil das Risiko zu groß sei. Bemerkenswerterweise kommt die Bundeswehr vor Ort, übrigens ebenso wie die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung, zu einem anderen Schluss: Das Engagement lohnt sich; nur wenn sie mittel- bis langfristig bleibt, kann die Bundeswehr zur Stabilität in Afghanistan beitragen.

 

Seien wir ehrlich: Um dem Land nachhaltig zu helfen, muss sich der Westen dort noch mindestens 15 bis 20 Jahre lang engagieren. Wir haben eine moralische Verpflichtung gegenüber diesem Land, das in den achtziger Jahren gegen den Kommunismus kämpfte. Schon einmal haben wir Afghanistan seinem Schicksal überlassen – als Anfang der neunziger Jahre die sowjetischen Truppen abzogen. Eine Folge unserer Versäumnisse war der Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001.

 

Offensichtlich waren die Erwartungen an Afghanistan zu hoch, die auf dem Bonner Petersberg Ende 2001 formuliert worden waren. Ein Beispiel: Die Infrastruktur konnte nicht einfach wieder aufgebaut werden; man musste sie vielerorts komplett neu errichten. Die zarten Pflänzchen nachhaltiger Entwicklung und demokratischer Selbstorganisation wiederum werden erst nach mehreren Jahren Wurzeln schlagen.

 

Beim Aufbau des Landes sind also keine kurzfristigen, der hektischen Medienlogik entsprechenden Erfolge zu vermelden. Zudem wird es nicht reichen, dass sich unsere Soldaten im Rahmen des derzeitigen ISAF-Mandats vorrangig auf Patrouillen, den Aufbau eines vertrauensvollen Verhältnisses zur Bevölkerung im Norden des Landes und kleine Infrastrukturprojekte konzentrieren. All diese Aktivitäten sind wichtig; gegen gewaltbereite Gegner des Friedens richten sie jedoch wenig aus. Soll Afghanistan ein verlässlicher Partner werden, muss Deutschland deshalb als Mitglied der Nato und der Vereinten Nationen mehr Verantwortung übernehmen. Denn das westliche Verteidigungsbündnis verliert an Glaubwürdigkeit und Schlagkraft, wenn die Nato in Afghanistan scheitert. Konsequenterweise sollte sich Deutschland im Rahmen eines erweiterten ISAF-Mandats mit robusteren Mitteln engagieren.

 

Wie lange reicht der deutsche Atem?

 

Eine berühmte deutsche Tugend ist die Prinzipientreue. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat den Vereinigten Staaten nach dem 11. September die uneingeschränkte Solidarität zugesichert. Darüber hinaus haben wir Afghanistan bei der Petersberger Friedenskonferenz sowie auf weiteren internationalen Afghanistan-Konferenzen unsere Unterstützung für den Friedens- und Demokratisierungsprozess versprochen. Wenn wir diese Zusagen nicht einhalten, geraten wir in eine Sackgasse.

 

Bei jedem weiteren geplanten Friedenseinsatz würden sich unsere Bündnispartner und die Menschen in der betreffenden Krisenregion fragen, wie lang der deutsche Atem diesmal reicht. Darüber hinaus würde sich unser politisches Gewicht am internationalen Verhandlungstisch verringern – ein Phänomen, von dem deutsche Nato-Insider schon heute berichten. Allerdings müssten wir auch damit rechnen, dass mehr deutsche Soldaten als bisher in Afghanistan ums Leben kommen. Das ist bitter und traurig. Aber die politisch Verantwortlichen werden die kurze öffentliche Empörung aushalten müssen.

 

Die Zahl der Friedensgegner wächst

 

Diese guten Gründe für ein längeres und erweitertes deutsches Engagement sollten wir uns nicht nur hinter vorgehaltener Hand in politischen Führungsetagen zuflüstern, sondern auch der deutschen Öffentlichkeit (und den deutschen Wählern) erklären. Die Bundesregierung sowie die sie tragenden Parteien müssen deutlich machen, warum Kampfeinsätze trotz Verlusten weiter nötig sein werden. Auch sollten sie die Bevölkerung über die dramatischen Folgen informieren, die ein Rückzug aus Afghanistan für Deutschland, die internationale Sicherheit und das Land selbst hätte.

 

Unter dem Sammelbegriff „Taliban“ formieren sich in Afghanistan derzeit täglich neue Gegner des jetzigen politischen Systems, darunter Gruppen der Al-Kaida, eine militante islamistische Internationale und die Drogenmafia. Fehler der Nato-Truppen im Rahmen der Operation Enduring Freedom (OEF) erleichtern den Taliban die Rekrutierung neuer Kämpfer aus der riesigen Masse frustrierter, perspektivloser und religiös indoktrinierter junger Männer. Paradoxerweise werden viele dieser Kämpfer in religiösen Schulen (Madaris) ausgebildet, die während des Kalten Krieges mit westlichem Geld aufgebaut wurden, um den Kommunismus zu bekämpfen.

 

Bis jetzt führen die Truppen der OEF Kampfeinsätze im Süden und Osten Afghanistans durch. Weil sie überwiegend aus der Luft angreifen, sind unter ihren Opfern viele Zivilisten. Das erzürnt die Regierung Karzai ebenso wie die afghanische Bevölkerung; die Zahl der Friedensgegner wächst. Kein Wunder, dass die OEF bei der afghanischen Bevölkerung, der Regierung und bei den ISAF-Truppen schlecht gelitten ist. Die Soldaten der OEF sind die bad guys. Es ist ein Dilemma: Solange die Afghanische Nationale Armee (ANA) nicht vollständig aufgebaut ist, muss das Machtvakuum von internationalen Truppen ausgefüllt werden. Wir brauchen die internationalen Truppen also. Doch der Ansatz der OEF bringt keinen Erfolg.

 

Die afghanische Regierung hat aus dieser Situation Konsequenzen gezogen. Sie spricht mit „moderaten Taliban“, die bereit sind, der Gewalt abzuschwören und sich konstruktiv in den Friedensprozess einzubringen. Kurt Becks Vorschlag, die Taliban einzubinden, zielte also in die richtige Richtung. Dabei sollte jedoch eine klare Grenze gezogen werden zwischen einem Dialog, einer Partnerschaft oder gar einem „Deal“.

 

Die Drecksarbeit machen andere

 

Bis heute verstehen die Afghanen nicht, warum die einen Ausländer bei ihnen Brunnen bohren (darunter die deutschen good guys), die anderen hingegen brachial auftreten (vor allem die amerikanischen Soldaten und die privaten Sicherheitsfirmen). Doch es ist unredlich, klammheimlich darauf zu hoffen, dass die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada und die Niederlande die Drecksarbeit übernehmen, während die Deutschen weiter fleißig an ihnen Kritik üben.

 

Weil die OEF in Afghanistan gescheitert ist, sollte der UN-Sicherheitsrat das Mandat der ISAF erweitern und die OEF in die ISAF integrieren. Die Doppelstruktur hat von Anfang an für Verwirrung gesorgt und zu Konflikten zwischen den Führungsspitzen beider Truppen geführt. Es war richtig, den Einsatz der ISAF von Kabul aus auf das ganze Land auszudehnen. Nun muss analysiert werden, was bei der OEF schiefgelaufen ist und welche Elemente der ISAF fehlen, um militante Friedensgegner und Drogenkartelle erfolgreich zu bekämpfen. Die Nato sollte bei der Anpassung der ISAF-Strategie eine zentrale Rolle spielen.

 

Kritik vom hohen Ross kommt nicht gut an

 

Für Deutschland folgt daraus zweierlei: Erstens sollten wir unseren amerikanischen Verbündeten sagen, dass die OEF in Afghanistan mehr schadet als nutzt, ja sogar, dass sie kontraproduktiv ist. Heute gibt es mehr gewaltbereite Systemgegner als nach der Vertreibung der Taliban Ende 2001. Zweitens sollten wir uns selbst stärker mit militärischen Mitteln beteiligen, da wir uns doch an ihrem bislang ineffizienten Einsatz stören. Denn Kritik vom hohen Ross herunter kommt nicht gut an, zumal man uns schon jetzt hinter vorgehaltener Hand als feige und unglaubwürdig bezeichnet. Dabei müssen wir natürlich parallel zum Engagement in der ISAF unseren politischen Einfluss weiter geltend machen.

 

Der Zeitpunkt für einen konstruktiv-kritischen Dialog mit den Vereinigten Staaten ist ausgesprochen günstig. Die Amerikaner kennen ihre Schwachstellen, und Afghanistan steht beiderseits des Atlantiks ganz oben auf der Agenda. Die Regierung Bush will neben dem Irak nicht noch einen eskalierenden Konfliktherd als politisches Vermächtnis hinterlassen. Und die neue, höchstwahrscheinlich demokratische Regierung ab 2009 wird sich stärker um die Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern bemühen und Alleingänge vermeiden. Beide Administrationen werden also ein offenes Ohr für die Fehler in Afghanistan haben. Dazu gehört eindeutig die Erkenntnis, dass mit schlecht koordinierten und ungezielten Militärschlägen kein Frieden gewonnen wird.

 

Die Vertreibung der Taliban nach dem 11. September 2001 mit Hilfe der Nordallianz hat ein weiteres Problem hinterlassen: Ebenso wie andere ehemalige Bürgerkriegsgruppierungen ist auch die Nordallianz für schreckliche Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit verantwortlich. Ihre Soldaten haben tausende Afghanen auf dem Gewissen – viel mehr als das islamistische Taliban-Regime. Die westlichen Truppen haben also gewissermaßen die Pest mit der Cholera vertrieben.

 

Einige Protagonisten der achtziger und neunziger Jahre beteiligen sich heute vorbildlich am politischen Prozess. Andere hingegen nehmen zwar offiziell am politischen System teil, ihnen unterstehen aber weiterhin eigene bewaffnete Truppen, die nicht zur ANA gehören. Diese gewaltbereiten Scharlatane kooperieren mit der Drogenmafia und zwielichtigen Geschäftsleuten, gleichzeitig sitzen sie im Parlament und tragen Regierungsverantwortung. Von ihren Posten aus verfolgen Leute wie General Dostum eine anti-demokratische Agenda und versuchen, ihre Macht zu konsolidieren.

 

Mit Scharlatanen kooperieren?

 

Tragischerweise arbeitet der Westen mit einigen dieser Akteure partnerschaftlich zusammen, um den Konflikt kurzfristig nicht weiter eskalieren zu lassen. Damit setzen wir doppelte Standards: Wir bombardieren bewaffnete Gruppen, die außerhalb des international unterstützten politischen Prozesses stehen, mit anderen wiederum setzen wir uns an einen Tisch. Es überrascht kaum, dass die afghanischen Medien diese „Doppelmoral“ scharf kritisieren. Für die afghanische Bevölkerung sind die gewaltbereiten Scharlatane ebenso vertrauensunwürdig wie die Taliban. Deshalb sollten wir uns für den nachhaltigen Aufbau der ANA, der afghanischen Polizei und des Justizwesens einsetzen – und uns an die Passagen zu den Menschenrechten im Petersberger Friedensabkommen erinnern.

 

Ebenso Besorgnis erregend sind die jüngsten Entwicklungen in Pakistan. Jetzt ist deutlich geworden, dass General Musharraf sich nicht als Verantwortungsträger in einer Transformationsphase auf dem Weg zur Demokratie begreift. Auch ist Musharraf kein Partner des Westens im Kampf gegen den Terror, wie manche glauben. Im Gegenteil: Pakistan hat sich zu einem der Hauptzentren des globalen Terrorismus entwickelt. Es ist fraglich, wie fest der Präsident überhaupt noch im Sattel sitzt. Zweifellos werden das Militär und der Geheimdienst im Falle seines Abtritts die Zügel weiterhin straff in den Händen halten.

 

Es droht der nächste Stellvertreterkrieg

 

Ein Abkommen Musharrafs mit den Stämmen aus Waziristan an der afghanischen Grenze hat quasi-rechtsfreie Räume geschaffen – mit verheerenden Auswirkungen auf Afghanistan. Die Taliban nutzen diese Gegend als Zufluchtsort und schicken von dort aus ihre Kämpfer nach Afghanistan. Unterstützt werden sie von reichen Förderern, die verhindern wollen, dass sich das Land zu einem Partner des Westens entwickelt. In diesem Kampf betreiben die Taliban eine antiimperialistische Propaganda mit islamistisch-extremistischem Vokabular. Eine Art neuer Ost-West-Konflikt entwickelt sich, in dem der Westen gegen den politischen Islam vorgeht. Einmal mehr könnte Afghanistan der Schauplatz eines Stellvertreterkrieges werden.

 

Auch Iran hat ein erhebliches Interesse an seinem Nachbarn Afghanistan, ebenso wie am Irak. Im Atomkonflikt mit der internationalen Gemeinschaft bilden diese Interessen ein Unterpfand, wie der Irak zeigt: Iran kann den dortigen Konflikt jederzeit weiter verschärfen. In Bezug auf Afghanistan hat Teheran vor allem das Interesse, den Drogenschmuggel nach Iran einzuschränken. Des Weiteren wollen Russland, Indien und China in Afghanistan mitreden, da Afghanistan als Puffer, Handels- und Pipelineroute von strategischer Bedeutung ist.

 

Aus diesen Überlegungen ergeben sich folgende Handlungsoptionen: Erstens, wir brauchen eine Öffentlichkeitskampagne, um zu erklären, warum sich Deutschland nachhaltig und stärker als bisher in Afghanistan engagieren muss. Zweitens ist ein aktiver Dialog mit den Partnern in den Vereinten Nationen, in der Nato (besonders mit den Vereinigten Staaten) und mit der afghanischen Regierung erforderlich. Dieser Dialog sollte zum Ziel haben, das ISAF-Mandat um robuste Einsätze zu erweitern und die OEF einzustellen. Notwendig sind drittens Druck auf die Karzai-Regierung und die Koordinierung einer glaubwürdigeren Politik ohne Zusammenarbeit mit gewaltbereiten Scharlatanen in Afghanistan. Viertens muss der Druck auf Pakistan erhöht werden, damit das Land gegen Brutstätten islamistischer Extremisten vorgeht.

 

Naiver good guy oder wirklicher Partner?

 

Diese Vorschläge mögen auf den ersten Blick unrealistisch klingen. Doch ihre Verwirklichung wäre nur konsequent. Deutschland hat auf dem internationalen Parkett bereits bewiesen, dass es als Mitglied der Europäischen Union und aufgrund seiner Nähe zur Supermacht USA ein zentraler Akteur sein kann. Zudem sind die Deutschen als Pate des Petersberger Friedensprozesses in Afghanistan weiterhin hoch angesehen, weshalb Deutschland eine wichtige Vermittlerrolle zukommt.

 

Im „Afghanistan Compact“, dem schriftlichen Ergebnis der Londoner Afghanistan-Konferenz im Jahr 2006, sind gute Vorschläge enthalten, die nun implementiert werden müssen. Richtungsweisend ist der Ansatz, den Schwerpunkt auf politische und wirtschaftliche Maßnahmen zu verlagern. Folgen wir diesem Weg, wird es wieder erfreulichere Nachrichten und Bilder aus Afghanistan geben. Dann dürften die deutsche, die afghanische und internationale Öffentlichkeit auch eher anerkennen, dass Deutschland ein verantwortungsbewusster Partner auf der internationalen Bühne ist – und nicht nur der etwas naive good guy von nebenan.

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