Der wahre Krisenherd heißt Kaschmir

Nach dem 11. September galt die Republik Pakistan als mögliches Epizentrum eines Weltbrandes. Doch das Militärregime des Perez Musharraf ist bisher erstaunlich stabil geblieben. Über die Perspektiven des Landes besagt das wenig

Als die von den Vereinigten Staaten geführte Kriegskoalition am 7. Oktober mit dem Bombardement Afghanistans begann, stand vor allem ein Land im Mittelpunkt des Interesses, genauer, der Sorge. In Pakistan vor allem werde sich entscheiden, ob sich aus dem Krieg gegen Afghanistan eine Krise globalen Ausmaßes entwickeln würde; hier werde sich auch zeigen, ob der Feldzug der USA gegen den Terrorismus zu dem gefürchteten clash of civilizations führen könnte. In Pakistan, nicht in Afghanistan vermutete man das Epizentrum, das die Welt in ihren Grundfesten erschüttern könnte. Gründe für diese Befürchtung gab es mehrere: Pakistan ist per Gründungsakt eine islamische Republik; der Staat besitzt Atombomben; und schliesslich hatten verschiedene pakistanische Regierungen - zivile wie militärische - das Talibanregime in Afghanistan gestützt, genährt und, wie nicht wenige meinen, überhaupt erst geschaffen.

Vom Schmuddelkind zum Alliierten

Die Vereinigten Staaten bemühten sich daher vor dem Beginn des Bombardements intensiv darum, Pakistan auf die Kriegskoaliton einzuschwören. Das Militärregime von General Pervez Musharraf erfuhr innerhalb weniger Tage eine Aufwertung vom Paria auf der internationalen Bühne zum everybody′s darling. Das war eine bemerkenswerte Entwicklung. Immerhin war Pakistan bis zum 11. September 2001 wegen seiner Unterstützung der Taliban kurz davor gewesen, von den Amerikanern auf die Liste der so genannten Schurkenstaaten gesetzt zu werden. Noch 1998 war das Land wegen seiner Atombombenversuche mit Sanktionen bestraft worden, und es geriet 1999, als Musharraf gegen die demokratisch gewählte Regierung von Nawaz Sharif putschte, nur noch weiter in die Isolation.

Die plötzliche Werbung der Vereinigten Staaten um das "Schmuddelkind" Pakistan war nicht überraschend, sondern Bestandteil der Bündnispolitik, die den Krieg gegen Afghanistan vorbereiten sollte. Der Schlüsselstaat Pakistan musste im Kampf gegen den Terrorismus ins Boot geholt werden. Überraschender war die Schnelligkeit und die Entschlossenheit, mit der sich General Pervez Musharraf hinter die Vereinigten Staaten stellte. Damit ging er nach Meinung der meisten Beobachter ein hohes Risiko ein. Zum einen nämlich ließ er die Taliban fallen, die über ein Jahrzehnt eine zentraler Baustein der pakistanischen Außenpolitik gewesen waren. Zum anderen stellte er sich als Staatschef einer Islamischen Republik an die Seite Amerikas und ging damit auf Konfrontationskurs zu den Islamisten im eigenen Land. Das Destablisierungspotential war also groß. Und in der Tat vermittelten die Fernsehbilder aus den ersten Wochen des Krieges das Bild eines Landes, dass knapp vor dem Abgrund stand. Unter dem Druck des Krieges schien Pakistan von innen her zu zerfallen.

Pakistan steht das Wasser bis zum Hals

Seither hat sich das Bild radikal geändert. Die Taliban sind von der Macht vertrieben, die Vereinigten Staaten betrachten sich zumindest als Etappensieger im Kampf gegen den Terrorismus - und Pakistan ist stabil geblieben. Waren die Warner bloß Alarmisten? Und wenn ja, warum ist Pakistan, das so offensichtlich eine Sollbruchstelle in der Kriegskoalition darstellte, nicht auseinandergebrochen? Welche Gründe gibt es dafür? Und sind sie auch eine Garantie für zukünftige Stabilität in einer Auseinandersetzung, die noch lange nicht erledigt scheint?

Wer Antworten darauf finden will, muss sie auf der außen- wie auf der innenpolitischen Ebene suchen. Der amerikanische Außenminister Colin Powell ließ General Musharraf wenige Tage nach dem 11. September wissen, dass es für ihn nur zwei Möglichkeiten gebe: "Entweder ihr seid mit uns, oder gegen uns!" Musharraf entschied sich sehr schnell für eine Unterstützung der Koalition. Er tat es zum einen aus Mangel an Optionen. Immerhin steht Pakistan mit 39 Milliarden Dollar Auslandschulden das Wasser bis zum Hals. Eine eigenständiger Kurs in Form der Nichtbeteiligung an der Koalition hätte das Land auch der letzten dringend benötigten Geldzufuhren beraubt. Die weitere Isolation konnte sich Pakistan schlechterdings nicht mehr leisten können.

Plötzlich hielt Musharraf alle Trümpfe

Diesen Mangel an Spielräumen verstand Musharraf aber zu Recht als große Chance. Er konnte durch seine Entscheidung mit einem Schlag den Pariastatus Pakistans überwinden. Tatsächlich wurden binnen Tagen mehrere Sanktionen aufgehoben und Hilfsgelder versprochen. Das war der Lohn der Vereinigten Staaten für Musharraf. Gleichzeitig bestanden die ursprünglichen Gründe für die Sanktionen fort: Pakistan blieb eine Militärregime, und es hielt auch an seinem Atombombenprogramm fest. Musharraf hatte sich also gewissermaßen auf die internationale Bühne "zurückgeschwindelt", ohne dabei irgendwelche nennenswerten Veränderungen vornehmen zu müssen.

Das hat einen Großteil der militärischen und politischen Elite des Landes an Musharraf gebunden: Mit ihm und seinem Kurs öffneten sich neue Möglichkeiten - ohne ihn und seine entschlossene Politik drohte Pakistan auf eine äußerst ungewisse Zukunft zuzusteuern. Es war schon erstaunlich zu sehen, mit welcher Einmütigkeit die beiden großen Parteien sich hinter dem General stellten. Sowohl Benazir Bhuttos Pakistan Peoples Party (PPP) wie Nawaz Sharifs Muslim League (ML), äußerten so gut wie keine Kritik an dem General, der sie recht eigentlich ihrer politischen Macht beraubt hatte. Wenn überhaupt einmal kritische Töne hörbar wurden, dann allenfalls in Nuancen, nicht jedoch im Grundsatz. Dieses Schweigen rund um Musharraf warf ein bezeichnendes Licht auf die Macht des Militärs in Pakistan - es hatte nicht nur die Regierungsverantwortung, es besaß auch das Definitionsmonopol über so gut wie alle außen- wie innenpolitischen Entscheidungen.

Die Religiösen sind ohne Massenanhang

Es gab nur eine Gruppierung, die dieses Monopol in Frage stellte: die religiösen Parteien. Sie agitieren unermüdlich gegen Musharraf, sie riefen zu Demonstrationen auf, sie sammelten Geld, Le-bens- und Hilfsmittel für die bedrängten Taliban jenseits der Grenze. Ganz offen drohten die Reli-giösen mit Gewalt. Die öffentlichen Meinung im Ausland richtete denn auch - dank des Fernsehens - seine Aufmerksamkeit vor allem auf diesen Teil der Bevölkerung. Mit großer Besorgnis betrachtete man im Westen die Bilder auf den Bildschirmen: Massendemonstrationen, brennende US-Flaggen, Hetzparolen, aufgewühlte Menschen. Eines aber wurde bei all dem geflissentlich übersehen: Die religiösen Parteien haben bei Wahlen in Pakistan zusammen nie mehr als acht Prozent der Wählerstimmen erreicht. Sie hatten also nie jenen Massenanhang, der nun weltweit via Fernsehen suggeriert wurde.

Freilich mochte sich das unter Kriegsbedingungen schnell ändern. Solange Bomben auf Afghanistan fielen, waren die Möglichkeiten zur Mobilisierung für die religiösen Parteien unvergleichlich größer als in Friedenszeiten. Aber selbst das stellte nicht die eigentlich Gefahr dar. Wer nämlich die Geschichte der religiösen Parteien Pakistans genauer betrachtet, der erkennt, dass sie nicht in erster Linie ein genuines Produkt dieser Gesellschaft sind. Vielmehr sind sie eine Kopfgeburt des pakistanischen Militärs und entstammen einer ganz bestimmten internationalen Konstellation.

Als die Sowjets 1978 in Afghanistan einmarschierten, herrschte in Pakistan der Militärdikator Zia ul Haq. Zu jener Zeit war Zia ul Haq - ähnlich wie Musharraf vor dem 11. September - international relativ isoliert. Der Einmarsch der Sowjets und die Reaktion der USA darauf gaben ihm eine Chance zur Rehabilitierung - ähnlich auch hier Musharrafs Karriere. Der Krieg gegen die sowjetischen Besatzer wurde im Namen des Islam geführt. Mit Zustimmung und tatkräftiger Hilfe der Vereinigten Staaten begann Zia ul Haq die religiösen Extremisten, im eigenen Land zu fördern, die bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle gespielt hatten. In den achtziger Jahren beispielsweise schossen die Madrassen, die religiösen Schulen, wie Pilze aus dem Boden. Aus vielen von ihnen sollten zehn Jahre später die Taliban (Religionschüler) hervorgehen, die in Afghanistan 1996 die Macht übernahmen. Das pakistanische Militär war also der Geburtshelfer der extremistischen Kräfte.

Steuerte der Geheimdienst die Proteste?

Wie sehr das Militär und vor allem der pakistanische Geheimdienst ISI auch noch während des Krieges die Fäden zogen, zeigt ein Gerücht, das wenige Tage vor Kriegsausbruch in Islamabad zu hören war: Männer des Geheimdienstes hatten angeblich vor dem anstehenden Besuch des amerikanischen Außenministers Powell an junge Männer Geld verteilt mit dem Auftrag, sich an den Anti-US-Demonstrationen zu beteiligen. Das ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Tatsächlich war die Absicht dahinter eindeutig: Pakistan wollte den Preis für seine Beteiligung mittels "drohender Straßenunruhen" in die Höhe treiben. Powell, der gekommen war, um Musharraf zur Koalition zu überreden, sollte selbst sehen, unter welchem Druck der Präsident stand. Diese Geschichte ist zwar nur ein Gerücht, das und man als Verschwörungstheorie abtun mag - aber die Geschichte passt in das Bild eines alles in allem das Spiel der Macht beherrschenden Militärs. Heute lässt sich mit gutem Recht sagen, dass Pakistan durch Kraft des Militärs stabil geblieben ist, die Gesellschaft zu durchdringen. Oder zugespitzt: Pakistan kann nur zerbrechen, wenn das Militär zerbricht.

Sicher leben mit der Bombe

Ist das alles Grund genug zur Beruhigung? Kann Pakistan also von der Liste der "gefährdeten Staaten" gestrichen werden? Die Antwort lautet Nein, und der Grund dafür ist wiederum das pakistanische Militär. Es ist ein klassisches Paradox: Das Militär, Quelle der Stabilität, ist gleichzeitig auch der grösste Destabilisierungsfaktor Pakistans. Am Beispiel des Atombombenprogramms lässt sich das gut zeigen: Die Entwicklung der Bombe war unter Zia ul Haq in den siebziger Jahren angestoßen worden. Mit ihr wollte Pakistan seinem übermächtigen Erzfeind Indien die Stirn bieten. Das Argument der Militärs lautete dabei stets: Mit der Bombe werden wir mehr Respekt genießen und daher sicherer leben.

Genau die Bombe aber, die 1998 probehalber gezündet wurde, führte Pakistan in die Isolation - und nicht nur das: Selbst als General Musharraf sich unzweideutig hinter die Vereinigten Staaten stellte, dauerte es nur wenige Wochen bis die Frage auftauchte, die bis heute bis Pakistan zu einem potentiellen Gefahrenquelle macht: Was wird geschehen, wenn die Bombe in die Hände von islamistischen Extremisten gerät?

Sofort nach Kriegsausbruch versuchten die Vereinigten Staaten, zur pakistanischen Bombe Zugang zu bekommen. Der Versuch lief unter dem Namen "Hilfsangebot". Angeblich stand bereits einen Spezialtruppe bereit, die für den Krisenfall die Atombombe Pakistans zerstören sollte. Das wurde in Pakistan - nicht zu Unrecht - als Bedrohung der eigenen Souveränität empfunden. In der Atombombe also gipfelte die Macht des pakistanischen Generäle. (Dass auch das Volk die Bombe liebt ist, belegen die Freudenausbrüche, die sich in Pakistan nach dem erfolgreichen Atomtest 1998 abspielten.) Gleichzeitig aber hielt die Bombe - und im übertragenen Sinne das Militär selbst - Pakistan als Geisel. Unter den durch den 11. September radikal geänderten internationalen Rahmenbedingungen wurde sie erst recht zur Achillesferse Pakistans.

Das Land kann noch immer explodieren

Aber auch die Bombe ist nichts anderes als ein Verweis auf die wahre Ursache der potentiellen Instabilität Pakistans: Kaschmir. Pakistan hält 600.000 Mann unter Waffen, und rund zwei Drittel des Staatshaushalts kommen den Streit-kräften zugute. Diese ungewöhnliche Stärke und Finanzkraft des Militärs wird bis heute mit dem ungelöste Konflikt mit Indien um die Bergregion von Kaschmir gerechtfertigt. Pakistan und Indien haben in den knapp mehr als fünfzig Jahren seit ihrer Trennung drei Kriege gegeneinander geführt. In allen dreien spielte Kaschmir die entscheidende Rolle als Auslöser und Streitobjekt - und bis heute hat Kaschmir nichts von seiner Brisanz verloren.

Insgesamt gilt also: Pakistan hat sich während des Krieges in Afghanistan als erstaunlich stabil erwiesen, weil die Generäle in der Unterstützung der Vereinigten Staaten ihre beste und wohl einzige realistische Option erkannten. Und die Militärs haben die Kraft, die Gesellschaft unter Kontrolle zu halten. Aber diese Stärke ist gleichzeitig ihre Schwäche. Denn die Straße kann in der Tat "explodieren". Das mag unter religiösen Vorzeichen geschehen, aber die Religion wird dabei nur ein Auslöser sein. Die tatsächlichen Motive für einen möglichen Aufstand auf den Straßen liegen in einer Gemengelage sozialer, ökonomischer und politischer Elemente. Das Militär nämlich hat das Land durch seine unvergleiche Macht und den damit einher gehenden Geldhunger ausgeblutet. Wie ein riesiges, waffenstarrendes Monster frisst es die Ressourcen der Gesellschaft auf. Das kann ohne größeren Proteste geschehen, weil Kaschmir von nahezu allen Pakistanis als nationale Herzensangelegenheit betrachtet wird - und solange dieser Konflikt ungelöst ist.

Ohne Kaschmirkonflikt kommt die Krise

Es wäre falsch zu behaupten, die Militärs hätten deshalb ein Interesse daran, den Kaschmirkonflikt in Gang zu halten. Richtig aber ist, dass sie ohne ihn schnell in Rechtfertigungsnöte geraten würden, wie sie nicht einmal der Krieg gegen Afghanistan - der Krieg gegen den Islam, wie ihn die Fundamentalisten bezeichnen - mit sich brachte. An Kaschmir dürfte sich deshalb die Zukunft Pakistans entscheiden.

Von Ulrich Ladurner ist erschien kürzlich der Geschichtenband Islamabadblues:
Briefe aus Pakistan
, zu beziehen über DIE ZEIT, Vertrieb,
20079 Hamburg; oder per Fax 040.3280.549; oder online: pakistan@zeit.de

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