Deutschland muss sein Gewicht auf die Waage bringen

Im europäischen Rahmen hat Deutschland zu lange als "Gerneklein" agiert und beim Verfolgen eigener Interessen andere vorgeschoben. Die neue Ost-West-Krise demonstriert, dass diese Rechnung nicht mehr aufgeht. Jetzt kommt es wirklich auf Deutschland an

Der Abgleich der außenpolitischen Rhetorik mit der Realität kam schneller als erwartet: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar hatte Bundespräsident Joachim Gauck Deutschland zu einer aktiveren und gestaltungswilligen deutschen Außenpolitik aufgerufen, doch als die Krise auf der Krim eskalierte, wurden die operativen Schwierigkeiten eines stärkeren Engagements offenbar. Schonungslos zeigten die Ereignisse die Grenzen außenpolitischer Handlungsfähigkeit auf: Erst war der Versuch gescheitert, die Ukraine über die Instrumente der EU-Nachbarschaftspolitik mit der EU zu verweben und die Transformation des Landes in Richtung Westen durch Normen und Verfahren zu verstetigen. Der damalige Präsident Viktor Janukowitsch und seine Regierung hatten eine Schaukelpolitik zwischen Russland und dem Westen vorgezogen. Dann missglückte das Vorhaben, die außer Kontrolle geratene Machtprobe zwischen Regierung und Opposition zu steuern – beide Seiten hielten sich nicht an den von Außenminister Frank-Walter Steinmeier und seinem polnischen Kollegen Radek Sikorski ausgehandelten Kompromiss. Schließlich scheiterten die Versuche, Russland mittels einer Kontaktgruppe, durch den Verweis auf Rechtsnormen und später mithilfe symbolischer Sanktionen zu bändigen. Dieses Scheitern hat seine wesentliche Ursache in der Fehlinterpretation der russischen Ziele und Interessen.

Immerhin ist nicht allein die deutsche Außenpolitik wirkungsschwach geblieben; auch Akteure mit einem größeren außenpolitischen Selbstbewusstsein konnten kaum mehr bewegen. Dennoch trifft die neue Ost-West-Krise Deutschlands Außenpolitik härter: Erstens wirkt die Stabilisierung der Nachbarschaft mit den Instrumenten der EU nur dort, wo eine klare Aufnahmebereitschaft der EU auf eine gewollte und bewiesene Beitrittsfähigkeit trifft – bei der Ukraine und den meisten anderen Staaten der „Östlichen Partnerschaft“ ist dies nicht der Fall, ebenso wenig im Mittelmeerraum. Somit kann die heutige EU Deutschlands internationale Interessen nicht effektiv vertreten. Zweitens hat sich gezeigt, dass Berlin derzeit trotz der vielen Kommunikationskanäle keine special relationship mit Moskau unterhält, die der deutschen Außenpolitik eine größere Chance eröffnet hätte, korrigierend oder mäßigend auf Entscheidungen Russlands einzuwirken. Damit hat Deutschland unter seinen westlichen Partnern an Gewicht verloren.

Diese in der Ukrainekrise sichtbar gewordenen Gestaltungsschwächen kennzeichnen die Lage der deutschen Außenpolitik. Deutschland bringt zu wenig Gewicht auf die Waage, um das Verhalten anderer Akteure zu lenken. Der Europäischen Union fehlt – trotz aller Abstimmungsprozesse und gemeinsamer Instrumente – eine Bündelung ihrer außenpolitischen Kapazitäten, um zumindest die Summe ihrer Teile zum Tragen zu bringen. Das Geflecht völkerrechtlicher Normen, internationaler Organisationen und wirtschaftlicher Interdependenz bildet keinen hinreichenden Schutz gegenüber Großmachtpolitik und Aggression. Eine Neubestimmung deutscher Außenpolitik kommt deshalb nicht ohne eine an Interessen, Zielen und Partnern orientierte Machtpolitik aus.

Es muss uns um Sicherheit und Integrität gehen

Dieser Einsicht verweigern sich die Autoren der 2013 erschienenen Studie „Neue Macht. Neue Verantwortung“ vom German Marshall Fund und der Stiftung Wissenschaft und Politik. Darin lautet der zentrale Satz: „Das überragende strategische Ziel Deutschlands ist der Erhalt und die Fortentwicklung dieser freien, friedlichen und offenen Ordnung.“ Gibt es einen Staat, dem diese Sentenz nicht als guter Ratschlag auf den Weg zu geben wäre? Der Satz ist auf seine Weise unangreifbar wahr, er klingt entschlossen und zugleich wunderbar sanft. Auch in der Münchner Rede Gaucks taucht dieses Ziel als „wichtigstes außenpolitisches Interesse“ auf. Kategorien wie Interessen, Führung und Macht werden abgelöst von Begriffen wie Ordnung, Frieden, gemeinsame Ziele, Partnerschaft und Rücksichtnahme.

In Wirklichkeit besteht das wichtigste Ziel jeder Außenpolitik darin, die eigenen Interessen auf den Gebieten Sicherheit, Wohlfahrt sowie territorialer und systemischer Integrität zu behaupten. Hier liegt die viel beschworene Verantwortung der Entscheidungsträger. Stattdessen wird der Verantwortungsbegriff zur weichen Vokabel, um eine Pflicht zum Handeln dort zu begründen, wo die Interessenlage uneindeutig ist oder wo einer klaren Benennung der Interessen und Gefahren ausgewichen wird. Verantwortung klingt gut. Verantwortliches Handeln ist immer richtig, da sein Gegenteil keinen Sinn ergibt. Der Gegenstand wird damit aber einer Debatte entzogen.

Es mag ein zentrales außenpolitisches Ziel sein, eine westlich definierte Ordnung zu bewahren, doch gibt es der Pflege des außenpolitischen Milieus übergeordnete Interessen eines Landes. Nach Lage der Dinge sind weder die vitalen, noch die wichtigen Interessen Deutschlands zuverlässig außerhalb des europäischen Kontextes zu behaupten, und die vitalen und wichtigen Interessen der EU werden von niemand anderem verteidigt als von den Europäern selbst.

Zugespitzt formuliert steht die Besinnung auf eine neue und aktive deutsche Außenpolitik damit vor einer grundsätzlichen Entscheidung: Spielt die Europäische Union für die deutsche Außenpolitik eine instrumentelle Rolle? Dann würde sie lediglich Impulse verstärken, Ressourcen optimieren und Hebelwirkungen vergrößern. Oder ist sie von existenzieller Bedeutung? Das würde bedeuten, dass die Wahrung der vitalen und wichtigen Interessen der EU zugleich auch über die Interessen Deutschlands entscheidet.

Im ersten Fall wäre die Berliner Außenpolitik zuerst deutsche Politik, die sich der europäischen Ebene bedient. Die EU müsste handlungsfähig sein, ohne die deutschen Fähigkeiten zu überlagern. Die intergouvernementalen Züge der EU unterstützen diesen Zweck und geben den Regierungen die Kontrolle über die Integrationsdynamik. Es handelt sich um einen Ansatz, bei dem die EU funktional ins Spiel kommt – gebündelt in Teilbereichen wie der Handelspolitik, ergänzend in anderen Feldern wie der Entwicklungspolitik und humanitären Hilfe, punktuell wie im Kosovo-Konflikt oder zur Ausbalancierung der eigenen Position, etwa wenn ein eher pro-israelischer Kurs von einem tendenziell pro-palästinensischen europäischen Kurs flankiert wird. Dazu bräuchte es „mehr Europa“ nur dort, wo sonst größere Belastungen für Deutschland entstünden.

Verstehen wir uns nur als ein größeres Schweden?

Unter diesen Prämissen würde Deutschlands Außenpolitik primär die Politik eines Handelsstaates sein, der seine Interessen unter Vermeidung machtpolitischer Konflikte und mithilfe multilateraler Regeln zu wahren sucht. Die Kontrolle negativer Auswirkungen von Konflikten in der Welt würde Vorrang vor deren Bewältigung besitzen. Dem ließe sich als Note noch die Werbung für das eigene Modell der freiheitlichen Demokratie, der Versuch einer nachhaltigen Wirtschaftsweise und die Sorge um globale Fragen hinzufügen – Deutschland als Nachbar, Freund und Partner der Gutwilligen dieser Welt, ein „Softie“ im Verbund mit einer soft power EU. Das Vorbild könnte Schweden sein, dessen Einfluss und Gewicht im europäischen Kontext ungefähr dem Deutschlands in der Welt entspricht.

Im zweiten Fall verstünde sich die deutsche Außenpolitik im Kern als europäische Politik. Sie sähe ihre wesentlichen Interessen vollständig in der EU aufgehoben, handelte im Grundsatz durch die EU und würde die Ebene nationaler Außenbeziehungen bloß als ergänzende Option betrachten. In dieser Perspektive kann sich die deutsche Außenpolitik mit dem Zustand der Integration nach innen wie außen nicht zufrieden geben. Vielmehr müsste sie konsequent an der Entwicklung europäischer Ko-Staatlichkeit arbeiten.

Welche Fortschritte Europa jetzt dringend braucht

Nach innen braucht Europa mehr als Notoperationen, die die Eurozone gerade so zusammenhalten. Vonnöten ist eine dauerhaft tragfähige Währungs- und Wirtschaftsunion möglichst vieler EU-Staaten mit hinreichender Solidarstruktur. Dafür muss die deutsche Politik das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten umkehren: Ob eine umfassende Governance-Reform der EU gelingt, kann nicht dem Kalkül des Augenblicks einzelner Regierungen überlassen bleiben. Schließlich hängt die Stabilität des Euroraums davon ab. Deutschland muss Regeln vorantreiben, die nicht einzelne Staaten, sondern alle Mitgliedsländer binden, beispielsweise ein gemeinsam gesetztes „europäisches Veto“ bei exzessiven nationalen Haushaltsentwürfen und, darauf gestützt, gemeinsam kreditfinanzierte Investitionen in die transnationale Infrastruktur. Gemeinsame Handlungsfähigkeit ist besser und billiger als ein gutmütiger Hegemon. Anstatt den Mitgliedsstaaten und nationalen Parlamenten ein Vetorecht zu geben, sollte Deutschland auf Kompetenzabgrenzung und demokratische Legitimation setzen. Es mag in Berlin attraktiv erscheinen, der Integration ins Räderwerk zu greifen. Aber wenn alle so handeln würden, wären Blockaden anstatt Beschleunigung die Folge.

Nach außen braucht die EU einen Maßstab flexibler Handlungsfähigkeit, mit dem sie angemessen auf Krisen und Konflikte reagieren kann. Zum Beispiel sind die Aufgabe und Rolle des Hohen Beauftragten und des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) zu präzisieren. Handelt es sich um den 29. Akteur im Feld der Außenpolitik? Dann wären auf der Basis der gemeinsamen Visa-, Einwanderungs- und Asylpolitik der Schengen-Staaten die konsularischen Aufgaben im EAD zusammenzufassen. Oder sind der Hohe Beauftragte und der EAD die außenpolitischen Schnittstellen? Dann wären die Felder des gemeinsamen Handelns klarer zu bestimmen: die Politik gegenüber den östlichen und südlichen Nachbarn, die strategischen Beziehungen zu den großen Mächten der Weltpolitik sowie die Reaktionen im Krisenfall. Dazu wäre es erforderlich, alle außenpolitischen Instrumente der EU in der Hand des europäischen Außenministers (der auch so heißen sollte) zu bündeln.

So oder so muss die inzwischen zehn Jahre alte Europäische Sicherheitsstrategie regelmäßig überprüft werden. Auch wenn sich die Weltlage nicht grundsätzlich verändert hat, sind Herausforderungen wie die Cyber-Sicherheit hinzugekommen. Ferner ist die Bedeutung souveräner Machtpolitik zulasten multilateraler Handlungsfelder gewachsen. Auf beides muss Europa strategisch reagieren.

Die Konflikte der letzten Jahre haben außerdem gezeigt, dass die Europäer bessere Instrumente der Krisenbewältigung benötigen. Diplomatische Mittel greifen nicht, wenn es um schwache Regierungen und Staatsversagen geht. Militärische Mittel sind meist erst auf einer Stufe der Eskalation zu rechtfertigen, wo begrenzte Militäreinsätze nicht mehr hinreichend wirken können. Eine umfassende Intervention von außen mit dem Ziel des anschließenden staatlichen Neuaufbaus hat bisher in keinem Fall zum gewünschten Erfolg geführt. Europa braucht deshalb stärkere Fähigkeiten im Zwischenraum der beiden Pole: Krisenfrüherkennung und -prävention, schnellere und sichtbarere humanitäre Hilfe (nicht zuletzt um die Spannung zwischen normativer und realpolitischer Ebene zu reduzieren), Hilfe beim Wiederaufbau. Dabei müssen sich die Europäer von der Fiktion lösen, ihr eigenes Modell exportieren zu können. Frieden, Stabilität und Entwicklung sind wichtigere Voraussetzungen für ein besseres Leben als eine pluralistische Demokratie. Diese kann und soll folgen, allerdings auf der Basis von Entscheidungen der Betroffenen selbst.

Deutschland ist zu groß, um nur mit zu schwimmen

In diesem Sinne sollte die deutsche Politik die zivile Macht Europas stärken. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die militärische Sicherheit Europas gefährdet ist. Glücklicherweise wird die territoriale Integrität der EU derzeit von niemandem ernsthaft bedroht, doch dies kann sich mittelfristig ändern, wenn Europa sich nicht glaubwürdig verteidigen kann. Die bisherigen Erfahrungen der Streitkräftereform in den EU-Staaten sind ernüchternd. Weder in der EU noch in der Nato ist es gelungen, eine wirklich effiziente Form der Zusammenarbeit zu finden, und sie wird auf der Basis nationaler Kooperationsprojekte auch nicht gefunden werden. Um Redundanzen wirksam zu beseitigen, sollte Deutschland deshalb einen Paradigmenwechsel anstoßen. Im Rahmen der ständigen strukturierten Zusammenarbeit könnte Berlin anbieten, die Landesverteidigung in einem umfassenden Sinn zu integrieren, unter einer politischen Führung und einem Kommando. Partner der Initiative sollten Frankreich und Polen sein, weitere Staaten Nordeuropas, des Baltikums und Ostmitteleuropas könnten hinzukommen. In diese Struktur könnte Deutschland Spezialkräfte unter nationalem Kommando einbetten, die zu Einsätzen jenseits der Landesverteidigung vorgehalten werden. In einem späteren Schritt könnte eine stehende Eingreiftruppe dieser Staaten gebildet werden, die zur Legitimation von Einsätzen eine eigene parlamentarische Instanz benötigte. Damit würde die ursprüngliche Idee des Eurocorps erfüllt.

Lange hat sich die deutsche Außenpolitik im europäischen Rahmen klein gemacht und auf andere gesetzt, wenn es um das Verfolgen eigener Interessen ging. Dieser Ansatz konnte solange funktionieren, wie die Vereinigten Staaten die eindeutige Führungsrolle einnahmen und Deutschland den Abstand zur amerikanischen Linie gering hielt. Beide Voraussetzungen sind nicht länger gegeben. Daraufhin hat die deutsche Außenpolitik Gefallen an einer „Britannisierung“ der eigenen Rolle in Europa gefunden: Deutschland hat ein eher instrumentelles Verhältnis zur EU entwickelt und versucht, den Kurs der europäischen Politik durch einen deutschen Zustimmungsvorbehalt zu steuern – es handelte sich gewissermaßen um „hegemony by denial“. Ohne eine integrationsvertiefende Gestaltungskoalition und eine mit ihr zusammenwirkende Europäische Kommission ist diese Rolle aber ebenfalls nicht mehr möglich. Stattdessen frisst sich der vorherrschende Intergouvernmentalismus wie Rost in die Strukturen der Integration. Von Deutschland ist er nicht aufzuhalten, weil Berlin ihn selbst munter betreibt.

Deutschland ist zu groß, um im EU-Schwarm nur mit zu schwimmen, aber nicht groß genug, um dessen Richtung alleine zu bestimmen. Diese Lage kann Berlin nicht ändern. Die deutsche Außenpolitik sollte sich deshalb auf ihre relative Stärke besinnen: Berlin kann der EU eine Richtung geben, wenn es eine Strategie mittlerer Reichweite für Europa entwickelt, die verschiedene Felder der Integration verknüpft, anstatt Einzelentscheidungen aneinanderzureihen. Diese Strategie wirkt, wenn Deutschland Partner findet und bindet. Die Vorstellung, hinter dem Wunsch nach mehr Engagement und Führung aus Berlin verberge sich nur die Absicht, Deutschland auszunutzen, ist bequem und falsch zugleich: Ohne Deutschland ist Europa führungslos. Ohne Deutschland wird keine Gestaltungskoalition für ein handlungsfähiges Europa Erfolg haben.

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