Der unreformierte Mann

EDITORIAL

Wer jemals meinte, mit dem Vergehen der frauenbewegten „Generation lila“ habe sich das Thema Emanzipation in Deutschland ein für allemal erledigt, der hat so richtig daneben gelegen. Das Gegenteil trifft zu, allerdings auf etwas vertrackte Weise. Die Emanzipation der Frau in Deutschland hat sich auf ganzer Linie als Erfolg erwiesen – und gerade daraus erwächst der Bedarf an einer erneuten Befreiungsbewegung. Was jetzt ansteht, ist die Emanzipation der Männer. Keine Frage, es bleiben für Frauen auch heute noch „gläserne Decken“, die durchstoßen werden wollen; es bleiben spezifische Benachteiligungen, und Beispiele dafür kennen wir an der Zahl. Aber wer den Prozess gesellschaftlichen Wandels in unserem Land auch nur ansatzweise in historischer Perspektive betrachtet, weiß doch, wie unermesslich viel sich in den vergangenen Jahrzehnten für Frauen zum Besseren verändert hat. Jedenfalls im Prinzip gilt: Frauen dürfen heute alles, Frauen können heute alles, und Frauen machen heute alles. Frauen kann das postindustrielle 21. Jahrhundert mit seinen umfassend gewandelten Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft im Grunde nicht sonderlich erschrecken.

Bei den Männern sieht die Sache schon anders aus. Ihre kollektive DNA ist tief geprägt von den Erfahrungen einer abgelaufenen Ära. Nicht wenige Männer tun sich schwer mit der Einsicht, dass jene Fertigkeiten und Einstellungen, die Männern zu Zeiten der klassischen Industriemoderne zugute kamen und ihre Dominanz in Beruf und Familie begründeten, heute dysfunktional geworden sind. Körperlich stärker zu sein als Frauen war über Jahrtausende ein entscheidender Vorteil – aber wie maßgebend ist Muskelkraft in einer Gesellschaft, die vom Lernen, vom Wissen und Kommunizieren lebt? Diese Gesellschaft wird ungemein davon profitieren, wenn ihre Männer wirklich im 21. Jahrhundert ankommen. Davon handelt der Schwerpunkt dieses Hefts.

In jeder Hinsicht im 21. Jahrhundert ankommen muss auch die SPD. Die Sache ist dringlicher denn je. Anderswo in Europa – in den Niederlanden, in Spanien, in Skandinavien etwa – haben sozialdemokratische Parteien ihre programmatische Entwicklung zu dynamischen Fortschrittsparteien für unsere Zeit energisch und aus eigener Kraft vorangetrieben. Sie haben – Jürgen Klinsmann und der deutschen Nationalmannschaft nicht unähnlich – verstanden, dass sich Ziele nicht mittels Defensive und Hintendrinstehen durchsetzen lassen. Innerhalb der deutschen Sozialdemokratie vertritt diese Position seit Jahren schon das Netzwerk Berlin, das bereits 2003 mit seinen Münstereifeler Programmimpulsen für ein neues Grundsatzprogramm die Debatte offensiv voranzubringen suchte. Mit demselben Ziel greifen Mitglieder des Netzwerks in diesem Heft erneut in die laufenden Programmdiskussion der SPD ein. Dieses Land wird in den kommenden Jahren dringend eine Partei benötigen, die wirtschaftliche Dynamik, soziale Gerechtigkeit und ökologische Modernisierung systematisch als Einheit begreift. Das kann und das sollte die SPD sein. Ob sie es tatsächlich wird, hängt von ihr selbst ab.

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