Der Swinegel der Liberalen

Ein märchenhafter Profi: Jürgen W. Möllemann

Diese Geschichte ist lügenhaft zu erzählen, aber wahr ist sie doch, denn: wahr muß sie doch sein, denn sonst könnte man sie ja nicht erzählen." Mit diesem Satz beginnen die Gebrüder Grimm die Niederschrift des Märchens Der Hase und der Igel, besser bekannt als: Has′ und Swinegel.

Lügenhaft zu erzählen, aber wahr ist sie doch, die Geschichte vom Münsteraner Lehrer, der seinen ersten politischen Gehversuch in der christlich-demokratischen Union unternahm, als diese - bis 1969 - noch führende Partei im Bund war. 1970, als erst wenige sahen, dass die sozial-liberale Koalition die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland veränderte und dass diese Koalition über lange Jahre hinweg Bestand haben würde, hatte unser Lehrer die CDU verlassen. Jürgen W. Möllemann startete als F.D.P.-Politiker.

Im Grimmschen Märchen ließ der Swinegel den Hasen, der, wie es dort wörtlich heißt, "ausgegangen war, um seinen Kohl zu besehen", mit sich um die Wette rennen, weil der Hase den Igel verspottet hatte. Der Ausgang ist bekannt: Mit Hilfe seiner Ehefrau, die ihm am Ende seiner Rennspur loyal behilflich war, bezwang der Igel den Hasen im Wettlauf. Die Gebrüder Grimm schrieben: "Unterwegs dachte der Swinegel bei sich: Der Hase verlässt sich auf seine langen Beine, aber ich werde ihn schon kriegen. Er ist zwar ein vornehmer Herr, aber doch nur ein dummer Kerl, und bezahlen soll er doch!"

Jürgen W. Möllemann machte sich 1970 auf den Weg in die F.D.P.-Politik. Er wurde fünf Jahre nach seinem Parteibeitritt Vorsitzender des Bezirksverbandes Münsterland und Landesvorstandsmitglied in Nordrhein-Westfalen. Er erlebte Niederlagen und stand wieder auf. Schon zwei Jahre nach seinem Parteieintritt wurde er Mitglied des Deutschen Bundestages. Zehn Jahre später - inzwischen regierte die F.D.P unter Helmut Kohl in einer CDU/F.D.P-Koalition - ernannte ihn Hans-Dietrich Genscher zum Staatsminister im Auswärtigen Amt. Von dort wechselte er 1987 zum Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, von wo er vier Jahre später in das Bundesministerium für Wirtschaft als dessen Chef wechselte.

Diesen Posten musste er verlassen, nicht weil er politisch schwache Leistungen gezeigt hätte, wie manch andere auf Kabinettsstühlen jeglicher Couleur. Nein, er hatte die praktische Idee eines Chips für Supermarkteinkaufwagen, die ein Verwandter produzierte, empfohlen. Das nahm ihm manch einflußreicher Gegner übel.

Er ging aus dem Amt, aber nicht aus der Politik. Möllemann blieb präsent. Wer immer geglaubt haben mochte, er habe Möllemann ausgebremst, musste erleben, dass der unentwegte Swinegel schon da war, wo es wieder F.D.P.-Politik mitzubestimmen galt. Der Oberleutnant der Reserve, der bei den Fallschirmjägern gedient hatte, sprang stets zielgerecht dort ab und legte eine Punktlandung hin, wo seine Gegner sein Erscheinen jeweils befürchtet hatten.

Das Aufsichtsratsmitglied von Schalke 04 präsentierte sich bei aller Härte und Arroganz im politischen Umgang stets mit einer oft kaum bemerkten Fairness seinen Gegnern, so dass er, sobald er auf der jeweils nächsten Stufe "wieder da" war, Loyalität einfordern konnte.

Das Grimmsche Märchen vom Has′ und dem Swinegel lehrt uns, dass eine märchenhafte Karriere auch dann möglich ist, wenn keine Werte vermittelt und keine inhaltlichen Ziele Orientierungspunkte des eigenen Handelns sind.
"Da" zu sein, ist Ziel genug für den Swinegel: "Da" zu sein, bestimmt das politische Handeln des Politikers Möllemann. Er traf sich mit Ghaddafi, als deutsche Politiker den libyschen Herrscher noch in die Nähe eines Irren stellten wollten, mehr als zwanzig Jahre bevor derselbe Mann von den Staatsmännern der westlichen Welt wegen seines mohammedanisch geprägten humanitären Einsatzes für nichtmuselmanische Geiseln in Jolo gelobt wurde.

Die Stories Möllemanscher Einfälle und Auffälligkeiten sind Legion. Stets beherrscht ihn das Credo: "Ick bin all do", wie es im Urtext des Märchens heißt.

Drei Beispiele aus jüngster Zeit mögen dies verdeutlichen:

Als Möllemann für die F.D.P. bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen die vom Ministerpräsidenten bezweifelten acht Prozent Wählerstimmen mit Leichtigkeit überschritt, musste der ihm in Publicity geistesverwandte Clement zu Fuß nach Münster pilgern. Was jeder Mann erwartet hatte, geschah: Vor den Toren seiner Heimatstadt Münster zelebrierte Möllemann eine Punktlandung mit dem Fallschirm. Dieser Gag aber war ihm nicht märchenhaft genug: Er stieg um auf einen westfälischen Gaul und erwies sich im wahrsten Sinne des Wortes als sattelfest und ritt gen Münster, der fußläufig pilgernde Ministerpräsident neben ihm schreitend.

Auf dem letzten ordentlichen Bundesparteitag der F.D.P. hielt er in Nürnberg eine Rede, in der er als nächstes Wahlziel die Phantasiezahl 18 Prozent in den Ring warf. Sein blasser Widersacher, der Bundesvorsitzende der F.D.P Gerhardt, signalisierte verachtende Ignoranz. Swinegel Möllemann schaffte es, dass ein Foto als politische Aussage den Parteitag verließ, auf dem er neben dem Bundesvorsitzenden und dem Generalsekretär durch das Zeigen von 18 Fingern die Phantasiezahl 18 Prozent optisch festhämmerte. Seine Regie, nicht die des Bundesvorsitzenden, bestimmte das Foto: von den 18 Fingern, die das zukünftige Wahlergebnis symbolisieren sollten, übernahm er mit beiden Händen 10. Vom Rest überließ er dem Generalsekretär 5 Finger. Der Bundesvorsitzende durfte neben beiden nur noch 3 Finger zeigen. Swinegel war schon wieder da.

Dann erfand er, was zwanzig Jahre zuvor Ralf Dahrendorf schon einmal gefordert hatte: Die F.D.P. soll Flagge zeigen und einen Kanzlerkandidaten nominieren. Präsenz als Selbstzweck. Kritik und Häme seiner Gegner störten ihn nicht, im Gegenteil: Das Thema war platziert. Der Gag verbreitete sich schneller als jede inhaltliche Forderung. Als am 2. September die ARD-Fernsehshow zum Guinnessbuch der Rekorde die Zeit erreicht hatte, zu der normalerweise politisch interessierte Zuschauer auf die Tagesthemen warten, erklomm unser Swinegel in Windeseile die Bühne. Die Sendung kam schließlich aus seiner Stadt Münster. Er gratulierte dem Sieger. Jürgen von der Lippe konnte nur noch feststellen: "Unser zukünftiger Bundeskanzler hat gerade gratuliert".

Das alles hat mit Liberalismus nichts zu tun, mit politischen Grundsätzen wenig, wohl aber mit der profihaften Wahrnehmung politischer Präsenz. Sein Gegner ist hierbei wohl "zwar ein vornehmer Herr, aber doch nur ein dummer Kerl".

Überleben kann ein Igel, weil er sich gut zusammenkugeln kann. Seine Stacheln sind friedlich, solange er nicht angegriffen wird, gefährlich aber dem, der ihm Leid antun will. Manch einer seiner Gegner hat dies erfahren müssen.

Eines sollten wir nicht übersehen: Der Swinegel, laut aktuellstem Duden norddeutsch für Igel, steht unter Artenschutz. Er ist ein nützliches Lebewesen, sagt das Lexikon.

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