Der Rückzug der Mitte

Wird die Linke konservativ und die Mehrheit unpolitisch? In der Absicht, vor allem ihr individuelles Wohlergehen zu sichern, treffen immer mehr Menschen Entscheidungen, die kollektive Nachteile zur Folge haben - und schaden sich so durch die Hintertür selbst

In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, die vor dem Niedergang der westlichen Demokratie, dem Ende des Politischen und dem Rückzug ins Private warnen. Die Finanzkrise, der Abbau sozialer Schutzmechanismen und Arbeitnehmerrechte, die Ausweitung globaler Konflikte und ökologischer Problemlagen hätten inzwischen einen Punkt erreicht, der mittelfristig nicht nur die westlichen Demokratien, sondern den Kapitalismus als Ganzes, sein ökonomisches, soziales und ökologisches Über-leben infragestelle. Ein nachhaltiger Wille zum Widerstand oder gar zum Protest sei jedoch kaum auszumachen.

Vor allem die jüngere Generation habe sich aus dem Politischen zurückgezogen. Sie zeige eine Rückwendung hin zu Familien-, Gemeinschafts- und Traditionswerten und eine unhinterfragte Anpassungsbereitschaft an die Spielregeln der Marktgesellschaft. Dies manifestiere sich auch in der Abwesenheit politischer Gesellschaftsentwürfe. Die Jüngeren zögen aus gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und prekärer Beschäftigung keine politischen Konsequenzen, sondern suchten allein das Private: Sie wollten für sich wirtschaftliche Sicherheit, passten sich pragmatisch den herrschenden Leistungsnormen an und sehnten sich nach stabilen Ordnungen.

Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka glaubt, dass der Rückzug ins Private kein neues Phänomen ist. Es habe in der Geschichte immer wieder Zeiten des Rückzugs gegeben – als Zeichen kollektiver Verausgabung und Erschöpfung. Das sei in den fünfziger Jahren, nach der Katastrophe der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges wie auch nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 der Fall gewesen, also vor allem nach Phasen des gesellschaftlichen Umbruchs, nach einer großen öffentlichen Anstrengung und Überspannung der politischen Idee. Bereits der Soziologe Albert Hirschman geht in seinem Essay Engagement und Enttäuschung aus dem Jahr 1984 von einem Zyklenmodell aus: Auf eine Phase des öffentlichen Engagements und der Ideologie folge fast zwangsläufig ein zunehmendes Interesse an Konsumgütern und privatem Fortkommen. Letzteres würde nach einiger Zeit aufgrund der unausweichlichen Beschränktheit der privaten Glückssuche wiederum durch den verstärkten Einsatz für öffentliche Belange abgelöst. Haben wir es also lediglich mit einem Zeitgeistphänomen zu tun, mit einer momentanen Sehnsucht nach Bürgerlichkeit und konservativen Werten?

Ein libertäres Zeitalter – aus Mangel an Alternativen

Im Gegensatz dazu betonen politische Ökonomen und Soziologen die Unwiderruflichkeit der gegenwärtigen Entwicklung. Im politischen Rückzug manifestiere sich eine grundsätzliche Schwächung der Institutionen demokratischer Willensbildung. Die zunehmende Macht multinationaler Konzerne und die Umgestaltung der Politik zur Mediendemokratie habe die Macht der Staaten und politischen Entscheidungsinstanzen ausgehöhlt; wir befänden uns bereits heute in einem Zustand der Postdemokratie.

Der Publizist und Historiker Mark Lilla verortet (in der Berliner Republik 6/2014) das Problem dagegen eher auf einer kulturellen Ebene der Ideologien und Glaubenssysteme. Den Linken seien die Ideen ausgegangen, die aus den Ideologien seit der Französischen Revolution geborenen Utopien seien mit dem Ende des Kalten Krieges erloschen. Das politische Denken im Westen sei niemals so oberflächlich und leidenschaftslos gewesen wie heute. Es sei bequem geworden und antworte auf jedes weltpolitische Problem mit ein und demselben Dogma: dem der individuellen Freiheit. Heraufgezogen sei unser libertäres Zeitalter schlicht aus Mangel an Alternativen. Die individuelle Freiheit habe Vorrang gegenüber sozialen Bindungen, der Markt gegenüber der öffentlichen Gewalt und das Gebot der Toleranz gegenüber der Gestaltung des Gemeinwesens. Doch solange es an bewegenden Bildern und großen Erzählungen fehle, würden die Menschen in westlichen Kulturen ihre aktuelle Selbstbezüglichkeit und ihr politisches Desinteresse nicht überwinden können.

Auch die in den Sozialwissenschaften weit verbreitete Kritik am Neoliberalismus führt das Ende des Politischen auf den gesteigerten Individualismus zurück. Er begann als Emanzipationsprojekt der Neuen Sozialen Bewegungen und tritt dem Einzelnen nun als Forderung nach freier Entscheidung, als Strategie einer aktivierenden Politik entgegen. Etliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die zuvor beim Staat lagen, werden nun auf private Akteure, zivilgesellschaftliche Gruppen und vor allem auf Einzelpersonen und Familien übertragen.

Wie konnte der Rückzug ins Private überhaupt zur plausiblen Option werden?

Auch wenn diese Erklärungsansätze jeweils ihre volle Berechtigung haben, muss man sich fragen, wie die ideologische Entleerung und die politische Abstinenz unter der Ägide des Neoliberalismus überhaupt derart hegemonial werden konnte – in einer Zeit, wohlgemerkt, in der die Neuen Sozialen Bewegungen emanzipatorische Werte tiefer und breiter im öffentlichen Bewusstsein verankert haben als jemals zuvor. Wieso ist der Rückzug ins Private für viele eine so plausible Reaktionsweise? Warum flackern Proteste gegen soziale Spaltungen und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in jüngerer Zeit meist nur wie ein Strohfeuer auf, um dann ohne ernstzunehmende Auswirkungen zu verschwinden? Weshalb löst der neosoziale und neoliberale Diskurs nicht mehr Widerstand bei den Betroffenen aus?

Dabei werden demokratiegefährdende Entwicklungen keineswegs nur von außen an die Gesellschaft herangetragen. Vielmehr sind sie mit den Interessen ganz normaler Bürger verflochten. Diese haben die Spielregeln des Neoliberalismus längst verinnerlicht und erwarten nun auch von anderen Wettbewerbsgeist, Bereitschaft zur Selbstoptimierung und Disziplin. Wer sich dem nicht unterwirft, wird ausgegrenzt. Entstanden ist eine neue Matrix sozialer Distinktion. Man schimpft nicht mehr auf die Eliten, sondern möchte am liebsten selbst dazu gehören und grenzt sich nach unten ab.

Für viele scheint es zwar zunächst sehr einleuchtend, die „Globalisierung“ und vor allem Akteure aus der Finanzwelt wie Unternehmensvorstände, Ratingagen-turen oder Investmentbanker für aktuelle Krisenerscheinungen verantwortlich zu machen, seien es die wachsenden Ungleichheiten, der Abbau des Wohlfahrtsstaates oder die Ausbeutung von Arbeitskräften. Der Neoliberalismus erscheint in dieser Perspektive mal als Agglomerat anonymer Systemzwänge, mal als Elitenprojekt, das dem einfachen Bürger durch unliebsame Reformen aufgezwungen wurde. Vor allem der moderne Geldadel eignet sich gut als Projektionsfläche und Gegner in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Es ist der globale Investor, der sein Geld sofort zurückzieht, wenn das Risiko zu groß wird, und dessen Einkommen nicht durch Arbeit, Risiko oder Investitionen, sondern durch spekulative Gewinne zustande kommt. Ob mit den Milliarden, die dabei verdient werden, gesellschaftlicher Nutzen entsteht, ist fraglich.

Doch dies alles ist nur die halbe Wahrheit. Fernab von den großen Bühnen der Finanzmärkte und der Wirtschaftspolitik, gewissermaßen in den ganz gewöhnlichen Alltagswelten, zeigt sich, dass der in der Mittelschicht gern beklagte „Terror der Ökonomie“ und die wachsenden sozialen Spaltungen von ganz normalen Mittelstandsbürgern mitverursacht werden. Die Angehörigen der Mittelschicht sind in das neoliberale Projekt verstrickt und unbeabsichtigt selbst zu zentralen Akteuren einer Gesellschaftsordnung geworden, die sie eigentlich kritisieren und als deren Opfer sie sich fühlen. Dies geschieht paradoxerweise aus den sehr verständlichen und berechtigten Versuchen, Bedrohungen abzuwehren und den eigenen Status zu sichern. Ausgerechnet das konservative Interesse am Erhalt des eigenen Status lässt die Mittelschicht zur Vollstreckerin problematischer Entwicklungen werden. Zugleich verhindert die eigene Verstrickung vielfach, dass Probleme realistisch wahrgenommen und angegangen werden.

Anhand von zwei Beispielen lässt sich zeigen, welche aktive Rolle die Mittelschicht bei diesen Entwicklungen spielt und wie ihre aggregierten Handlungen durch ungeplante Folgen neue Strukturen schaffen, die wiederum problematische Konsequenzen auch für die „Mittäter“ selbst haben. Denn ungeschoren kommen die Mittelschichtsbürger nicht davon. Sie tragen zu einer Gesellschaftsordnung bei, von deren problematischen Auswirkungen sie mittel- und langfristig – vermutlich in gravierendem Ausmaß – betroffen sein werden. Die Kollaboration mit dem Neoliberalismus zeitigt aber auch kurzfristig selbstschädigende Effekte.

Die anlässlich wiederholter Finanz- und Arbeitsmarktkrisen durchgeführten Umfragen belegen, dass die einzelnen Befragten zwar von einer negativen gesellschaftlichen Entwicklung in den nächsten Jahren ausgehen, sich selbst und ihre persönliche Zukunft aber häufig in einem überraschend positiven Licht sehen. Viele glauben, dass die Gesellschaft durch wachsende Ungleichheiten und Spaltungen gekennzeichnet ist, verorten sich selbst aber in der Mittelschicht. Die meisten Bürger sind davon überzeugt, dass ihre persönlichen Fähigkeiten sie auch dann vor Gefährdungen schützen, wenn alle anderen negativ betroffen sind. Diese Form der Kontrollüberzeugung ist in der gegenwärtigen Sozialforschung ein allgegenwärtiges Phänomen.

Individuelles Streben und kollektiver Nachteil

Der kollektive Nachteil dieser rein auf das individuelle Wohlergehen konzentrierten Strategie ist – ganz zu schweigen von der Entsolidarisierung – das Risiko der Entwertung von Privilegien durch die Inflationierung von Statusaspirationen. Betrachten wir dies am Beispiel des Bildungswettbewerbs. Viele besorgte Eltern greifen zu immer aufwändigeren Mitteln, um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern: Elitekindergärten, Privatschulen, Sprachunterricht, Auslandsaufenthalte, Hochschulabschlüsse von renommierten amerikanischen Universitäten und so weiter. Der Markt der Privatschulen wächst. Diese gelten längst nicht mehr nur als Reservate für die Begüterten, sondern kommen schon für den gut verdienenden Mittelstand in Frage. Wer sein Kind im kommunalen Schulsystem unterbringt, versucht die vermeintlichen Schwächen der öffentlichen Bildung durch private Initiativen auszugleichen. Dies ist auch eine ökonomische Frage, denn exklusive Studien und Auslandsaufenthalte kosten Geld und erfordern Rücklagen. Spezialisierte Bildungsfonds bei Bankinstituten und professionelle Studienberater bieten hier Unterstützung. Häufig werden die nicht unerheblichen Kosten für Privatschulen oder Exzellenzuniversitäten von den Großeltern übernommen. Es mehren sich zudem die „Helikoptereltern“, die von Anfang an jeden Schritt in der Bildungsbiografie ihrer Kinder überwachen.

Welche kollektive Schädigung erwächst daraus für die Beteiligten? Man kann das Phänomen mit den Begriffen der Bildungsökonomie von Fred Hirsch erklären. Höhere Bildungsabschlüsse sind Positionsgüter, die Vorteile nur durch ihre relative Exklusivität verschaffen. Positionsgüter können niemals von allen besessen werden, sondern nur von Wenigen. Nur wenn der Besuch von Privatschulen und Eliteuniversitäten auf Wenige begrenzt bleibt, kann deren Rendite eingelöst werden. Sobald sich eine Mehrheit um höhere Bildungsabschlüsse bemüht, werden diese entwertet. Die elitär Gesinnten müssen nun neue Wege finden, ihren Qualifikationsvorsprung zu erhalten. Darin steckt jedoch die Logik des Überbietungswettbewerbs, denn neue, höhere Bildungsabschlüsse stufen automatisch die Qualifikationen der anderen herab. Die Vorteile der einen sind die Nachteile der anderen. Dies ist ein ungewollter Effekt, bei dem Bildungszertifikate durch Bildungsexpansion entwertet werden. So glauben immer mehr Menschen, dass aufgrund der gestiegenen Anforderungen in den unterschiedlichen Berufen nur noch Abiturienten erfolgreich in diesen ausgebildet werden können. Damit wächst jedoch die Gefahr, dass für die Teilnehmer am Bildungswettbewerb lediglich die individuellen Bildungsausgaben, nicht aber die Erwerbschancen steigen. Die höheren Bildungsaspirationen führen dann nicht mehr zu besseren Berufspositionen, sondern zu abnehmenden Prämien von Bildungsinvestitionen überhaupt. Die Hindernisse aber werden für alle erhöht.

Der kollektive Buddenbrooks-Effekt

Noch sichtbarer wird die aktive Rolle der Mittelschicht an problematischen Entwicklungen im Bereich der Vermögens- und Finanzvorsorge. Auch hier sind es Strategien der Sicherung, die sich, wenn sie massenhaft verfolgt werden, zu schädigenden Folgen aufhäufen. Viele Mittelschichtsbürger fragen sich, wie das eigene Vermögen oder das Ersparte optimal gesichert werden kann, schließlich soll es als Altersvorsorge dienen oder an die Kinder weitervererbt werden. In den vergangenen Jahren wurde, ausgelöst durch die Finanzmarktkrise, die im kollektiven Gedächtnis der Deutschen so tief verankerte Angst vor Inflation und Vermögensverlust erneut entzündet. Zusätzlich haben die Krisen um Griechenland, Zypern, Spanien und Portugal den Glauben in die Geldwertstabilität erschüttert. Hektisch werden Eigentumswohnungen und Inflationsanleihen erworben. Die Immobilienpreise explodieren und besonders versierte Anleger ziehen auch Silber, Gold und Platin als Wertaufbewahrungsspeicher in Betracht.

Die gegenwärtig angebrochene Ära des Finanzmarktkapitalismus wird also wesentlich auch durch die Mittelschicht getragen – und schlägt auf sie zurück. Christoph Deutschmann spricht hier von einem „kollektiven Buddenbrooks-Effekt“. Finanzmarktkapitalismus bedeutet ja zunächst, dass sich die Finanzierung großer Unternehmen von den Kredite gebenden Banken auf Aktienbeteiligungen durch Fonds (auch Renten- und Immobilienfonds) verlagert hat. Unternehmen, die für ihre Geschäfte und weitere Expansion zusätzliches Kapital benötigen, beschaffen es sich nicht mehr als Kredit von ihrer Hausbank, sondern durch die Ausschüttung von Aktien. Dieser Wandel in der Unternehmensfinanzierung wurde aber nur dadurch möglich, dass weltweit zunehmend anlagebereites Kapital verfügbar ist, dessen Eigentümer sich nicht mit den mageren Zinssätzen der Banken zufriedengeben, sondern in Aktien und spekulative Geldanlagen mit höheren Renditen investieren.

Die vermehrte Verfügbarkeit von Kapital hängt wiederum eng mit dem nach-haltigen Wachstum der Vermögen zusammen. Ohne den beträchtlichen intergenerationellen Aufstieg, wie ihn die Bundesrepublik und andere Industrieländer nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten, wäre dieses Wachstum der Vermögen nicht zustande gekommen. Dadurch stieg die Nachfrage nach neuen Anlagemöglichkeiten. Große Kriege und Krisen, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wiederholt beträchtliche Vermögen vernichteten, blieben seitdem aus. Entsprechend nachhaltig sind die privaten Finanzvermögen gewachsen, nämlich seit den achtziger Jahren dreimal stärker als das aggregierte Sozialprodukt von 23 hochentwickelten OECD-Ländern. In den Worten von Christoph Deutschmann: „Es ist ein chronischer Kapitalüberfluss, der auf Verwertung drängt.“

Wie sich die Mittelschicht selbst aushöhlt

Bei den Vermögensbesitzern handelt es sich meist um sozial Erfolgreiche. Sie gehören den gehobenen und höchsten Einkommensklassen an, verfügen überproportional häufig über gehobene Bildungsabschlüsse und sind in privilegierten Berufen tätig. Vielfach handelt es sich um Personen, denen der Erfolg nicht in die Wiege gelegt wurde, sondern die ihn sich erarbeitet haben. Oft sind es soziale Aufsteiger, die beruflich und sozial eine weit höhere Position als ihre Eltern einnehmen.

Wie verhalten sich nun Personen, die zu Geldreichtum gekommen sind? Welche Kalküle verfolgen sie? Rein theoretisch wäre denkbar, dass die Vermögenden mit ihrem Einkommen zufrieden sind, ihre Konsumausgaben erhöhen und Überschüsse spenden. Doch sind gerade in Deutschland konsumtive Verhaltensmuster eher nicht verbreitet. Vor allem soziale Aufsteiger verspüren nur eine geringe Neigung, finanzielle Überschüsse auszugeben. Gerade sie haben das Muster der aufgeschobenen Belohnung verinnerlicht und sind daher bestrebt, ihr Geld so einzusetzen, dass es ihrem weiteren Aufstieg und der Weitergabe ihres Status in der Generationsfolge dient.

Deshalb übertragen immer mehr Mittelschichtsbürger ihr Geld den Fondsgesellschaften, die bekanntlich höhere Renditen als das klassische Sparbuch bieten, und beteiligen sich so an der Aushöhlung des Wohlfahrtskapitalismus. Selbst im traditionell eher risikoabgeneigten Deutschland besitzen nach einer von der Deutschen Bundesbank im Jahr 2011 durchgeführten Panelstudie 22 Prozent der Haushalte Fondsanteile und 11 Prozent der Haushalte Aktien.

Die Fondsgesellschaften sind das Bindeglied zwischen den Geldanlagen der Bürger und der neoliberalen Unternehmenspolitik. Um die Renditen im Sinne der Anteilseigner (Mittelstandsbürger) zu steigern, erhöhen sie den Druck auf die Unternehmen, Arbeitsplätze zu reduzieren und Löhne zu kürzen. Falls die Unternehmen die vereinbarten Renditeziele nicht erfüllen, werden sie verkauft oder geschlossen. Das führt häufig zu kurzfristigen Gewinnorientierungen des Managements. Langfristig rentable Innovationsprojekte und Investitionen werden vernachlässigt. Gewinne resultieren dann nicht länger aus Wachstum (Produktivitätssteigerung), sondern kommen durch Umverteilung zulasten von Löhnen, Gehältern, Steuern und Sozialleistungen zustande. Im Klartext: Das in Aktien investierte Vermögen der Mittelschicht führt zur Prekarisierung von Arbeit und Arbeitnehmern und damit zur Aushöhlung der Mittelschicht selbst.

Zudem entsteht durch das Wachstum der anlagesuchenden Vermögen eine Situation der Überliquidität. Es gibt in Deutschland, wie auch in anderen entwickelten Industrieländern, einen chronischen Überfluss an anlagesuchendem Geldvermögen. Dadurch steigt aber das Risiko, dass sich Finanzblasen bilden. Geld hört dann auf, Kapital zu sein. Das im Überfluss vorhandene Kapital weicht mangels realer Investitionsobjekte auf Anlagen aus, die keine echten Renditen erbringen, sondern in denen das Geld selbst zum Anlageobjekt wird.

Die Beispiele zeigen, dass die Mitte nicht in erster Linie von anonymen, unkontrollierbaren Kräften bedroht wird, sondern unfreiwillig zur Trägerin einer neuen Gesellschaftsordnung geworden ist, die sie eigentlich kritisiert, weil sie den mittelständischen Prinzipien von Gleichheit, Demokratie und Stabilität widerspricht. Während die Mittelschicht sich selbst eher als Opfer der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verwerfungen betrachtet, ist sie in Wirklichkeit deren Mitverursacher.

Im Alltag werden Leiharbeiter vom Club der Festangestellten ausgeschlossen

Die Mitwirkung an problematischen Entwicklungen zeigt sich auch in anderen Bereichen. Unterschiedliche Milieus tragen zur Vertiefung sozialer Spaltungen bei, indem sie sich nach unten abgrenzen. So findet sich laut einer Studie von Klaus Dörre und Mitarbeitern aus dem Jahr 2011 bei von Erwerbskrisen bedrohten Fach-arbeitern eine Tendenz zur Entsolidarisierung. Zwar zeigt sich ein durchaus kritisches Bewusstsein gegenüber gesellschaftlichen Strukturen in der Krise. Beispielsweise sind die meisten befragten Facharbeiter der Ansicht, dass der gesellschaftliche Wohlstand besser verteilt werden müsse, und dass es in der Gesellschaft nur noch ein Oben und ein Unten gebe. Auch glaubt etwa die Hälfte der Befragten, dass die heutige Wirtschaftsweise auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Doch bleiben das eigene Selbstverständnis und vor allem das eigene Handeln von diesen gesellschaftskritischen Ansichten merkwürdig unberührt. Denn in der konkreten Alltagspraxis werden Leiharbeiter vom Club der Festangestellten ausgeschlossen und als Arbeitnehmer zweiter Klasse behandelt. Die Leiharbeit erscheint den Festangestellten als ein Leben außerhalb der Respektabilität: Die meisten Befragten sind sich einig, dass in Zukunft nicht mehr jede und jeder mitgenommen werden kann. „Die eigenen Chancen auf Beschäftigungssicherheit steigen, wenn man den Club der Festangestellten einigermaßen exklusiv hält“ – so die Schlussfolgerung der Autoren.

Als Feindbilder sind unter den Facharbeitern auch die Arbeitslosen beliebt. Obwohl Hartz IV als klare Bedrohung auch des eigenen sozialen Status wahrgenommen wird, bleibt die eigene Betroffenheit doch eher hypothetisch. Rund 50 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, „auf Arbeitslose sollte größerer Druck ausgeübt“ werden. Nahezu die Hälfte der Befragten bekannte sich zu einem unverblümten Sozialdarwinismus: „Eine Gesellschaft, in der jedermann aufgefangen wird, ist nicht überlebensfähig.“ Das Beispiel zeigt, dass trotz starker Gesellschaftskritik eine Wagenburgmentalität vorherrscht, die keine Solidarisierung mit Leiharbeitern oder Arbeitslosen zulässt, sondern auf klare Abgrenzung hinausläuft.

Weniger offensichtliche, aber ebenso wirksame Formen der Abgrenzung zeigen sich auch in den großstädtisch-bürgerlichen Milieus der Mittelschicht, die in jeder Hinsicht zu den Gewinnern gesellschaftlicher Entwicklungen gezählt werden können. Seit den neunziger Jahren hat die gehobene Mittelschicht eine Metamorphose von einer alternativen hin zu einer bürgerlichen Mentalität vollzogen. So siedelte sich in Großstadtbezirken mit „Flair“ eine neue, flexible Dienstleistungsklasse an, die für steigende Mieten sorgt. Oberflächlich betrachtet handelt es sich um ehemals „linke“ Stadtteile, also um Stadtteile, in denen viele Menschen leben, die für sich beanspruchen, die richtige Gesinnung, Toleranz gegenüber anderen sowie Sinn für gesellschaftliche Solidarität und das Allgemeinwohl zu besitzen. Sie werden von Personengruppen bevölkert, die sich für Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit, für Ökologie und gesellschaftliche Integration einsetzen.

Vor allem Berlin gilt als Eldorado toleranter Lebensformen. Doch zeigt sich in den urbanen Stadtteilen wie Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Kreuzberg oder Schöneberg, dass die gesellschaftliche Spaltung auch die Linken erfasst hat, zumal die Wohlhabenden unter ihnen längst ins bürgerliche Lager übergelaufen sind. Die ehemalige Linke wird zum Schauplatz neuer Kulturkämpfe um die richtigen Lebensentwürfe innerhalb der eigenen Reihen: Linke Aufsteiger mit Geld und gutem Gewissen stehen linken Aussteigern gegenüber, die an ihrem alten Modell festhalten wollen, aktuell jedoch aus ihren urbanen Lebensräumen verdrängt werden.

So hat sich etwa Berlin-Friedrichshain in den neunziger Jahren sehr schnell vom Arbeiterviertel zum Szenequartier mit hohem Akademikeranteil entwickelt, mindestens zwei Drittel der Bewohner rund um den S-Bahnhof Ostkreuz sind erst in den vergangenen Jahren zugezogen. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um Gutverdiener, die den urigen Lifestyle der Kieze schätzen und doch gleichzeitig dafür sorgen, dass das urtümliche „Flair“ durch konsumierbaren, links-romantischen Chic verdrängt wird. Das Ende der Metamorphose der In-Stadtteile von einer linken Hausbesetzerszene zur urbanen Öko-Enklave wird mit den Touristenströmen besiegelt. Auch deshalb reagierten die autonomen Linken verstärkt mit Krawallen. Drei Milieus treffen in Berlin-Friedrichshain aufeinander: die altansässigen Ostdeutschen, die linke Szene, die bald nach der Wende kam, und schließlich die jüngst Zugezogenen: Akademiker und Gutverdiener, die für Kinderreichtum und Kaufkraft sorgen.

Selbstabschließung und Entsolidarisierung

Offenkundig ist zudem, dass die akademisch gebildeten Alternativen in ihrer konkreten Lebenspraxis die eigenen, gefühlten Ideale beständig unterlaufen. In Berlin-Prenzlauer Berg, einer weiteren Hochburg der jungen, urbanen Dienstleistungseliten, ist die Hälfte der Bevölkerung zwischen 25 und 45 Jahre alt, der Anteil der Akademiker hat sich seit 1995 verdoppelt. Auch kosmopolitisches Denken und Toleranz finden hier scheinbar eine materiale Grundlage: So liegt der Anteil der Ausländer bei 11 Prozent und damit nur geringfügig unter dem Berliner Durchschnitt. Doch die Zusammensetzung ist eine völlig andere. Die größte Gruppe bilden Franzosen, gefolgt von Italienern, Amerikanern, Briten, Spaniern und Dänen – eine „G8-Bevölkerung“, hoch gebildet und in qualifizierter Arbeit. Es gibt zehnmal mehr Japaner als Ägypter, und der Anteil der Türken beläuft sich auf 0,3 Prozent. Man kann sich im Prenzlauer Berg also tolerant fühlen, weil die eigene Toleranz nicht herausgefordert wird. Weder türkische Migranten noch Telecafés prägen das Straßenbild. Die Mieten sind dafür zu teuer. Man kann alternativ sein, weil es hier jeder ist, an jeder Ecke kann man gesundes Essen, Workshops und Gesundheitsvorsorge kaufen. Oder wie es Henning Sußebach in seiner Glosse „Bionade-Biedermeier“ im Zeit-Magazin formulierte: „Prenzlauer Berg ist ein Ghetto, das ohne Zaun auskommt – weil es auch ohne zunehmend hermetisch wirkt.“

Diese neubürgerlichen Lebensformen dienen nicht nur der Selbstvergewisserung, sondern können auch als heimliche Form eines Kulturkampfes betrachtet werden. Das neue Bürgertum strebt dabei nicht bewusst die Abgrenzung nach „unten“ an, dazu ist es zu tolerant und zu selbstkritisch. Umso wirkungsvoller sind die verborgenen Mechanismen der sozialen Ab- und Ausgrenzung. In den Augen der neubürgerlichen Mittelschicht muss es etwas geben, was sie als dauerhaft Erfolgreiche von den sozialen Absteigern unterscheidet. Die wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich schreiben sie daher individuellen Bildungs- oder Leistungsdefiziten zu. So werden Armut, geringe Einkommen und prekäre Lebensumstände als persönliches Versagen gedeutet. Häufig geht mit der Renaissance bürgerlicher Lebens- und Mentalitätsformen ein neuer Leistungs- und Verantwortungsindividualismus einher, der soziale Ungleichheiten in moralischen Kategorien deutet und sich nicht mehr dem Prinzip der sozialstaatlichen Umverteilung verpflichtet fühlt.

Wofür stehen diese Beispiele? Sie zeugen erstens von einer klaren Tendenz zur Selbstabschließung, was letztlich einer Entsolidarisierung einzelner Milieus innerhalb der Mittelschicht gleichkommt. Die dahinter liegende Logik lautet: Selbstschutz durch Selbstabschließung, Statuserhalt durch die Herausbildung exklusiver Clubs. Dabei zeigen sich durchaus Unterschiede: Im Milieu der Facharbeiter wird die Abgrenzung nach unten, häufig offensiv, etwa durch die Denunziation von Arbeitslosen betrieben. Dagegen werden die Ausschließungsmechanismen des modernen Bürgertums im Prenzlauer Berg weitaus subtiler, aber umso effizienter vollzogen. Explizite Abgrenzung und Hetze gegen sozial Schwächere sind hier tabu, denn Toleranz gilt als oberste moralische Maxime. In der Folge findet soziale Schließung im „Ghetto ohne Zaun“ gleichsam ohne Zensur, ohne bewusste Absicht statt. Der Zuzug wird über den Quadratmeterpreis gesteuert. Und Toleranz kann man sich leisten, nicht zuletzt deshalb, weil man sicher ist, dass die eigenen Kinder hier in die richtigen Schulen gehen – nämlich Schulen ohne „Migrationsprobleme“.

Wieso wird hingenommen, dass die meisten leer ausgehen?

Zweitens zeugen beide Beispiele von einem gespaltenen Bewusstsein nach dem Prinzip: gute Moral versus schlechte Gesellschaft. Man selbst zählt sich zu den Guten und Toleranten, und weiß sich erfüllt vom kritischen Bewusstsein, während es in der „Gesellschaft da draußen“ immer rauer zugeht. Deshalb muss jeder schauen, wo er bleibt – das sind nun mal die Spielregeln. Mittelstandsbürger agieren daher vor allem als Alltagskritiker des Finanzmarktkapitalismus und seiner Verwerfungen, ohne dass ihr eigenes Selbstverständnis davon berührt wird. Diese Bewusstseinsspaltung kann sich jedoch als trügerisch erweisen. Sie funktioniert nur so lange, wie die „schlechte Gesellschaft“ tatsächlich „da draußen“ bleibt und nicht auf einen selbst zurückschlägt.

Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Zukunft des Politischen ziehen? Die meisten Menschen leben heute in dem Gefühl, die herrschende Ordnung werde durch Mächte und Akteure begründet, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Dieses Gefühl wird durch die neoliberale Ordnung der Marktgesellschaft gezielt gefördert und verstärkt. Denn in vielen, auch wirtschaftsfernen Lebensbereichen wurde die Ordnung von Wettbewerb und Markt künstlich implementiert: Wissenschaftler und Kreative konkurrieren um Förder- und Preisgelder, Krankenhäuser um Patienten, Universitäten um Exzellenztitel. Viele scheitern in ihren Bemühungen, weil es sich bei vielen Wettbewerben um Konstellationen nach dem Muster the winner takes it all handelt: Die Erträge konzentrieren sich auf ganz Wenige, während die meisten leer ausgehen. Wieso wird hingenommen, wenn von vornherein feststeht, dass sich die meisten Teilnehmer vergeblich bemühen? Weshalb gibt es keinen Protest gegen das Vorgehen an sich? Im offiziellen Diskurs werden diese Ordnungen als fairer Wettbewerb ausgegeben, welcher ja bekanntlich Gewinner und Verlierer hervorbringt. Wer nicht mithalten kann, dem bleiben die Wege in die Kritik verbaut. Seine Misserfolge hat sich so jeder selbst zuzuschreiben.

Auch Arbeitsmärkte sind keinesfalls, wie üblicherweise angenommen, meritokratische Ordnungen, die Bildungsanstrengungen oder Arbeitsstunden belohnen und auf „gerechte“ Weise die Leistungen von Erwerbstätigen bemessen. Wie oben bereits skizziert, hängt der Wert eines Bildungsabschlusses nicht unbedingt von den erworbenen Qualifikationen ab, sondern vielmehr von der Exklusivität eines Titels und dem Ruf der Bildungseinrichtung. Und wenn weibliche Arbeitskräfte schlechter bezahlt oder Berufseinsteiger in unsicheren Arbeitsverhältnissen und Praktika gehalten werden, hat dies weniger mit ihrer Leistungsfähigkeit als mit ihrer Marktposition zu tun.

Widerstand muss nicht immer mit kompletter Umwälzung einhergehen

Jedoch wird die Fairness des Marktprinzips nur selten grundsätzlich angezweifelt: Die Frage, welchen Interessen Wettbewerbe dienen und nach welchen Spielregeln sie inszeniert werden, bleibt sorgfältig hinter den Sprachspielen der Leistungsgesellschaft verborgen. Übersehen wird zumeist, dass gerade mächtige Akteure sich dem Wettbewerbsdruck entziehen, weil sie ihre Stärke dazu nutzen, Konkurrenten auszuschalten, Monopole oder Kartelle zu bilden, Renten und Renditen zu erwirtschaften, die dem Leistungsprinzip entzogen sind. Märkte werden von Akteuren immer auch gezielt im eigenen Interesse beeinflusst, um wirtschaftliche Vorteile zu erlangen. Dies zeigt sich etwa bei vielen Unternehmen, die groß und mächtig geworden sind, weil sie im richtigen Augenblick unliebsame Konkurrenten aus dem Feld geschlagen haben. Aus diesem Grund – das hat jüngst der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty gezeigt – tendieren Märkte dazu, die Verteilung ihrer Erträge immer ungleicher werden zu lassen. Marktrisiken werden von oben nach unten durchgereicht. Dies zeigt sich gerade in der Finanzbranche, vor allem im Investmentbanking und im bankeigenen Handel, die bekanntlich keine Leistungen für andere wirtschaftliche Teilbereiche erbringen, sondern leistungslose Gewinne erzielen.

Die Beispiele legen nahe, dass politisches Handeln häufiger im Alltag verwurzelt sein kann, als es den Einzelnen bewusst ist. Widerstand muss nicht immer mit einer kompletten Umwälzung der herrschenden Ordnung einhergehen. Manchmal würde es schon genügen, das Marktprinzip als Bewertungs- und Verteilungsordnung infrage zu stellen und sich ihm zu verweigern.

Aber auch in anderen Lebensbereichen ist das Politische konkret. Etwa wenn es darum geht, die Macht der Finanzmärkte zu verstehen und zu beschränken. Viele Bürger begreifen das Zusammenspiel zwischen Staatsverschuldung, Banken und Finanzmärkten, Unternehmen und Arbeitnehmerrechten kaum. Warum gingen die Rettungsgelder in Griechenland nicht in die Produktion und in die Unternehmen, sondern primär an die Banken? Es bedarf fundierter ökonomischer und sozialwissenschaftlicher Kenntnisse, um hier Aufklärung zu leisten. Vielen Menschen ist unklar, warum die Krisenpolitik in den Euroländern in so hohem Maße vom Finanzregime und den Banken diktiert wird. Es ist an der Zeit, hier Aufklärungsarbeit zu leisten und Alternativen aufzuzeigen. Dann könnte sich die Mittelschicht nicht mehr so einfach ins Private zurückziehen, sondern müsste sich den politischen Herausforderungen der Marktgesellschaft stellen.

Cornelia Koppetsch ist Autorin des Buches „Die Wieder­kehr der Konformität: Streifzüge durch die gefährdete Mitte“, das 2013 im Campus Verlag erschienen ist. Es hat 200 Seiten und kostet 19,90 Euro.

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