Der Sozialstaat auf der Intensivstation

Das große deutsche Sozialstaatsprojekt bismarckscher Prägung ist endgültig an seine Grenzen gestoßen. Gabriele Metzler hat analysiert, warum

Die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 lässt die Absicht klar erkennen: Was als "höheres Maß staatlicher Fürsorge" avisiert wird, ist zugleich ein Mittel der "Repression social-demokratischer Ausschreitungen" und somit die konsequente Fortsetzung des wenige Jahre vorher mit dem Sozialistengesetz begonnen Weges. Das Mittel verfehlte bekanntlich seinen Zweck. Die bismarckschen Sozialversicherungsgesetze der 1880er Jahre konnten die Ausbreitung der Sozialdemokratie nicht verhindern. Die darüber hinausgehende Intention, die Absicherung der Industriearbeiterschaft gegen die Risiken von Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter, wurde zum Erfolgsmodell. Wichtiger als die zu Anfang bescheidenen materiellen Leistungen war der Rechtsanspruch auf diese. Hatte bis dahin doch gegolten, dass seine staatsbürgerlichen Rechte verlor, wer Almosen der Armenfürsorge in Anspruch nahm.


Heute hört man gelegentlich nicht ohne Häme sagen, es sei doch eine merkwürdige Ironie der Geschichte, dass Sozialdemokraten nun jenen Sozialstaat dekonstruieren müssten, der einst gegen ihr Emporkommen initiiert worden sei. Solche Häme ist der Autorin des Buches über den deutschen Sozialstaat fremd. Dennoch nimmt sie gleich zu Anfang kein Blatt vor den Mund. In Titel wie erstem Absatz ihrer Studie konstatiert sie nüchtern, aus dem einstigen Erfolgsmodell sei "ein Pflegefall" geworden. Zu zeigen, was historisch zu dieser Entwicklung geführt hat, ist die Absicht der Tübinger Historikerin Gabriele Metzler. Und diese Absicht ist zu loben: Denn nur die genaue Kenntnis der Zusammenhänge kann die Diagnose dafür liefern, mit welchen Rezepten dem Patienten zu helfen ist.


Die Tragweite der bismarckschen Sozialgesetze lässt sich daran ermessen, dass es später nur noch zwei wesentliche Ergänzungen gegeben hat: 1927 die Arbeitslosenversicherung und 1995 die Pflegeversicherung. Die Dynamik dieses Gesetzwerkes entfaltete sich auch in Krisenzeiten, wenngleich keineswegs vorwiegend aus altruistischen Motiven: Unter dem Druck der Rüstungsproduktion im Ersten Weltkrieg wurden Arbeiterausschüsse etabliert, die Vorläufer der späteren Betriebsräte. Die in dieser Zeit beginnende Entwicklung zum modernen Interventionsstaat war nach 1918 unumkehrbar. Auch die wirtschaftliche Not der Weimarer Republik führte zu sozialstaatlicher Expansion, wenn auch auf materiell bescheidenem Niveau. Erschreckend dagegen war eine andere Entwicklung: Dass das Naziregime die Sozialstaatlichkeit für rassenpolitische Zwecke instrumentalisierte und in den Dienst von Produktivitätssteigerung zur Kriegsvorbereitung stellte, überrascht weniger als die Tatsache, dass bestimmte sozialtechnische Ambitionen nach dem Motto: "Alles ist machbar, Unerwünschtes ist eliminierbar", die letztlich im Rassenwahn der Nazis endeten, auch aus der utopischen Energie sozialstaatspolitischer Diskussionen der zwanziger Jahre gespeist wurden.

Erst das Wirtschaftswunder ...

Nach dem Zweiten Weltkrieg lieferte das so genannte Wirtschaftswunder die Basis für eine bis dahin nicht für mögliche gehaltene sozialstaatliche Expansion. Die Dynamisierung der Renten 1957 bescherte den Rentnern ein zuvor nie erreichtes Niveau der Alterssicherung - und Adenauer die absolute Mehrheit. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Gleichstellung von Angestellten und Arbeitern und die Erweiterung der betrieblichen Mitbestimmung kamen Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre hinzu. Die scheinbar unerschöpflich sprudelnden Quellen für soziale Transferleistungen erlaubten sogar, wie Gabriele Metzler schreibt, den Luxus des politischen Perspektivenwechsels, Sozialstaatlichkeit nicht nur als "Funktion der Daseinsvorsorge" zu sehen, sondern ihr die Aufgabe zuzuschreiben, "den Bürgern die aktive Teilhabe am politischen Leben zu ermöglichen ... den Zugang zu kollektiven Gütern zu eröffnen."

... und dann die Malaise

Der erste so genannte Erdölschock beendete diese Entwicklung unumkehrbar. Nur wollten es die Wenigstens wahrhaben. Gewiss, von Krise war immer mal wieder die Rede. Aber tapfer hing man weiter dem Glauben an, gewisse Reparaturen bei weiter laufendem Betrieb würden die Sache schon richten: Die Renten sind sicher! Alles wird gut! Weiter so, Deutschland!


Aber mit solchen Beschwörungsformeln ließen sich demografischer Wandel, die Erosion der klassischen Arbeitsgesellschaft und des sie konstituierenden "Normalarbeitsverhältnisses" sowie der Übergang zur postindustriellen Gesellschaft nicht aufhalten. Der Zusammenbruch der DDR sowie die Finanzierung der Einigung vorrangig aus Sozialbeiträgen statt aus Steuern verschärften die Lage. Die Chance, "die Gunst der Stunde für eine grundlegende Bestandsaufnahme und Revision westdeutscher Sozialstaatlichkeit zu nutzen", wurde nicht ergriffen.


Was ist zu tun? Gabriele Metzler hat keine Patentrezepte, das ist auch nicht die Aufgabe einer solchen Studie. Aber ihre Analyse der Situation - klar und präzise, wissenschaftlich fundiert und belegt - setzt doch einige Wegmarken. Metzlers Hauptthese: Der deutsche Sozialstaat gegenwärtiger Prägung ist ein Projekt der "ersten Moderne", einer Epoche von wirtschaftlichem Wachstum, und hohem Beschäftigungsstand. Diese Epoche ist unwiederholbar zu Ende. Damit sind auch die Grundpfeiler gefallen, die dieses Modell getragen haben. Zur wirtschaftlichen kommt die politische Krise des Sozialstaates. Ein immer komplexeres sozialstaatliches System erfordert immer höhere Steuerungsfähigkeiten. Diese wiederum verursachen immer höhere, oft nicht genau kalkulierbare Kosten. Neue Leistungen ziehen neue Forderungen nach sich, am Ende frisst der Sozialstaat sich selbst. Um das an einem anderen Beispiel deutlich zu machen: Straßenbau bewältigt bekanntlich nicht nur überbordenden Verkehr - er produziert auch immer neuen.

Kommt demnächst die politische Krise?

In Großbritannien hat Margret Thatcher diesen Knoten bekanntlich rücksichtslos durchgehauen. Aber hier waren die Voraussetzungen anders. Während nämlich in Großbritannien Sozialstaatseinrichtungen in erster Linie ein Projekt zur Bekämpfung der Armut waren, hat der deutsche Sozialstaat sich aus der Arbeiterfrage heraus entwickelt. Deshalb stehen in Deutschland Erwerbs- und Staatsbürgergesellschaft in einem solch spezifischen und engen Spannungsverhältnis, dass nicht auszuschließen ist, dass "die politische Krise des Sozialstaates sich zu einer Krise des politischen Systems entwickelt", schreibt Gabriele Metler. "Deshalb diskutieren wir gegenwärtig nicht bloß über Prozentpunkte bei den Beiträgen zur Sozialversicherung oder über die Einführung von ‚New Public Management‘-Methoden und die Verlagerung der Produktion sozialer Leistungen auf den Markt. Wir diskutieren vielmehr über die Zukunft der offenen Gesellschaft, des liberalen politischen Systems und der Demokratie." Die Autorin verweist in diesem Kontext auf Jürgen Habermas, der schon Anfang der neunziger Jahre dafür plädiert hatte, "den Schwerpunkt der Sozialstaatlichkeit von der erwerbsarbeitszentrierten auf eine zivile, demokratisch-bürgergesellschaftliche Form zu verlagern".

Die Agena 2010 als Einstieg in den Ausweg?

In der Tat: Ein glaubwürdiges, überzeugendes und deshalb durchsetzbares neues Sozialstaatsprojekt braucht eine Idee und Vision, die aus mehr besteht als aus der Kürzung gewachsener Leistungen. So gesehen wäre die Agenda 2010 nur der Einstieg in eine Diskussion, die eine Neubewertung des Verhältnisses von Individualisierung und Solidarität, von Nationalstaatlichkeit und Globalisierung, von wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Sicherheit in Angriff nimmt - ein Projekt von epochaler Bedeutung.


Wem immer es gelänge, diesen Kraftakt zu stemmen, der könnte in künftigen Jahrzehnten zu Recht als derjenige in Erinnerungskonkurrenz zu Bismarck treten, der die Sozialstaatlichkeit für das 21. Jahrhundert zukunftsfest gemacht hat. Und wenn es denn Sozialdemokraten wären: Ja, ein solcher Coup hätte das Etikett einer Ironie der Geschichte wirklich verdient.

Gabriele Metzler, Der deutsche Sozialstaat: Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, Stuttgart und München: Deutsche Verlags-Anstalt 2003, 269 Seiten, 22,90 Euro

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