Der wahre Möllemann

Als seriöser Politiker gescheitert, hat sich Jürgen W. Möllemann zum Vorkämpfer der sprachlosen Anti-68er aufgeschwungen. Vielleicht ist seine Ära gerade erst angebrochen


Ein Skorpion und ein Frosch stehen am Ufer des Flusses.
"Trägst du mich rüber?", fragt der Skorpion.
"Ich denke ja gar nicht daran", entgegnet der Frosch. "Wenn ich dich auf meinem Rücken rübertrüge, würdest du mich bestimmt stechen."
"Warum sollte ich das tun? Dann ertrinken wir doch beide." Das leuchtet dem Frosch ein, und so nimmt er den Skorpion auf seinen Rücken und beginnt, den Fluss zu überqueren. Als sie auf der Mitte des Weges sind, sticht der Skorpion den Frosch.
"Warum tust du das?", jault der Frosch "jetzt werden wir beide ertrinken."
"Das weiß ich." sagt der Skorpion da. "Aber ich kann nun mal nicht anders. Es ist meine Natur."


Manchmal können einem schon Zweifel kommen, ob die Person Jürgen Wilhelm Möllemann real existiert. Kann es wirklich einen Politiker geben, der - wie scheinbar er - sämtliche schlechten Politikereigenschaften in sich vereint? Auf den im Laufe seiner Karriere alle denkbaren Synonyme für Unseriosität und Unzuverlässigkeit verwendet wurden? Der ständig als Tausendsassa und Springinsfeld, Luftikus und Tunichtgut bezeichnet wurde?

Wie wahrscheinlich ist es, dass jemandem immer wieder Egoismus, Machtstreben und Opportunismus vorgeworfen wird, dieser Jemand aber gar nichts davon dementiert, so dass einen das Gefühl beschleicht, er verspotte im stillen Kämmerlein all die Pharisäer in den Medien und der Politik, die nicht einsehen, dass doch bei Nacht alle Katzen irgendwie grau sind? Und die ihn der "Mediengeilheit" bezichtigen und ihm danach gleich ihre Mikrofone unter die Nase halten? So unwahrscheinlich das alles ist - natürlich haben wir alle keinen Zweifel daran, dass Jürgen W. Möllemann eine reale Person der deutschen Politik war und ist - und vielleicht noch lange bleiben wird.

Im Grunde ist es ja auch unerheblich, ob Jürgen W. Möllemann tatsächlich die "Karikatur ist, welche die Wirklichkeit auf die Spitze treibt" (Charlotte Wiedemann). Aus politologischer Sicht geht es beim Phänomen Möllemann um etwas anderes. Denn nach bisherigen Maßstäben hätte die Karriere Möllemanns bereits etwa ein halbes Dutzend mal unwiderruflich zu Ende sein müssen. Im Laufe seines turbulenten politischen Lebens hat Möllemann kaum einen Fettnapf ausgelassen.

Möllemann hat fast jeden seiner "Parteifreunde" verraten - und sich mit allen wieder versöhnt. Er hat jeden seiner Vorsitzenden (bis auf einen) zu stürzen versucht und jeden Kurswechsel mitgemacht, der seiner Karriere nützlich schien. Kurz gesagt: Möllemann hat im Grunde nicht nur jeden Anspruch verspielt, ein seriöser Politiker zu sein - er hat sich dabei auch so viele Feinde in der FDP gemacht wie überhaupt nur möglich. Wer Möllemanns Weg über jetzt bald dreißig Jahre publizistisch verfolgt hat, der könnte einen ganzen Ordner nur mit Nachrufen auf seine politische Karriere füllen. Und doch stieg Jürgen W. Möllemann immer wieder wie der antike Wundervogel Phoenix aus der Asche empor. In der deutschen Parteiengeschichte ist das ein vermutlich einzigartiger Vorgang, der einer Erklärung bedarf.

So eindeutig sich Guido Westerwelle aus den kulturellen und intergenerationellen Konflikten seiner Zeit deuten lässt, so unmöglich erscheint das auf den ersten Blick bei Möllemann. Bis zum Wendejahr 1969 ist Möllemann CDU-Mitglied, danach tritt er der FDP bei. Gleich bei der ersten Versammlung des Münsteraner Kreisvorstandes bringt er 45 Kameraden mit und erobert mit ihrer Hilfe sofort den Vorsitz. Und schon 1972 zieht Möllemann über die NRW-Landesliste in den Bundestag ein. Auf einem fast aussichtslosen Listenplatz ist er platziert gewesen, doch der Erdrutschsieg der Koalition spült auch den 27-Jährigen ins Parlament.
Dort wird er zunächst für einen typischen Vertreter des damaligen FDP-Nachwuchses mit APO-Erfahrung gehalten. Denn Möllemann demonstriert an der Seite von DKP-Funktionären gegen den Vietnamkrieg und geißelt den US-Imperialismus. Aber natürlich bedeuten "68" und die Folgen nicht das ideelle Motiv, das Möllemann antreibt. Auch die Jungdemokraten spielen eine wichtige Rolle, und die Protagonisten dieser Jugendorganisation - Ingrid Matthäus etwa, Helga Schuchardt oder Günter Verheugen - werden später seine bittersten Feinde. Formal ist Möllemann Mitglied der Judos, ohne jedoch an deren seminaristischen Diskussionen teilzunehmen. Schon damals macht er sich lustig über die Politikunfähigkeit seiner Altersgenossen und ihren mangelnden Realitätssinn. Als die Zeitungen noch über Möllemann schreiben, er sei ein überzeugter Linksliberaler, hatten die Jungdemokraten längst versucht, ihn per Ausschlussverfahren hinauszuwerfen.

Möllemann hat also mit den anderen Jungfreidemokraten wenig gemein, aber auch nicht mit vielen anderen, die für die FDP im Bundestag sitzen. Hier hat mittlerweile die Front- und Flakhelfergeneration das Zepter übernommen. In ihrem Pragmatismus sind sie Möllemann verwandt, aber es gibt auch da entscheidende Unterschiede. Während Möllemann schon in jenen Jahren immer wieder erklärt, Politik müsse Spaß machen und die Leute wollten unterhalten werden, kennt die Kriegsgeneration noch den Ernstfall. Möllemann springt 1972 im Wahlkampf mit dem Fallschirm über Münster ab - die Älteren hatten dasselbe 1941 im Krieg über Kreta getan. Möllemann hält die Politik für einen Beruf wie jeden anderen, in dem es völlig unsinnig wäre zu verhehlen, dass es in erster Linie um den persönliche Aufstieg geht. Die anderen glauben immer noch, dass von ihren Entscheidungen das Wohl der Nation, Krieg oder Frieden abhängen.

Bei allen Pleiten hält Genscher seine schützende Hand über Möllemann

Doch ein Politiker dieser Generation in der FDP entwickelt für Möllemann in jenen Jahren eine unverhohlene Sympathie: Hans- Dietrich Genscher. Der hat seine Gründe. Bei beiden handelt es sich um soziale Aufsteiger. Weder können sie viel mit den altbürgerlichen Honoratioren in der FDP anfangen, noch fühlen sie sich in Gegenwart der Linksliberalen mit ihren geschliffenen Diskursen über die bürgerrechtliche oder radikaldemokratische Entwicklung der FDP wohl. Und beide haben die Macht als Wert an sich entdeckt. Fortan wird Möllemann von Genscher protegiert - zweifellos eine ganz klassische Ressource im traditionellen Drehbuch politischer Karrieren. Bei allen Pleiten hält Genscher seine schützende Hand über Möllemann. Und was nach Pleite aussieht, ist zuweilen sogar Resultat eines undurchsichtigen Teamplays. In diesen Jahren vermuten viele innerhalb und außerhalb der FDP, Möllemann sei der "Bauchredner" und "Minenhund" Genschers, der vorpresche, um für seinen Mentor das Gelände zu erkunden.

Daneben erklärt eine zweite klassische Ressource Möllemanns Aufstieg. Als er 1982 hilft, die Wende zur CDU zu vollziehen, verstärkt das nicht nur die Loyalitäten zu Genscher. Vorübergehend wird Möllemann jetzt auch zum Günstling des übrigen Establishments der FDP, das ihn fortan bei seinen innerparteilichen Beutezügen unterstützt. Noch viel wichtiger an den Vorgängen des Jahres 1982 ist aber, dass Möllemann damit alle Konkurrenten seiner Generation mit einem Schlag los wird. Entweder verlassen sie die Partei ganz, oder sie spielen in der innerparteilichen Postenvergabe keine Rolle mehr. Zu dieser Zeit beginnt Möllemanns rascher Aufstieg in der FDP-Hierarchie. Trotz aller Kapriolen, die er bereits in jenen frühe Jahren fabriziert, scheint ihm alles offen zu stehen, was für einen FDP-Politiker überhaupt erreichbar ist: Das Ministeramt, vielleicht sogar - Fluchtpunkt aller Sehnsüchte - die Nachfolge auf Genscher im Außenamt. Aber auch der Parteivorsitz könnte auf ihn zulaufen, denn nach der Generation Genschers und Lambsdorffs kommt außer Möllemann nicht mehr viel. So wird der Sohn eines Polsterers aus dem niederrheinischen Appeldorn Staatsminister im Auswärtigen Amt, Bundesbildungsminister und schließlich Bundeswirtschaftsminister.

Doch bereits in jenen Jahren wird Möllemann als Medienpolitiker bezeichnet. Schon 1981 schreibt Rolf Zundel in der Zeit, dass mit Möllemann ein neuer Typus von Politiker Einzug halte: "Die Rede ist von einem Phänomen namens Möllemann. Es könnte auch heißen: Persil, Black and Decker oder HB. Was sich dahinter an Produkten verbirgt, wie weit es sich von Konkurrenzerzeugnissen unterscheidet, ist einigen Fachleuten bekannt. Der normale Bürger kennt nur das Image - jenes Kunstprodukt, das durch Werbung ins Wahrnehmungsfeld der Kunden gerät ... Man wird den Verdacht nicht los, dass sie (die Journalisten) der wirkungsvollen Halbwahrheit des Kommunikationswissenschaftlers McLuhan auf den Leim gegangen sind: The medium is the message".

Wahr ist, dass Möllemann schon in den 1980er Jahren einen gewaltigen publizistischen Aufwand betreibt, um sich landesweit bekannt zu machen. Bereits um sechs Uhr morgens gleicht der Frühaufsteher die internationale Nachrichtenlage ab, um bei Bedarf seine Pressemitteilungen an die Nachrichtenagenturen zu versenden. Möllemann äußert sich zum Einmarsch der Russen in Afghanistan und zur Lage der Hochschulen, zur Krise des deutschen Films und zu den Kalamitäten von Schalke 04. Wie ein Pubertierender lotet er immer wieder seine Grenzen aus, manches Mal lässt man ihn gewähren, manchmal folgen eilige Dementis der Parteispitze. Die Redaktionen der Zeitungen und Rundfunkanstalten überfällt allein bei der Nennung seines Namens reflexhafte Aufregung. Stets hoffen sie auf einen innerparteilichen Konflikt, den Möllemann anheizt, oder auf eine neue skurrile Idee des Münsteraners.

Enttäuscht werden sie selten. Möllemann beherzigt eine zentrale Erkenntnis kommerzieller Werbestrategen: Entscheidend für den Erfolg einer Kampagne ist weder Originalität noch überzeugende Argumentation; es ist ganz unwichtig, ob irgendwer sie für witzig, sexy oder geschmackvoll hält. Nur in Erinnerung muss das Produkt dem Verbraucher beim nächsten Einkauf noch sein. Wenn das nur deshalb der Fall ist, weil die Kampagne besonders schlecht ist - auch gut. Möllemann geht in die Hochschulen und verkündet vor den versammelten Studenten die Einführung von Studiengebühren. Möllemann geht zu den Bergarbeitern unter Tage und droht mit der Streichung aller Subventionen. Jedes Mal wird er niedergebrüllt, er löst Krawall aus und wird beinahe tätlich angegriffen. Doch ausschlaggebend für Möllemann scheint in der Tat zu sein, dass er mit solchen Aktionen seinen Platz in den Nachrichtensendungen sichert, dass er zunehmend zu den bekanntesten Politikern der Republik gezählt wird. Eine Unterscheidung zwischen good news and bad news über ihn scheint es nicht wirklich zu geben. Solange nur Kameras und Mikrofone dabei sind, genießt er den Aufruhr, den er notorisch auslöst, wie eine Droge. Die Publizität als Wert an sich wird zur eigentlichen politischen Botschaft des Jürgen W. Möllemann.

Und so entwickelt sich zwischen Möllemann und den Medien ein symbiotisches Verhältnis. Der liberale Troubleshooter versorgt Zeitungen und Sendeanstalten mit grellen Bildern und frischen Infos, und sie garantieren dafür das permanent campaigning Möllemanns in eigener Sache. Auch seine erstaunliche Resistenz gegen die Auswirkungen seiner zahlreichen Affären sind das Produkt dieser seltsamen Komplizenschaft. "Im Grunde finden wir es ja ganz gut, dass es einen so bunten Hund im grauen Bonner Betrieb überhaupt gibt", begründet ein Mitarbeiter des "Spiegel" seine Affinität zum Adoptivkind der Medienleute. Dennoch: Insgesamt überlappen sich bei Jürgen W. Möllemann lange Zeit traditionelle Machtressourcen mit einer neuen Form der medialen Selbstdarstellung. Seine Karriere wird sorgfältig protegiert, und er steht beim Kurswechsel 1982 auf der richtigen Seite. Erst nachdem Möllemann den ersten echten Rückschlag seiner Karriere erlebt, passiert das eigentlich Erstaunliche. Denn erstaunlich ist nicht nur, dass ihm ein kaum für möglich gehaltenes Comeback gelingen wird. Erstaunlich ist vor allem, wie Möllemann nach einer kurzen Regenerationspause das "Produkt Möllemann" ganz neu erfindet.

Ein volles halbes Jahr war von Möllemann nichts zu hören und zu sehen

Weshalb Möllemann wirklich zurücktritt am 3. Januar 1993 ist auch mit einigem Abstand nicht ganz leicht zu erklären. An Affären und Skandalen ist seine Karriere auch zuvor nicht arm gewesen, eine beinahe identische Briefbogenaffäre hatte er bereits 1984. Möglich, dass Möllemann, wie er selbst später sagen wird, ausgebrannt ist und darum die Auswirkungen der Krise unterschätzt. Plausibel wird der Absturz Möllemanns aber vor dem Hintergrund des Einflussverlustes seiner Mentoren in der FDP. Möllemann ist zunehmend auf sich allein gestellt. Und so wittern seine zahlreichen innerparteilichen Feinde die Gelegenheit, ihn endlich loszuwerden.

Zum ersten Mal zeigt Möllemann Zeichen der Verunsicherung. Er beginnt einen taktischen Zickzackkurs, der nicht zu seiner früheren Geradlinigkeit passt. Mal spinnt er eine Intrige gegen die neue Parteispitze um Klaus Kinkel, dann wieder geht er auf Versöhnungskurs und versucht sich beim Vorsitzenden für ein anderes Ministeramt in Stellung zu bringen. Diese plötzlichen Kurswechsel nimmt ihm keiner ab, und schließlich, im Dezember 1994, wird Möllemann sogar als Landesvorsitzender von NRW abgelöst. Ein volles halbes Jahr ist von Möllemann nichts zu hören und nichts zu sehen.

Doch an diesem absoluten Tiefpunkt kündigt sich bereits seine erstaunliche Wiedergeburt unter neuen Vorzeichen an. Trotz aller Extratouren gehört Möllemann vor seinem Absturz zum Bonner Establishment. Doch nachdem er nichts mehr zu verlieren hat und die Zeit des Wundenleckens vorbei ist, vollzieht Möllemann die Wandlung zum Outcast, zum Rebellen und Underdog der FDP. Ab sofort versucht Möllemann nicht mehr, mit der Partei Karriere zu machen, sondern gegen sie - oder jedenfalls gegen ihre Funktionäre. Als Wirtschaftsminister hatte Möllemann sich tatsächlich darum bemüht, ein wenig seriöser aufzutreten, war nicht mehr mit dem Fallschirm abgesprungen, war darauf bedacht, seine ständigen öffentlichen Attacken gegen andere Politiker der FDP zu mäßigen.

Auf all das braucht er nun keine Rücksicht mehr zu nehmen. Nur ein halbes Jahr nach seinem vermeintlichen Totalabsturz kündigt Möllemann überraschend seine Kandidatur für die Nachfolge von Klaus Kinkel an - psychologisch gesehen ein erstaunlicher Vorgang. Und auf dem Parteitag in Mainz im Juni 1995 bläst er gar zum Generalangriff gegen das gesamte liberale Führungspersonal. Bis 1994 war Möllemanns Sprache ironisch, locker, irgendwie fröhlich und voller Zuversicht. Und ironisch gebrochen und optimistisch bleibt sie auch - doch zugleich wird sie jetzt härter, militanter, plebejischer. Möllemann schwingt sich zum Anwalt der Parteibasis auf, die darunter zu leiden habe, dass "in tobender See einige Offiziere in der Offiziersmesse Vorträge über Sitz- und Kleiderordnung halten, statt mit der kämpfenden Mannschaft die Leckage zu beseitigen". Möllemann polarisiert den Parteitag. Zunächst macht sich Unmut darüber breit, dass der Parteirebell überhaupt sprechen darf, doch im Laufe der Rede wechseln immer mehr der Zuhörer die Seite. Bei der abschließenden Abstimmung bekommt der vorher belächelte Kandidat gut ein Drittel der Stimmen - ein Affront gegen die gesamte Führungsspitze, die Möllemann von jedem Parteiamt fern halten will.

Das Phänomen Möllemann ist ein Symptom der Politikverdrossenheit

Damit hat Möllemann seine neue Rolle gefunden. In der Parteihierarchie ist er keinen Schritt weitergekommen, doch ausgestattet mit dem eigentlich wenig attraktiven Amt eines gesundheitspolitischen Sprechers der FDP zieht er fortan durch die Lande und kritisiert unverblümt die Gerhardt-FDP. Und wohin er auch geht, immer folgen ihm die Kameras und Mikrofone der Medienrepublik. Nur ein Jahr später wird Möllemann wieder zum Landesvorsitzenden von NRW gewählt. Möglich ist dieses Comeback in einer Situation, in der den Liberalen, trotz ihres Zuversicht verbreitenden Generalsekretärs, das Wasser weiter bis zum Halse steht. So auch in NRW, wo die Landtagswahl 1995 katastrophal verloren gegangen war. Den Delegierten dient sich Möllemann bei seiner Wiederkandidatur mit dem Argument an, die FDP sei in NRW in der medialen Bedeutungslosigkeit verschwunden, aus der er, Möllemann, sie zurückholen werde. Im Übrigen verliert Möllemann kaum ein Wort über die Landespolitik, sondern spricht bereits 1996 von einem Wahlkampf in vier Jahren, wie ihn Nordrhein-Westfalen noch nicht erlebt habe. Die Delegierten begreifen Möllemann als den letzten Strohhalm, an den sie sich klammern, um nicht endgültig in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. So verschmelzen der stetige Niedergang der FDP und der Wiederaufstieg Möllemanns zu einem beinahe synchronem Bild. Um eine Liebesheirat zwischen dem Münsteraner und der FDP handelt es sich in NRW kaum, noch immer ist das Misstrauen gegen ihn groß. Umso deutlicher ist, dass es sich beim Comeback Möllemanns tatsächlich um eine Art Kapitulation vor der Mediengesellschaft handelt.

Vermutlich ist das Phänomen Möllemann sogar mit dem Symptom der Politikverdrossenheit untrennbar verbunden. Aus dem Umstand, dass es um die Glaubwürdigkeit der Politik ohnehin nicht gut bestellt ist, hat Möllemann den Schluss gezogen, es mit Glaubwürdigkeit gar nicht erst zu versuchen. Konsequenterweise beginnt er, die Rollenzuschreibung der Medien umstandslos zu akzeptieren, denn nur damit ist seine Medienpräsenz gesichert. Er nimmt die ihm öffentlich zugewiesene Rolle des bad guy an, reichert sie aber an mit der des immerhin "ehrlichen Schurken", der ganz alleine die Pharisäer aller Parteien in die Knie zwingen will. Inszenierungstechnisch ist das eine reife Leistung. Wie erfolgreich das Konzept sein kann, zeigt sich, als Möllemann sein bisheriges Meisterstück abliefert, den Landtagswahlkampf in NRW 2000.

Gewiss, die Ausgangsposition für die FDP 2000 in NRW ist so schlecht ohnehin nicht. Nicht zuletzt die Krise der Union, die zur Folge hat, dass ein rein bürgerliches Bündnis rechnerisch kaum möglich erscheint, verschafft den Liberalen die Möglichkeit, taktisch motivierte Wähler aus dem Lager der CDU zu gewinnen. Zudem bietet die rot-grüne Landesregierung einige günstige Angriffsflächen, etwa in der Verkehrspolitik. Aber den Erfolg der FDP unter der Führung von Möllemann erklärt das sicher nicht ganz. Die 9,8 Prozent für die FDP - mehr als die Verdoppelung ihrer Stimmenzahl - sind das Resultat eines Wahlkampfes, in dem das Politikverständnis des Jürgen W. Möllemann sehr direkt zum Ausdruck kommt.

Zum einen ist es tatsächlich ein Medienwahlkampf. Die Kampagnefähigkeit der FDP wurzelt noch immer nicht darin, dass sie Straßenwahlkämpfer auf die Beine bringt. Ihre Kreisverbände zwischen Heinsberg und Höxter sind so wenig schlagkräftig wie eh und je. Doch Möllemann ist omnipräsent - auf den Bildschirmen, in den Zeitungen, im Radio, per Fallschirm über den Städten und Dörfern des Landes. Inhaltlich konzentriert sich Möllemann ganz auf zwei Themen: Bildung und Verkehr. Doch es sind weniger diese Issues, die der FDP den Wahlerfolg bescheren. Entscheidend ist die Verknüpfung der Themen mit der gezielten Provokation in der Darstellung der Kampagne. Provokationen, die ohne die gewaltige Unterstützungsleistung durch ein gewandeltes Mediensystem kaum Aussicht auf Erfolg hätten.

Walser, Schmidt, Möllemann - der Sieg der strategischen Provokation

Das unvergessene Hitlerplakat und die platten Blondinenwitze jenes Wahlkampfes - das alles hat man vor allem als Politclownerie aufgefasst, als radikale Variante des "Politainment", die als Ursache eine breite Entpolitisierung habe, die quer durch die ganze Bevölkerung gehe. Wahr daran ist, dass die Spaßgesellschaft tatsächlich den Nährboden für den Erfolg einer solchen Kampagne abgibt. Doch heißt das nicht, das sich daraus keine Rückschlüsse auf vorhandene gesellschaftliche Konflikte ableiten ließen. Was als bloßer Klamauk erscheint, ist in Wahrheit kalkulierter Tabubruch, der offensichtlich einer Stimmung Ausdruck verleiht, die besonders unter jungen und männlichen Wählern verbreitet ist. Und durch die gesellschaftlichen Reaktionen auf diesen Tabubruch, seitens der Kirchen und des Zentralrates der Juden, von den Vertretern aller Parteien einschließlich der FDP, wird genau jene Konfliktsituation konfiguriert, die Möllemann seit 1995 immer wieder aufs Neue gefördert hat: "Die Provokation will den anderen provozieren, und nur, wenn ihr das gelingt, ist sie ... vollständig", schreibt der Soziologe Rainer Paris.

Mit seiner Kampagne hat Möllemann die sakrosanktesten Tabus gebrochen, die im Diskurs der Political Correctness überhaupt existieren: Den Umgang mit der deutschen Vergangenheit und die gesellschaftliche Rolle der Frau. Nirgendwo sonst wird der Sprachkodex so restriktiv ausgelegt, werden Regelverletzungen schärfer geahndet. Kein Wunder, dass das politische Feuilleton in Möllemanns Wahlkampf jeden Anlass zur Kulturkritik findet. Doch es gibt auch andere Stimmen. So lobt Thomas Schmid in der Welt Möllemann für seinen Mut, die "antifaschistische Überwältigungspädagogik" mit dem Hitler-Plakat endlich überwunden zu haben. Es mag verwegen klingen, aber das Phänomen Möllemann ist dem Phänomen Walser gar nicht so unähnlich. Natürlich meinte Walser etwas völlig anderes, abgesehen davon, dass Möllemann ein politisches Statement im engeren Sinne gar nicht bezweckte.

Doch in beiden Fällen geht es weniger darum, was gesagt wird, als darum, dass es überhaupt jemand ausspricht. Möglich ist so etwas nur in exakt jenem gesellschaftlichen Klima, in dem der Showmaster Harald Schmidt in seiner ersten Sendung nach den Terroranschlägen von New York und Washington, in Folge der ersten gelungenen Pointe des Abends in das Publikum fragt, ob es denn schon wieder so weit sei, das man sich trauen könne zu lachen. Daraufhin kippt die Heiterkeit endgültig in hysterisches Gelächter um. Ob Walser, Schmidt oder Möllemann: Es sind ganz unterschiedliche Beispiele, doch in allen Fällen handelt es sich um einen Akt der kollektiven Entfesselung von einer als Knebelung empfundenen gesellschaftlichen Diskurshegemonie, die vorschreibt, was man sagen und worüber man lachen darf. Erlösend wirkt allein die Inopportunität der Aussagen, und deshalb ist es eben verkürzt, den Provokateur Jürgen W. Möllemann als Opportunisten zu bezeichnen.

Gegen Sittenwächter, Biedermänner - und Guido Westerwelle

Darum ist Möllemann - viel mehr übrigens als Guido Westerwelle - die politische Verkörperung der Spaßgesellschaft, in der nur eine Woche nach dem 11. September unzählige Witze über Bin Laden und Afghanistan, über George W. Bush und Amerika kursieren, die im Privaten überall erzählt werden, die sich aber kaum jemand öffentlich kundzutun getraut. In exakt jenem Augenblick, in dem die Spaßgesellschaft angeblich der Vergangenheit angehört, feiert sie unter der Oberfläche fröhlichste Urständ. Und weil Möllemann die Political Correctness nicht kämpferisch und aggressiv attackiert, weil er es vielmehr immer im belustigten Unterton tut, weil er den Sprachkodex der Republik mit sichtbarem Vergnügen durchbricht - gerade deshalb ist ihm die Zustimmung seiner Zuhörer sicher. Die Generation der Achtundsechziger wollte alles Private politisch machen - Möllemann tut genau das Gegenteil und überführt die Maßstäbe des Privaten in die Politik. Mehr noch, er reißt die längst brüchig gewordenen Mauern zwischen diesen beiden Welten endgültig ein. Wer privat Blondinenwitze reißt, der lacht auch in der Sphäre der öffentlichen Angelegenheiten darüber. Und alle, die das nicht tun, demaskieren sich selbst als jene Sittenwächter, Spielverderber und Biedermänner, für die Möllemann und seine Anhängerschaft sie ohnehin halten.

Überzogen wäre es nun sicherlich, allein den Tabubruch an sich zum Erfolgsrezept aller künftigen Wahlen zu machen. Doch in Möllemanns Wahlkampf gelingt genau das, weil der Gegner der Kampagne die perfekte symbolische Manifestation des Feindbildes ist. Die Provokationen Möllemanns zielen direkt auf das Lebensgefühl der Grünen, die noch immer an der ökologischen Lebensreform festhalten, während die Autofahrer zwischen Ruhr und Rhein stundenlang im Stau stehen, und die - so Möllemann - "den Bau einer Autobahn verhindern, weil Frau Höhn einen Frosch und zwei Lurche gesichtet hat". Unter solchen Umständen kann bereits ein Plakat mit der Parole "Rot-Grün staut, Mölli baut" als Heilsversprechen einer besseren Zukunft gelten. Das Beispiel Möllemann deutet insofern tatsächlich auf einen Wandel in der politischen Kommunikation hin, in dem fortan die Persönlichkeit an der Spitze nur noch nach Kriterien medialer Performance ausgewählt wird und die verbliebenen Funktionäre, zumindest so lange der Kandidat erfolgreich ist, für die Außendarstellung der Partei keine Rolle mehr spielen.

Welche Zukunft hat Jürgen W. Möllemann also? Einige glauben, der neue FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle habe seinen Parteifreund aus Münster geschickt eingebunden und damit neutralisiert. Dabei deutet die Übernahme des "Projekts 18" wohl doch eher darauf hin, dass Westerwelle aus Angst vor der Revolution die Bewegung lieber selbst anzuführen versucht. Aber auch die vorauseilende Möllemannisierung der FDP wird Westerwelle nicht vor Möllemann schützen. Wenn es denn irgendein Muster im politischen Leben des Enfant terrible der deutschen Politik gibt, dann besteht es darin, dass Möllemann beim kleinsten Anzeichen von Schwäche bei seinen Gegnern stets und unverzüglich zur Attacke geblasen hat. Jeder Versuch, ihn in irgendeine Parteidisziplin einzubinden, ist völlig aussichtslos.

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