Des Fortschritts kleine Helfer

Über Bakterien, Viren und andere Keime, ihre Mutationen und deren Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung

Zu den zentralen Fragestellungen der Sozialwissenschaften zählt die Erkundung der Kräfte, die Gesellschaften zusammenhalten, ihr Auseinanderbrechen verhindern und ihre Entwicklungen vorantreiben, so Karl Marx‘ historischer Materialismus, Ralf Dahrendorfs Konflikttheorie, die von Talcott Parsons mitbegründete strukturfunktionalistische Theorie oder die um den Begriff der Autopoiesis kreisende Luhmannsche Systemtheorie - um einige prominente Ansätze zu nennen. Allerdings: Die Sozialwissenschaften haben sich vorwiegend auf eine Ursachensuche innerhalb von Gesellschaften konzentriert.

Die Frage kann aber auch lauten: Welchen Beitrag zum sozialen Wandel - zum immerwährenden gesellschaftlichen Veränderungsprozess - spielen klimatische Veränderungen? Naturkatastrophen? Oder die Änderungen, die sich auf der mikrobiologischen Ebene vollziehen.

Jedes Jahr im Herbst erleben wir regelmäßig wiederkehrende Aufforderungen in der Tagespresse, sich gegen die drohende Grippegefahr impfen zu lassen. Jedes Jahr erneut. Warum? Weil der Erreger der Grippe jedes Jahr in einer veränderten, mutierten Art auftritt und es deshalb eines neuen Impfserums bedarf. Jährliches Impfen hat heute, hierzulande keine besonderen gesellschaftlichen Konsequenzen. Doch aus der Geschichte sind uns krasse Beispiele von sozialem Wandel, der durch massenhafte Infektionen, Seuchen, Epidemien oder Pandemien induziert wurde, überliefert.

Die biblischen Plagen führten zum Exodus. Die Pest des 14. Jahrhunderts, der Schwarze Tod, raffte etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahin und führte zu einer fundamentalen Umwälzung des Sozialgefüges. Choleraepidemien leisteten ihren Beitrag zum Aufbau einer funktionierenden Frischwasserversorgung und Abwasserentsorgung in den Großstädten. Und auch in unseren Zeiten sind die Infektionskrankheiten noch lange nicht von Wissenschaft und Medizin unter Kontrolle gebracht worden: Der afrikanische Kontinent erlebt zurzeit eine pandemische Ausbreitung des HI-Virus mit noch unabsehbaren Folgen.

Wenn der Mensch und ein Krankheitserreger aufeinandertreffen, kommt es als keinesfalls unwichtige Randerscheinung der eigentlichen Infektion zur Herausbildung von Resistenzen. Das menschliche Immunsystem ist bemüht, gegen zukünftige Konfrontationen mit einem Virus oder Bakterium gewappnet zu sein. Wir haben es fast alle am Beispiel der Kinderkrankheiten erlebt - wer einmal die klassischen Kinderkrankheiten Mumps, Masern oder Windpocken durchlebt, hat sich dieses Problems entledigt. Das Immunsystem hat Antikörper gebildet und ist vor einer neuen Infektion mit dem bekannten Erreger geschützt.

Dieser Vorgang scheint sich allerdings nicht nur bei Individuen, sondern auch bei ganzen Populationen zu vollziehen. Zwischen den von der Krankheit Befallenen und den Erregern pendelt sich früher oder später ein Gleichgewicht ein. Sie werden zu Wirt und Parasit und leben in einer Art friedlicher Koexistenz. Nur der Parasit oder Erreger, der seinen Wirt nicht sofort tötet, kann selbst langfristig überleben. So etablierten sich einst unsere heutigen Kinderkrankheiten. Ein Erreger, der - irgendwie mutiert - plötzlich auch Menschen befallen konnte, brach in eine Population ein und forderte seine Opfer. Letztlich konnte sich aber nur der Erreger etablieren, der die Infizierten nicht tötete. Und infiziert wurden fortan die, deren Immunsystem noch nicht alle Antikörper besaß, doch hochflexibel war: junge Menschen, Kinder.

Im Schlepptau dieser Prozesse entwickelt sich auch ein anderes Ungleichgewicht. Die Populationen, die gegen einen Erreger Resistenzen entwickelt, ihn quasi domestiziert haben, erringen einen immunologischen Vorteil gegenüber den Populationen, die noch keinen Kontakt mit eben diesen Verursachern von Krankheit hatten. Auch hier liefert die Geschichte Beispiele: Sicherlich hat die Waffentechnik der spanischen Konquistadoren bei der Eroberung des Aztekenreiches eine wichtige Rolle gespielt, doch die Auswirkungen der diversen von den Europäern eingeschleppten Infektionskrankheiten, gegen die keines der Völker der amerikanischen Kontinente irgendwelche Resistenzen besaß, leisteten einen dramatischen Beitrag.

Der Adel, der in den vergangenen Jahrhunderten die obere Bevölkerungsschicht stellte, muss diese Zusammenhänge intuitiv erkannt und gefürchtet haben und hat den Kontakt zum einfachen Volk stark eingeschränkt oder gar gänzlich gemieden. Nur ein europäischer Herrscher erlag der Pest des 14. Jahrhunderts. In der indischen Gesellschaft wurde ein Teil der Bevölkerung gleich ganz für unberührbar erklärt.

Zurzeit sind Seuchen zusätzlich zu einem medialen Ereignis geworden. Jeder Fall einer von einem ahnungslosen und möglicherweise schlecht geimpften Touristen eingeschleppten exotischen tropischen Infektionskrankheit hilft den Medien gern über die Saure-Gurken-Zeit. Etliche Infektionskrankheiten sind in den neunziger Jahren neu oder erneut aufgetreten. Insgesamt hat sich die epidemiologische Gefahr erhöht. Zwar wurde in den letzten 50 Jahren sogar eine Infektionskrankheit, die Pocken, gänzlich ausgerottet, andere wurden weitgehend zurückgedrängt, bleiben aber bedrohlich, hinzu kommt eine Vielzahl neuentdeckter Erreger. Das Thema emerging infections ist zu einer Spezialdisziplin der Infektiologie geworden.

Haben wir mit der Gentechnik nun endlich ein Instrument, die Gefahr von Infektionskrankheiten endgültig zu bannen? Diese Technologie eröffnet der Wissenschaft vielfältige Möglichkeiten, in einen Status Quo, der durch einen Millionen von Jahren dauernden Evolutionsprozess entstanden ist, einzugreifen. Pflanzen und Lebewesen - erst Bakterien, dann auch der Mensch - werden designbar. Doch sind die Folgen wirklich abzuschätzen? Dass Nussallergiker plötzlich keinen Mais mehr essen dürfen, zählt noch zu den kuriosen und harmlosen Randerscheinungen der jungen Technologie. Was geschieht jedoch, wenn gefährliche, zum Beispiel besonders widerstandsfähige Mikroorganismen den Laboren entweichen? Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann wieder Resistenzen entwickelt werden und die Natur sich ihren normalen Gleichgewichtszustand zurückholen wird, ist groß. Aber zu welchem Preis?

Die Bundesregierung hat mit dem Beschluß zum Ausstieg aus der Atomenergie belegt, dass dieses Land in der Lage ist, sich von einer Technologie zu verabschieden, die sich als undemokratisch, unökologisch, insgesamt als eher schädlich denn nützlich erwiesen hat. Im Bezug auf die Gentechnologie beginnt die Diskussion gerade erst und es wird ein langer Weg sein, um hier die richtigen Grenzen zu finden.

Das Phänomen des durch Viren induzierten Fortschritts kommt übrigens nicht nur in der natürlichen Umwelt vor. Wurden und werden nicht auch in Zeiten des Internets Computersysteme aufgrund einer Gefahr, die von Computer-Viren ("I love You") ausgeht, ständig verbessert und mit Antikörpern in Form von Virenscannern ausgestattet?

Manchmal sind es kleine Dinge, auf die es ankommt.

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