Der schmuddelige Bruder

Das Geschäftsmodell Deutschland lautet, sich auf ausländische Nachfrage nach deutschen Produkten zu verlassen. Mit einer strikt national ausgerichteten Förderpolitik würden wir uns daher so angreifbar machen wie kaum ein anderes Land auf der Welt

Der Protektionismus ist der kleine, schmuddelige Bruder des Freihandels. Er ist das verpönte Familienmitglied, an das niemand erinnert werden möchte, von dem man sich in höchsten Tönen distanziert. Doch wenn es dem Clan mal schlechter geht, wird er diskret gebeten, die Dinge mit seinen brachialen Mitteln in Ordnung zu bringen.

Alle Industriestaaten verwerfen den Protektionismus, beschwören, dass sie die Lektion der Großen Depression in den dreißiger Jahren gelernt haben. Damals brach das Wachstum erst richtig ein, stieg die Arbeitslosigkeit, weil die einzelnen Staaten versuchten, sich gegenüber dem Ausland in eine vorteilhafte Position zu bringen- indem sie etwa ihre Währung abwerteten oder den eigenen Markt abschirmten. Was als nationaler Schutz gedacht war, führte zum globalen Überbietungswettkampf im Abwälzen der Krisenlasten auf andere. Der Abschwung wurde zur Rezession hochgeschaukelt, die erst Jahre nach dem Crash von 1929 ihren Tiefpunkt erreichte.

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? So einfach ist es leider nicht. Die Rhetorik ist eine andere geworden: Auf allen internationalen Konferenzen, zuletzt etwa beim Londoner G20-Gipfel, wird die Wichtigkeit des Freihandels beschworen. Doch gleichzeitig hat die Weltbank festgestellt, dass 17 dieser 20 Nationen in den vergangenen Monaten zu Instrumenten gegriffen haben, die den Handel einschränken. Diese Mittel sind allerdings andere als in den dreißiger Jahren. Man kann heute nicht mehr so einfach Zölle erhöhen, um ausländische Wettbewerber an der Grenze abzufangen und die eigenen Hersteller zu schützen, weil internationale Verpflichtungen dem entgegenstehen oder, wie in der EU, Zölle gar nicht mehr national geändert werden können.

Protektionismus nimmt heute andere Formen an. Er kommt nicht als aggressive Abwehr gegen Ausländer daher, sondern als Wiederherstellung gerechter Wettbewerbsbedingungen oder als wohldosierte, pragmatische und neutrale Unterstützung eigener Unternehmen. Beliebt sind nichttarifäre Handelshemmnisse, also Hürden, die nicht in Form von Zollschranken errichtet werden, sondern als technische, sanitäre, umweltbezogene Schutzmaßnahme. So hat etwa Brasilien nach Ausbruch der Krise pauschal den Import von chinesischem Spielzeug untersagt, weil es gesundheitsgefährdend sei.

Schizophrenie im Außenhandel

Beliebt sind auch Anti-Dumping-Zölle auf bestimmte Produkte. Dabei wird nicht der Zoll für eine komplette Warenkategorie angehoben, sondern lediglich ein Land oder ein Hersteller gezielt angegriffen. Man wirft ihm vor, seine Produkte zu Dumpingpreisen, also unter Gestehungskosten zu verkaufen. Dieser unlautere Wettbewerb müsse durch eine staatliche Einfuhrabgabe lediglich ausgeglichen werden. Das Instrument wurde in den Industrieländern erfunden, doch inzwischen wenden es vor allem die Entwicklungs- und Schwellenländer fleißig an.

Beliebt sind auch Vorgaben bei staatlichen Aufträgen. Besondere Aufmerksamkeit hat eine Präferenzklausel gefunden, die ursprünglich im amerikanischen Konjunkturpaket vorgesehen war, die "Buy American"-Klausel. Staatliche Behörden wurden darin aufgefordert, amerikanische Hersteller zu bevorzugen. In letzter Minute hat Präsident Barack Obama diese Vorschrift entschärft. Die Vereinigten Staaten sind vielleicht das beste Beispiel einer besonderen Schizophrenie im Außenhandel. So hat Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, jahrzehntelang ein Anwalt des Freihandels, während des vergangenen Präsidentschaftswahlkampfes plötzlich die angeblichen Vorzüge entdeckt, die ein weniger liberaler Umgang der USA mit ihren Handelspartnern hätte. Gleichzeitig wird Krugman aber nicht müde, Deutschland anzugreifen, weil es angeblich zu wenig unternehme, um mit staatlichen Ausgabeprogrammen die Wirtschaft anzukurbeln. Die Vereinigten Staaten, so Krugman, sollten restriktiver werden, andere aber mehr für die internationale Nachfrage tun - einen Sinn ergibt das nicht, sieht man einmal von sehr kurzfristig gedachten nationalen Vorteilen ab.

Die meisten Industriestaaten gehen etwas feiner zu Werke: Sie greifen gerne zu Subventionen, der verkappten Form des Protektionismus. Allein für die Autoindustrie werden weltweit rund 50 Milliarden Dollar an Staatsbeihilfen verteilt. Manchmal nimmt das sehr grobschlächtige Formen an. So wollte Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy die Hilfe für nationale Autohersteller an die Bedingung knüpfen, dass diese bei notwendigen Restrukturierungen nur Werke im Ausland, vor allem in Osteuropa schließen, nicht aber in Frankreich. Glücklicherweise schlug die EU-Kommission dazwischen. Seitdem ist Kommissionspräsident José Barroso bei Sarkozy in Ungnade gefallen.

Wie der Binnenmarkt zerstört wird

Sarkozys gescheiterter Vorstoß ist die besonders infame Variante einer politischen Haltung, die auch in Deutschland diskutiert wurde: Es sei mehr als selbstverständlich, dass national finanzierte Konjunkturförderung auch der nationalen Wirtschaft zugute komme. Von der politischen Logik her scheint das Argument zunächst nachvollziehbar: Die Regierung ist den eigenen Wählern und Steuerzahlern gegenüber verantwortlich, also versteht es sich von selbst, dass ihre Ausgaben in deutschen Landen bleiben.

Ökonomisch betrachtet ist dieser Gedanke allerdings realitätsfremd. Deutsche Politiker und Unternehmer betonen stets, dass unser Heimatmarkt der grenzenlose Binnenmarkt der EU sei. Wieso also entdecken wir die Schranken wieder, wenn es um Konjunkturprogramme geht? Unsinnig ist diese Herangehensweise gerade für ein Land wie die Bundesrepublik, das von der Bereitschaft seiner Partner lebt, mehr deutsche Waren zu kaufen, als diese bei uns absetzen. Unser hoher Exportüberschuss geht auf nicht mehr als vier Länder zurück, denen gegenüber wir stattliche Positivsalden einfahren: Neben den Vereinigten Staaten sind dies Frankreich, Spanien und Großbritannien.

Das Geschäftsmodell Deutschland, sich vor allem auf die Nachfrage aus dem Ausland nach deutschen Produkten aus ganz wenigen Branchen zu verlassen, macht uns besonders anfällig für globale Abschwünge. Deshalb beginnt eine Diskussion darüber, ob und wie dieses Modell für die Zukunft so angepasst werden kann, dass es krisenfester wird - durch neue Exportbranchen, durch mehr Dienstleistungen, durch die stärkere Entwicklung des Inlandsmarktes.

Wenn wir aber in dieser Lage auch noch anfangen, mit zweierlei Maß zu messen - deutsche Exporte in die Partnerländer sind gut, deutsche Konjunkturförderung darf ihnen aber nicht zugute kommen - zerstören wir die Logik des Binnenmarktes, in dem es keine Diskriminierung gibt und geben darf. Selbst wenn man engstirnig an das eigene Interesse denkt, muss man erkennen: Mit einer strikt nationalen Förderpolitik machen wir uns angreifbar. Ein handelspolitischer Gegenschlag der betroffenen Länder wäre die absehbare Folge, und wir selbst würden am stärksten darunter leiden.     

Beim Thema Opel wird der Ton patriotisch

Schließlich muss man berücksichtigen: Die Finanzierung der Konjunkturprogramme erfolgt nicht rein national, sondern über den europäischen beziehungsweise internationalen Kapitalmarkt. Die Bundeskanzlerin und der Finanzminister haben das indirekt anerkannt. Sie haben darauf hingewiesen, dass die kräftig steigende Neuverschuldung vor allem der großen OECD-Staaten den Kapitalmarkt so stark belastet, dass einzelne, als schwächer eingestufte Länder zumindest in Momenten der Spitzenbelastung ihren Kapitalbedarf nicht mehr befriedigen können. Deshalb sei eine Abstimmung großer Emissionen von Anleihen sinnvoll. Auch hier zeigt sich also, dass es kein staatliches Handeln mehr gibt, dessen Wirkung an den nationalen Grenzen endet.

Erfreulicherweise hat sich die Bundesregierung bei der Formulierung der Konjunkturpakete nicht allzu sehr von den Freunden der Abschottung beeindrucken lassen. Die Abwrackprämie beispielsweise kommt selbstverständlich auch ausländischen Herstellern zugute, das hat Berlin in Kauf genommen. Gleiches gilt allerdings nicht bei staatlichen Initiativen wie der versuchten Opel-Rettung. Hier wird der Ton sehr patriotisch. SPD-Politiker trumpfen mit dem Spruch auf, jetzt sei nicht die Zeit für ordnungspolitische Grundsatzdebatten, sondern für  pragmatisches Handeln zur Rettung von deutschen Arbeitsplätzen. Dem liegt ein kurioses Missverständnis zugrunde: Ordnungspolitische Überlegungen sind kein Katechismus, zu dem man sich bekennen muss, sondern eine durchaus pragmatische Richtschnur, die Politiker vor groben Fehlern bewahren kann. Ein solcher Fehler ist es, wenn der Staat sich von einem Unternehmen die Verantwortung für eigene Versäumnisse in der Vergangenheit zuschanzen und sich von ihm beziehungsweise potenziellen Investoren für eigene Interessen instrumentalisieren lässt.

Im konkreten Fall bedeutet das: Warum sollte der Staat einem Investor wie Fiat oder Magna unter die Arme greifen, der aus eigenem Geschäftsinteresse die Übernahme von Opel-Werken erwägt? Wieso sind in einer von großen Überkapazitäten belasteten Autoindustrie Arbeitsplätze bei Opel schützenswerter als solche bei VW, BMW oder Mercedes? Kann man den dort beschäftigten Arbeitnehmern zumuten, mit ihren Steuergeldern einen staatlich geleisteten Vorteil für den Wettbewerber Opel zu finanzieren? Wie kann man auf eine so absonderliche Idee wie jene des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch verfallen, einen Rettungsplan rein national zu formulieren und mit General Motors sowie Investoren zu verhandeln, gleichzeitig aber zu verlangen, dass die anderen Opel-Standorte wie Spanien und Großbritannien das Ergebnis übernehmen und mitfinanzieren sollen? Und schließlich: Besteht nicht die eigentliche staatliche Aufgabe darin, wettbewerbsneutral bei der Entwicklung von Technologien mitzuhelfen, die künftig der Autoindustrie zu den größten Absatzchancen verhelfen?

Bei der Auseinandersetzung um Freihandel oder Protektionismus geht es also nicht um einen blutleeren Streit wie den um das Geschlecht der Engel. Es geht schlicht darum, nicht noch einmal den Fehler der dreißiger Jahre zu begehen. Die Wiederholung zu vermeiden verlangt aber mehr, als nur raffiniertere Instrumente einzusetzen. Vielmehr muss man auf die fragwürdigen Dienste des Schmuddelkindes ganz und gar verzichten.

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