Deutsche Märchen

Plötzlich ist Kinderkriegen wieder eine nationale Aufgabe. Die Aufforderung zum allgemeinen Gebären bleibt aber verlogen, solange nicht klar ist: Wer mehr Kinder will, muss freundlich zu ihnen sein - auch in Anwaltskanzleien und Zeitungsredaktionen

Es ist wieder Märchenstunde in Deutschland. Die publizistischen Märchenonkel erzählen traurige Geschichten über ein Land, das keine Kinder mehr kriegt. In ihren Märchen spielen egoistische Frauen eine Hauptrolle, denen über die Jahre die Opferbereitschaft abhanden gekommen ist. Diese Frauen weigern sich, ihre nationale Aufgabe zu erfüllen, die darin besteht, die Geburten-Ziffer hinter dem Komma heraufzutreiben und Deutschland so vor dem Aussterben zu bewahren. Ganz so, als wäre die Entscheidung für ein Kind nicht die ur-persönliche Sache von Eltern, sondern ein Dienst an der Gemeinschaft, an der Rentenkasse, an der Nation, am Volk. Schon an dieser Stelle tun die Märchen der Onkel weh.

Nur noch lächerlich ist der anschwellende Baby-Boom-Gesang aber, wenn man sich die Onkel näher ansieht. Sie selbst haben der Nation in der Regel gerade mal ein Kind geschenkt und leben in klassischen Konstellationen: Papi arbeitet, Mami ist zu Hause. Zeitungen und Magazine, die sich lauthals um die kollektive Fortpflanzung bemühen, geben intern jungen Kolleginnen zu verstehen, dass Kinder zwar eine prima Sache sind – aber nicht gerade für eine Redakteurin, die noch etwas werden will. So wie in den Redaktionen geht es auch in Anwaltskanzleien und Krankenhäusern zu. Wohl jeder, der junge, gut ausgebildete Frauen kennt, kann von Einstellungsgesprächen berichten, in denen mehr oder weniger unverblümt gefragt wurde: „Sie wollen doch nicht etwa ein Kind bekommen?“ Das ist das Deutschland, über das wir sprechen sollten.

Es gibt in Deutschland eine Kultur, in der das Kind entweder überhaupt nicht vorkommt – oder als Feind. Oft wird dies folkloristisch verbrämt. Der Italiener oder der Spanier ist halt kinderlieb. Das klingt wie: Er ist ein sentimentaler Depp, der sich zu einer spinnerten Gefühlsduselei verleiten lässt. Die deutsche Kinderfeindlichkeit ist jedoch keineswegs ein Problem kollektiver Mentalität, sondern bereits institutionalisiert. Sie ist nicht nur Bestandteil, sondern Grundbaustein unseres Arbeitslebens.

Während es anderswo in Europa kreative Teilzeitmodelle auch Vätern ermöglichen, einen Tag pro Woche oder einen Monat im Jahr für ihre Kinder da zu sein, ist in Deutschland ein ganzer Kerl nur, wer jeden Tag bis um acht oder neun Uhr abends im Büro hockt. Ganz unabhängig übrigens von der Frage, ob wirklich etwas zu tun ist. Aber wer früher geht, ist ein Weichei und Drückeberger.

60 Stunden pro Woche, mindestens

Ich kenne Redakteure, die sich und ihren Kindern flexible Regelungen erkämpft haben, aber die sich über Jahre hinweg immer wieder die gleichen dummen Sprüche anhören müssen, wenn sie ein Mal pro Woche um 16 Uhr gehen, um pünktlich da zu sein, wenn der Kindergarten schließt. Auf der anderen Seite erlebe ich immer wieder Wirtschaftsmanager, die damit prahlen, dass sie 60 Stunden pro Woche arbeiten. Mindestens.

Als ich mit 23 Jahren Vater wurde, machte ich gerade meine Ausbildung. Ich absolvierte Stationen in Frankfurt, Dresden, Erfurt, Hamburg und Berlin. An den Wochenenden fuhr ich tausende von Kilometern durch Deutschland, um bei meiner Tochter zu sein. Ich war modern, flexibel, belastbar – und für meine Tochter ein todmüder Geist, der für zwei Tage einschwebte. In dieser Zeit schaffte ich es nicht, mir die Namen der Kindergärtnerinnen zu merken. Oder der Freundinnen meiner Tochter. Ihr Leben war ein unscharfes Bild, das an mir vorbeirauschte.

Ich habe daraus die Konsequenz gezogen und arbeite nun freiberuflich dort, wo meine Tochter wohnt. Wenn sie Geburtstag hat, feiere ich mit ihr. Wenn sie eine Aufführung am letzten Schultag hat, sitze ich unter den Zuschauern. Diese Termine sind mir genau so wichtig wie wichtige Interviews.

In der Entweder-oder-Gesellschaft

Ich kenne nicht alle Namen ihrer Lehrer, aber ich weiß, wer ihr Berge von Hausaufgaben aufgibt und wer ihr Lieblingslehrer ist. Was sich wie ein unrealistisches Idyll anhört, sollte Normalität sein. Ist es aber nicht in Deutschland. Der Grund: In unserer Entweder-Oder-Gesellschaft ist es kein Wert an sich, den Geburtstag seiner Tochter feiern zu können oder die Premiere des Schultheaters mitzuerleben. Es ist dagegen ein Wert an sich, so wichtig zu sein, dass es unmöglich ist, dieses Gedöns in seinem Terminkalender berücksichtigen zu können.

Bevor man also zum Gebären im Dienste der Nation aufruft, müssen Strukturen geschaffen werden, die das Leben mit Kindern erleichtern. Wie viele Betriebe haben denn einen Kinder-Hort? Die spezielle deutsche Arbeitsethik des Ganz-oder-gar-nicht lässt sich nicht per Dekret oder Absichtserklärung wegzaubern. Aber Modelle, die Kind und Beruf miteinander möglich machen, lassen sich organisieren. Es gibt sie in Skandinavien. Es gibt sie aufgrund gesellschaftlicher Vereinbarungen, die zustande kommen, wenn Kinder wichtig genug genommen werden.
Die immer wieder beschworene Flexibilität und Mobilität muss auch für Arbeitgeber gelten: Internet und Mobiltelefone ermöglichen es, Arbeit räumlich flexibel zu organisieren. Aber in vielen Büros in Deutschland herrscht Präsenzpflicht, als wäre die Welt in den fünfziger Jahren eingefroren. Die Mütter und Väter jedenfalls profitieren nicht von dem technischen Fortschritt.

Unsere Gesellschaft scheint zu glauben, dass eine Milchmädchenrechnung aufgeht: So viel Arbeit wie möglich, so viel Einkommen wie möglich, so viele Kinder wie möglich. Jede Mutter und jeder Vater aber weiß, dass Kinder vor allem Zeit kosten. 60-Stunden-Wochen machen einen Workaholic vielleicht glücklich – sein Kind sicher nicht. Die einfachste Lösung ist natürlich, alles beim Alten zu belassen. Die Frauen besorgen wieder die Aufzucht, Papa geht arbeiten. Bei manchem Märchenonkel frage ich mich, ob er das Modell der Wirtschaftswunderjahre ernsthaft für eine Zukunftsvision hält.

Es fehlt an passenden Männern

Was an der Diskussion besonders nervt, ist der raunende Ton, die kollektive Schwarzmalerei, die sich ganz konsequent um Tatsachen herum drückt. Es gibt, von keinem Mahner und Seher beeinflussbar, ganz einfache Gründe dafür, dass Frauen bei uns weniger oder keine Kinder kriegen. So steigt seit Jahren die Zahl der Single-Haushalte. Es ist eine Banalität, aber eine, die nicht zur Kenntnis genommen wird: Eine Frau, die keinen Mann hat, wird in den seltensten Fällen ein Kind bekommen. Diese allgemeinen Entwicklungen unserer Gesellschaft können wir bejammern und kulturpessimistisch anprangern. Dadurch wird keine Frau einen Partner finden. Auch ich kenne eine Handvoll Frauen, die gern Mutter wären, wenn sie denn den passenden Mann hätten. Haben sie aber nicht. Vielleicht findet sich ja demnächst noch ein Märchenonkel, der es sich zur Aufgabe macht, die Partnersuche von Frauen im gebärfähigen Alter zur nationalen Mission zu erklären. Das heißt nicht, dass Familienpolitik nichts tun könnte. Sie kann, und sie tut ja auch. Jetzt kommt also das Elterngeld. Eine Motivation für berufsstätige Frauen, im ersten Jahr bei ihrem Kind zu bleiben. Bis zu 1.800 Euro im Monat. Kind gegen Geld. Eine einfache Rechnung. Aber geht sie auf? Schön wäre es, das Elterngeld kostet ja schließlich genug. Doch ist zu befürchten, dass dies ein teures aber wirkungsloses Werkzeug wird.

Die Frauen, die mit dem Elterngeld zur Schwangerschaft animiert werden sollen, entscheiden sich in der Mehrheit nicht aus finanziellen Erwägungen für oder gegen ein Kind. Sie verdienen bis zur Geburt ihres Kindes gut, und in der Regel verdient auch der Partner gut. Diese junge Elite muss also nicht anfangen zu rechnen, wenn ein Kind kommt. Vielleicht streichen diese Eltern den dritten Urlaub im Jahr oder überlegen, ob sie wirklich zwei Autos brauchen. Aber in diesem ersten Lebensjahr ihres Kindes kommen sie nicht nur über die Runden, sondern müssen auch ihren mondänen Lebensstil nicht aufgeben.

Das Elterngeld als verfehlte Wohltat

Das Elterngeld lässt eine ganz elementare Tatsache außer Acht: Wer ein Kind bekommt, bleibt ohnehin erst mal zu Hause. Sechs Monate, zehn Monate oder ein Jahr. Ein Kind braucht am Anfang seine Eltern. Voll und ganz. Das weiß jeder, der ein Kind bekommt. Das Zuhausebleiben in den ersten Monaten muss darum nicht erkauft werden. Einer bleibt ohnehin beim Baby. Der Staat alimentiert also künftig eine Selbstverständlichkeit. Ich kenne auch niemanden, der Angst davor hat, dieses erste Jahr finanziell nicht zu überstehen. Für die finanziell Schwachen gab es bisher das Erziehungsgeld. Das war sinnvoll. Die anderen kamen auch ohne Staat zurecht.

Wenn ein bezahltes Mutter- und Vaterjahr aber kein entscheidender Anreiz ist, sich für ein Kind zu entscheiden, dann ist dieses Instrument ungerecht. Denn das Elterngeld ist eine finanzielle Wohltat für die, die es nicht brauchen. Und selbst wenn die Armen nun auch ein paar hundert Euro bekommen sollen, ist nicht einzusehen, warum der Staat reiche Eltern mehr fördern sollte als arme.

Das Argument, in anderen Ländern habe ein Elterngeld die Geburtenrate erhöht, ist fragwürdig. In den Ländern mit vielen Kindern ist die Gesellschaft weiter: Da will man nicht nur Kinder, sondern tut auch mehr, um sie in das Berufsleben zu integrieren und diskutiert sie nicht nur als Problemfaktor. Entscheidend ist nicht so sehr das erste Jahr der Kinderbetreuung, sondern die darauf folgenden. In der großen Mehrzahl sind es die Frauen, die nach einer Pause wieder in ihren Job zurückkehren. Wie das aussehen kann, habe ich von einer jungen Akademikerin erfahren, die ihre anspruchsvolle Arbeit in einer sozialen Einrichtung wieder aufnehmen wollte. Ihre Position war mittlerweile anderweitig vergeben. Ihr Arbeitgeber kritzelte auf einen Schmierzettel ihren neuen Aufgabenbereich: als Putzfrau. Natürlich war das gesetzwidrig. Natürlich stand ihr eine Tätigkeit zu, die der entsprach, die sie vor der Mutter-Pause ausübte. Aber das scherte den Arbeitgeber nicht. Er wollte sie offenbar zermürben und eine Kündigung provozieren. Die junge Akademikerin nahm sich einen Anwalt und erfuhr, dass sie vorsichtig sein müsse, auch wenn ihr Arbeitgeber sie demütigte und offenkundig gegen geltendes Recht verstieß. Der Streit zog sich über Monate hin. Am Ende einigte man sich: Es gab eine Abfindung, der Job war weg. Dieser Arbeitgeber erhält für seine sozialen Einrichtungen öffentliche Gelder. Nicht allein seine Dreistigkeit ist erstaunlich, sondern auch der Umstand, dass er offenbar meinte, sich diese Unverschämtheit erlauben zu können.

Die Rückkehr in den Beruf funktioniert nicht

Der Fall ist sicher eine Ausnahme. Aber an der Schnittstelle zwischen Elternzeit und Rückkehr in den Beruf stolpern viele, weil es in Deutschland an allem fehlt, was diesen Wechsel erleichtern würde. Flächendeckende Tagesbetreuung gibt es nur in Ostdeutschland. Teilzeitmodelle sind zwar rechtlich einklagbar, aber praktisch vielfach unmöglich, weil nicht vorgesehen. Gibt es auch nur einen deutschen Manager, der ein Jahr aus dem Konferenzzimmer ins Kinderzimmer umgezogen ist? Der nach einer Familienzeit zurückkehrt in den Vorstand und diesen mit neuem Elan aufmischt? Mir ist keiner bekannt. Mir sind in Deutschland auch keine Unternehmen bekannt, die eine solche Philosophie akzeptieren würden. Die deutschen Märchen sind schizophren. Viele im Land schreien nach Kindern. Aber keiner tut etwas, damit sie einen festen, selbstverständlichen Platz in der Gesellschaft bekommen.

Für Männer bedeutet das: Sie leben noch stärker als Frauen in Extremen. Ein bisschen oder drei Viertel arbeiten – das ist für sie noch weniger möglich, weil es dafür keine Modelle gibt. Frauen müssen es jeden Tag aushalten, dass ihnen im Job ein schlechtes Gewissen gemacht wird, weil sie Mütter sind. Für Männer bleiben oft nur zwei Alternativen: 120-prozentig arbeiten und ein unsichtbarer Vater werden – oder aus dem Job aussteigen und Vollvater werden. Das Glück liegt jedoch irgendwo in der Mitte. Für viele bleibt es unerreichbar.

Familienpolitik ist ein Stellungskrieg ohne nennenswerte Schritte nach vorn. Besonders das Feld der Ganztagsschulen und Kindergärten ist eine Kampfzone, in der sich die Ideologen beharken. Die Konservativen beklagen den drohenden Verlust der familiären Nestwärme. Die Linken rufen so laut nach der Rundum-Betreuung – so als bekäme irgendwer Kinder, um sie möglichst lange am Tag abzugeben. Familien und Pädagogen sind aber keine Feinde. Beide Eltern können nur dann guten Gewissens arbeiten gehen, wenn sie wissen, dass die Kinder nicht nur verwahrt werden, sondern betreut, umsorgt, gefördert.

Es ist absehbar, dass die Milliarden für das Elterngeld beim Ausbau der Ganztagsbetreuung fehlen werden. Die aber ist im Gegensatz zu der Frage, wie das erste Jahr finanziert werden kann, nun wirklich eine existenzielle Frage. Wenn es bei der Rückkehr in den Job keine Schwierigkeiten gibt, fangen die Probleme in den meisten Städten gegen Mittag an: Es gibt zu wenig Kindergartenplätze. Viele Kindergärten schließen lange bevor die Büros schließen. Viele Mütter gehen halbtags arbeiten, um das gesamte verdiente Geld anschließend einer privaten Nanny in die Hand zu drücken. Der Staat kann nicht viel tun, um Kinder zu locken. Aber wer arbeitet, muss wissen, dass seine Kinder regelmäßig, gut und bezahlbar versorgt werden. Wer Familie und Karriere wirklich plant, kann auf vieles verzichten. Auf verlässliche Kinderbetreuung nicht. Das betrifft Männer und Frauen in gleicher Weise. Und es betrifft vor allem Paare, bei denen beide arbeiten.

Statt mit Märchen sollten wir also mit einigen nüchternen Wahrheiten anfangen. Kinderkriegen ist eine persönliche Sache, steuerbar weder mit pathetischen Appellen noch mit Geld allein. Die Möglichkeiten von Familienpolitik sind begrenzt. Solange wir uns so organisieren, dass wir immer vor der Alternative stehen, entweder ein Kind zu haben oder zu arbeiten, wird sich daran nichts ändern. Da können die Märchenonkel noch so schaurige Geschichten erzählen.

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