Der Mythos vom polnischen Klempner

Ost gegen West? Die Europäische Union nach der Erweiterung

Die Erweiterung der Europäischen Union hat sich als Erfolg erwiesen. Der Handel zwischen den alten und den neuen Mitgliedsländern floriert. Direktinvestitionen westeuropäischer Unternehmen haben Hunderttausende von Arbeitsplätzen in Mittel- und Osteuropa geschaffen; die Gewinne der Investoren betragen viele Milliarden. Erwerbstätige aus Polen, Ungarn und anderen Ländern haben Kompetenzlücken in denjenigen Ländern der EU gestopft, die ihre Arbeitsmärkte geöffnet haben. Aus dem Haushalt der Union fließt Geld an die ärmsten Regionen des Ostens.

Selbst die osteuropäischen Bauern – zuvor die härtesten EU-Skeptiker der Region – sind weitaus zufriedener, seit sie bemerkt haben, dass sie ihre Produkte in der gesamten Union verkaufen können und nunmehr auch Anspruch auf bestimmte Agrarsubventionen haben.

In politischer Hinsicht hat die EU den Beitritt der zehn neuen Mitglieder jedoch nicht verdaut. Viele Wähler und einige Politiker in Deutschland, Österreich und anderen Ländern glauben, dass die Erweiterung ihren Volkswirtschaften geschadet hat. Viele Menschen in der „alten“ EU denken, dass der Wettbewerb im erweiterten Gemeinsamen Markt irgendwie „unfair“ geworden sei. Im März 2005 marschierten Tausende durch die Straßen von Brüssel, um gegen die Erosion des „Europäischen Sozialmodells“ nach der Erweiterung zu protestieren. In Frankreich war der Widerstand gegen die Erweiterung einer der Gründe dafür, dass so viele Bürgerinnen und Bürger gegen den Europäischen Verfassungsvertrag gestimmt haben. Nur eine Minderheit befürwortet heute noch eine Fortsetzung der Erweiterung – nicht nur in Frankreich, sondern auch in Dänemark, Finnland, Deutschland, in den Niederlanden und in Großbritannien.

Ein großer Teil des Widerwillens, der in der alten EU entstanden ist, hat seinen Grund in falschen Wahrnehmungen über billige polnische Klempner oder lettische Bauarbeiter, die angeblich westeuropäische Arbeitsplätze „stehlen“, indem sie Löhne unterbieten und Sozialstandards missachten. Die Arbeitnehmer in Deutschland oder Italien mögen angesichts des geringen Wachstums in ihren eigenen Ländern neidisch sein auf den scheinbaren wirtschaftlichen Erfolg der neuen Mitglieder. Viele glauben, dieser Erfolg sei erzielt worden, indem Investitionen und Arbeitsplätze mit Hilfe von „unfairem“ Steuerwettbewerb und „Sozialdumping“ nach Osten gelockt wurden. Manche Westeuropäer machen sich auch Sorgen darüber, dass die Erweiterung die EU in eine Abwärtsspirale, ein race to the bottom, im Hinblick auf Löhne, Steuern und Sozialstandards hineingestürzt habe. Die Osteuropäer, so heißt es, seien „nicht an die Solidarität des Europäischen Modells gewöhnt“.1 Die meisten Deutschen, Franzosen und Italiener sind der Auffassung, die neuen Mitglieder seien fest im „angelsächsischen“ Lager der liberalkapitalistischen Ökonomien verankert – ein Eindruck, der verstärkt wurde durch die engen politischen Beziehungen der Osteuropäer zu Großbritannien und den Vereinigten Staaten.

Die Wirklichkeit sieht jedoch sehr anders aus. Keine Frage, die Osterweiterung verändert Europas Wirtschaft. Aber die Wirkungen dieser Veränderungen sind schon seit dem Beginn der wirtschaftlichen Integration vor mittlerweile mehr als einem Jahrzehnt zu spüren. Zweifellos werden auf beiden Seiten in dem Maße weitere Veränderungen notwendig sein, wie sich die Integration vertieft. Und manche Länder der Eurozone wären gut beraten, die Flexibilität ihrer Arbeitsmärkte zu erhöhen, bevor die Osteuropäer im Jahr 2011 (und vielleicht in manchen Ländern früher) das Recht erhalten, sich überall in der Europäischen Union um einen Arbeitsplatz zu bewerben.

Aber die verbreitete Vorstellung, die neuen Länder seien ultraliberale Niedriglohnökonomien, die die Sozialsysteme Westeuropas beschädigten, ist falsch. Zwischen den einzelnen osteuropäischen Staaten bestehen große Unterschiede. Aber grundsätzlich gilt, dass ihre Steuerhöhen und Staatsquoten nur geringfügig niedriger sind als jene in den meisten westeuropäischen Ländern. Sie haben üblicherweise großzügige Sozialsysteme, die angesichts dauerhaft hoher Arbeitslosigkeit unter schwerem Druck stehen. Wie viele „alte“ Länder der EU auch kämpfen die Neulinge darum, angesichts des Niedriglohnwettbewerbs aus dem schnell wachsenden Asien konkurrenzfähig zu bleiben. Und sie suchen nach Wegen, statt industrieller Standardprodukte mehr hochwertige Güter und Dienstleistungen zu produzieren. Im Interesse der europäischen Harmonie sollten westeuropäische Politiker damit aufhören, Stereotype zu verbreiten. Stattdessen sollten sie eine aufgeklärte Debatte darüber beginnen, wie die alten und die neuen Mitglieder am besten von der Erweiterung der Europäischen Union profitieren können.

Die Wirkung des Beitritts

Ökonomisch gesehen ist die Osterweiterung Schnee von gestern. Die Europäische Union einerseits sowie die mittel- und osteuropäischen Staaten andererseits begannen bereits in den frühen neunziger Jahren, ihre bilateralen Handelsschranken abzubauen – noch bevor sie sich auf Zeitpläne für die vollständige Liberalisierung verständigten. Bis 2001 gab es keine Zölle oder Quoten mehr für den Handel mit Industriegütern. Allerdings blieben einige Beschränkungen des Handels mit Dienstleistungen und natürlich Agrarprodukten bestehen. Die Senkung der EU-Handelsschranken sorgte – zusammen mit schneller industrieller Transformation – für einen Exportboom überall in Mittel- und Osteuropa, der für die Erholung der Region entscheidend gewesen ist. In den zehn Jahren vor dem Beitritt zur EU wuchsen die ungarischen Exporte (in Dollar) um 380 Prozent, die tschechischen um 280 Prozent. Im Jahr 2000 lieferten die großen mittelosteuropäischen Staaten bereits 60 bis 75 Prozent ihrer Exporte in die Europäische Union. Mit anderen Worten: Schon lange vor ihrer Mitgliedschaft trieben sie mehr Handel mit der Union, als viele EU-Länder untereinander.

Eng verknüpft war der Exportboom mit hohen ausländischen Direktinvestitionen in Mittel- und Osteuropa. Der Beitritt dieser Länder zur Europäischen Union hat wenig dazu beigetragen, ihre Attraktivität für ausländische Unternehmen zu steigern. Aber der Prozess vor der Erweiterung war im Hinblick auf Direktinvestitionen wichtig – aus verschiedenen Gründen. Zum einen begannen die wirtschaftlichen Bedingungen der osteuropäischen Staaten in dem Maße denen in Westeuropa zu ähneln, wie im Osten Regeln der EU übernommen wurden – mit dem Ergebnis, dass ausländische Investoren sich dort stärker zu Hause fühlten. Zum anderen wurden Länder wie Polen, Estland oder die Slowakei attraktiver für exportorientierte Produktion, als sie ihre Gütermärkte öffneten. Und drittens wirkte die Aussicht auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union als „externer Anker“ für wirtschaftliche Reformen; die EU-Perspektive garantierte ein gewisses Maß an Stabilität und versprach Investoren Sicherheit gegen politische Rückwärtsbewegungen.

Im Ergebnis haben Unternehmen aus den Ländern der Europäischen Union seit den frühen neunziger Jahren mehr als 150 Millionen Euro in die zehn mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer gepumpt. Für westeuropäische Verhältnisse waren diese Zahlen vergleichsweise gering: Im Jahr 2004 investierten die alten EU-15 untereinander elfmal mehr als in den neuen Mitgliedsstaaten. Aber für viele der osteuropäischen Länder belaufen sich die Investitionszuflüsse aus der Europäischen Union auf 5 bis 10 Prozent ihres Bruttosozialprodukts. Diese ausländischen Direktinvestitionen haben geholfen, beträchtliche neue Produktionskapazitäten in Mittel- und Osteuropa aufzubauen, vor allem im Automobilsektor, aber auch in der Elektronik-, Möbel- und Pharmaindustrie sowie in anderen Branchen. Zudem waren ausländische Investitionen verantwortlich für die Schaffung moderner Dienstleistungssektoren wie Großhandel, Banken, Telekommunikation und Transport.

Kurz, die allmähliche Integration in die Europäische Union war der Schlüssel für den wirtschaftlichen Erfolg der neuen Mitgliedsländer. Seit Mitte der neunziger Jahre verzeichnen die mittel- und osteuropäischen Länder regelmäßig höhere Wachstumsraten als die Länder der alten EU. Die polnische Ökonomie beispielsweise wuchs im Laufe des vergangenen Jahrzehnts durchschnittlich um 4,4 Prozent pro Jahr, Ungarn um 3,6 Prozent und Estland um 5,4 Prozent. Zum Vergleich: Deutschland schaffte im Zeitraum von 1995 bis 2004 eine durchschnittliche Wachstumsrate von 1,3 Prozent, Frankreich kam immerhin noch auf 2,2 Prozent. Die Beitrittsländer kamen im Übrigen auch erheblich besser zurecht als die Länder, die nicht für eine EU-Mitgliedschaft kandidieren (oder keine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt bekommen haben): Russland etwa erzielte zwischen 1995 und 2004 eine durchschnittliche Wachstumsrate von 2,9 Prozent, die Ukraine kam auf 1,5 Prozent, Moldawien sogar nur auf 1,4 Prozent.

Hast du meinen Job?

Manche Westeuropäer hegen den Verdacht, der wirtschaftliche Erfolg des Ostens sei zu ihren Lasten erkauft worden. Sie fragen sich, ob billige Exporte aus der Slowakei und Polen nicht holländische und französische Produkte vom Markt verdrängen. Haben die großen Direktinvestitionen schlicht Jobs vom Westen in den Osten transferiert? Im Fall der meisten Mitgliedsstaaten der EU sind die Handels- und Investitionsbeziehungen mit den Kandidatenländern zu gering gewesen, um irgendeinen messbaren Einfluss zu haben. Die Ausnahmen sind Deutschland und Österreich, die viel Handel mit der Region treiben und, gemeinsam mit Frankreich und den Niederlanden, für den größten Teil der dortigen Direktinvestitionen verantwortlich sind. Die Nettowirkung des wirtschaftlichen Zusammenwachsens mit dem Osten ist nur ungeheuer kompliziert zu berechnen. Ökonomen am Münchener Osteuropa-Institut haben Handel und Direktinvestitionen untersucht und den folgenden vorsichtigen Schluss gezogen: Da Westeuropa traditionell einen Handelsüberschuss gegenüber Mittel- und Osteuropa verzeichnet hat, war die Wirkung der Integration in Bezug auf den Handel für die alte EU mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit positiv. Einer Studie zufolge schuf der Handelsüberschuss der EU gegenüber den vier großen mitteleuropäischen Kandidatenländern im Laufe der neunziger Jahre 114.000 Arbeitsplätze in der Europäischen Union.2

Bezogen auf ausländische Direktinvestitionen liegen die Dinge komplizierter. Das gilt zum Beispiel für Deutschland: Deutsche Unternehmen haben seit Mitte der neunziger Jahre ungefähr 40 Milliarden Euro in ganz Osteuropa investiert; Unternehmen ganz oder teilweise in deutschem Besitz beschäftigen inzwischen etwa 900.000 Menschen überall in der Region, von denen 80 Prozent in den acht mittel- und osteuropäischen Ländern arbeiten, die der Union im Mai 2004 beigetreten sind). Die Hälfte dieser Investitionen zielte darauf ab, von den schnell wachsenden Konsumentenmärkten der Beitrittsländer zu profitieren, etwa durch den Bau von Supermärkten oder den Aufkauf einheimischer Banken; Arbeitsplätze in Deutschland sind deshalb nicht verloren gegangen. Die andere Hälfte war darauf angelegt, die niedrigen Arbeitskosten in den Kandidatenländern auszunutzen; dies könnte also potenziell zu Arbeitsplatzverlusten in deutschen Fabriken geführt haben. Den Schluss zu ziehen, dass Arbeitsplätze in einer Zahl von etwa 400.000 aus Deutschland in den Osten abgewandert seien, wäre jedoch falsch. Die Produktion im östlichen Europa ist weitaus arbeitsintensiver als in Deutschland. Anstelle jedes verlorenen Arbeitsplatzes in Deutschland (oder Frankreich oder Österreich) werden in Polen, der Slowakei oder Lettland üblicherweise gleich mehrere geschaffen. Deshalb kalkuliert das Osteuropa-Institut, dass höchstens 70.000 deutsche Arbeitsplätze aus Kostengründen nach Osten abgewandert sind.3

Das ist zwar eine ansehnliche Zahl, aber sie macht nur 1,5 Prozent der insgesamt 4,6 Millionen Arbeitslosen in Deutschland aus. Solche Schätzungen sollten mit Vorsicht interpretiert werden, nicht zuletzt weil sie oftmals ignorieren, dass Investitionen im Ausland auch dem Land zugute kommen, aus dem sie stammen. Ein hoher Anteil der ausländischen Direktinvestitionen stammt von Unternehmen, die – etwa im Auto-, Elektronik- oder Chemiesektor – dem schärfsten internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind. Indem sie Teile ihrer Produktion mit geringer Wertschöpfung in Länder verlagern, in denen Arbeit billiger ist, stellen diese Unternehmen sicher, dass sie weltweit wettbewerbsfähig bleiben. Mit anderen Worten: Direktinvestitionen im östlichen Europa haben dazu beigetragen, Arbeitsplätze in Deutschland und anderswo in Westeuropa zu sichern. Einer vom Osteuropa-Institut angeführten Untersuchung zufolge verlagerten 20 Prozent der deutschen Unternehmen mit ihren Investitionen in Osteuropa auch Arbeitsplätze nach Osten, während 60 Prozent angeben, durch ihre Osteuropa-Investitionen Arbeitsplätze zu Hause gesichert oder geschaffen zu haben.

Und langfristig?

Die direkte Wirkung der EU-Osterweiterung hat sich als marginal erwiesen. Die stärkere wirtschaftliche Performance der neuen Mitgliedsländer hat womöglich die Dynamik der europäischen Wirtschaft um ein paar Grade erhöht. Aber da die zehn neuen Mitglieder zusammen nur fünf Prozent des Bruttosozialprodukts der EU ausmachen (oder zehn Prozent gerechnet in Kaufkraftparitäten), sind sie zu klein, um als Europas wirtschaftliche Lokomotive wirken zu können. Ökonomisch gesehen entsprach die EU-Erweiterung der Hinzufügung einer Volkswirtschaft von der Größe der Niederlande zu einem Gemeinsamen Markt mit 380 Millionen Menschen und einem Bruttosozialprodukt von zehn Billionen Euro. Aber wie geht es in Zukunft weiter? Wenn sie existierende und potenzielle Handelsströme miteinander vergleichen (auf der Grundlage von Faktoren wie geografische Nähe und Einkommenshöhe), nehmen die meisten Ökonomen an, dass die Handelsintegration zwischen den alten und den neuen EU-Mitgliedern so ziemlich vollendet ist. Jedes weitere Wachstum wird vom Wachstum der Nachfrage auf den großen Märkten der EU und von der Entwicklung innerhalb der neuen Mitgliedsländer abhängen. Sofern in den neuen Ländern die Produktivität (und damit die Wettbewerbsfähigkeit) wächst, dürften ihre Exporte weiterhin schnell zunehmen.

Zugleich erwarten die meisten Beobachter, dass die Investitionsströme von den alten zu den neuen Mitgliedern mittelfristig stark bleiben. Die Notwendigkeit, Kosten zu senken, hat sich verstärkt durch das müde Wachstum in der Eurozone, einen stärkeren Euro und eine Kettenreaktion, die ihrerseits das Ergebnis von Outsourcing ist: In dem Maße, wie mehr und mehr Unternehmen ihre Produktion ganz oder teilweise in Niedriglohnregionen verlagern, steigt der Druck auf ihre Wettbewerber, dasselbe zu tun. Nach einer Untersuchung der Unternehmensberatung Rödl & Partner erwarten 80 Prozent der im Jahr 2005 befragten deutschen Unternehmen, dass ihre Investitionen in den neuen Mitgliedsländern in den folgenden Jahren steigen werden. Jedoch befürchten manche größeren Unternehmen, dass die EU-Mitgliedschaft die Löhne und sonstigen Kosten in den mittel- und osteuropäischen Ländern in die Höhe treiben wird. Deshalb verlagern sie ihre Produktionsanlagen weiter nach Osten oder nach Asien, während sie Prag, Tallinn oder Budapest zunehmend für das Outsourcing von Informations- und Telekommunikationsdienstleistungen nutzen. Solche Investitionen in den Dienstleistungssektor, besonders in Forschung und Entwicklung, sind wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Mitgliedsländer. Aber sie sind üblicherweise weniger kapitalintensiv, so dass sie statistisch nicht in Form höherer Direktinvestitionen erkennbar werden dürften.

Laut einer Umfrage für den Spiegel im Frühjahr 2004 erklärten 73 Prozent der Deutschen, sie rechneten damit, dass die Erweiterung der Europäischen Union ihre Arbeitsplätze bedrohen werde. Die Deutschen sind in besonders hohem Maße empfindlich beim Thema Migration, nicht zuletzt, weil sich ungefähr 60 Prozent der rund eine Million Osteuropäer, die vor dem Beitritt in die EU einwanderten, in Deutschland niedergelassen haben – zu einer Zeit, als die Arbeitslosigkeit in Deutschland beständig anstieg. Das zweite besonders beliebte Ziel war Österreich, das etwa weitere fünf bis zehn Prozent der Osteuropäer aufnahm, die vor 2004 in die EU kamen. Das ist der Grund, weshalb Deutschland und Österreich die Kampagne anführten, als es darum ging, lange „Übergangsperioden“ bis zur völligen Bewegungsfreiheit für Erwerbstätige aus den mittel- und osteuropäischen vorzuschreiben. Nur drei Länder der Union – Irland, Schweden und Großbritannien – beseitigten schon im Mai 2004 alle Hindernisse für osteuropäische Arbeitskräfte. In den anderen zwölf alten Mitgliedsländern benötigen Polen, Ungarn und andere Osteuropäer mindestens noch bis Mai 2006 (und vermutlich weiter bis 2011) eine Arbeitserlaubnis.

Die Flut der polnischen Klempner bleibt sehr überschaubar

Selbst in den Ländern, in denen alle Beschränkungen aufgegeben wurden, ist die Zahl der Arbeitskräfte aus dem östlichen Europa gering geblieben. In Schweden beantragten zwischen Mai und Dezember 2004 nur 22.000 Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten eine Aufenthaltsgenehmigung – ein Anstieg der Beschäftigtenzahl um lediglich 0,07 Prozent. Irland registrierte in den zwölf Monaten nach der Erweiterung einen Anstieg um 85.000 Menschen – den relativ zur Zahl der einheimischen Erwerbstätigen größten Zuwachs in Europa. Und Irland wirbt weiterhin aktiv Osteuropäer an, um Kompetenzdefizite wettzumachen.4 Die Behörden in Großbritannien berichteten im November 2005, dass sich seit Mai 2004 rund 290.000 Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten im Land erwerbstätig gemeldet hätten. Da 40 Prozent von ihnen schon vor der EU-Erweiterung im Land gewesen waren, dürfte der Strom der Einwanderer ungefähr 10.000 Menschen im Monat betragen haben – in einem Land von 60 Millionen Einwohnern wohl kaum eine unkontrollierbare Flut.

Das Ende aller Beschränkungen hat Großbritannien, Irland und Schweden zu beliebten Zielen gemacht. Trotzdem bevorzugen viele Osteuropäer immer noch den Zuzug in die weitaus größeren schon in Deutschland und Österreich ansässigen Einwanderergruppen. Das polnische Außenministerium berichtet, dass im Jahr 2004 nach der EU-Erweiterung ungefähr 30 Prozent der auswandernden Polen nach Großbritannien und Irland emigrierten; ungefähr denselben Anteil zog es nach Deutschland, obgleich dort weiterhin Beschränkungen galten.5 Viele der Menschen, die nach Deutschland gehen, arbeiten dort auf dem heftig florierenden Schwarzmarkt. Andere haben im Einklang mit den EU-Regelungen zur Niederlassungsfreiheit Kleinunternehmen gegründet, für die – anders als für Arbeitnehmer – keine Übergangsfristen gelten.

Eine Anzahl von Osteuropäern arbeitet in der alten Union auf der Grundlage von Zeitverträgen, ausgeliehen von Dienstleistungsunternehmen in ihrem Heimatland (gemäß der Entsenderichtlinie der EU). Die Zahl der Osteuropäer mit solchen Verträgen ist klein, aber sie haben ein unverhältnismäßiges Maß an politischem Aufruhr in Frankreich, Deutschland, Schweden und anderswo verursacht. Die angebliche Konkurrenz durch billige polnische Klempner war der Treibsatz der Auflehnung gegen die EU, die Frankreich vor dem Referendum über den Verfassungsvertrag erlebte.6 Im Dezember 2004 wurden in Schweden 14 lettische Bauarbeiter zur Aufgabe ihrer Arbeit gezwungen, die sie nach Ansicht einer einheimischen Gewerkschaft zu „unfairen“, weil zu niedrigen Löhnen leisteten. In ähnlichem Sinne bestraften die dänischen Behörden im März 2005 eine polnische Baufirma (die einem Dänen gehörte), weil sie die dänischen Löhne unterboten habe. Und in Deutschland regte man sich im Herbst 2004 auf, als 25.000 Schlachthausarbeiter ihre Jobs an polnische oder tschechische Einwanderer verloren, die bereit waren, für fünf Euro pro Stunde oder weniger zu arbeiten.

Ängste vor dem mythischen „polnischen Klempner“ haben auch den Widerstand gegen den Vorschlag der Europäischen Kommission zur weiteren Öffnung der europäischen Dienstleistungsmärkte angeheizt. Die EU-Dienstleistungsrichtlinie der Kommission würde es polnischen Architekten oder slowenischen Unternehmensberatern leichter machen, überall in der Union zu arbeiten, weil alle Mitgliedsstaaten die in den jeweiligen Heimatländern erworbenen Qualifikationen akzeptieren müssten. Aber sie würde es Osteuropäern nicht erlauben, grundsätzlich westeuropäische Löhne zu unterbieten. Nationale Mindestlöhne und Tariflöhne würden weiterhin für alle Arbeiter gelten, unabhängig von ihrer Herkunft. Der Grund, weshalb die deutschen Schlachthausarbeiter ihre Arbeitsplätze an billigere Konkurrenten verloren, war die Tatsache, dass Deutschland – anders als Großbritannien – keinen nationalen Mindestlohn besitzt und zugleich kein Tarifvertrag für Schlachthäuser existierte.7

Der Osten altert noch schneller als der Westen

Dennoch sehen die meisten Arbeitnehmer in den alten Ländern der Europäischen Union keineswegs freudig dem Tag entgegen, an dem die Beschränkungen für die freie Bewegung von Arbeitskräften aufgehoben werden. Migrationsströme lassen sich notorisch schwer vorhersagen, aber viele Forscher meinen, dass jährlich zwischen 100.000 und 400.000 Osteuropäer westwärts ziehen werden, sobald sie das Recht erhalten, sich innerhalb der alten EU um Arbeitsplätze zu bewerben. Angenommen wird, dass sich die meisten derjenigen, die es in den Westen zieht, innerhalb eines Jahrzehnts auf den Weg machen werden. Somit könnten bis 2020 etwa zwei bis drei Millionen Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten in der alten EU leben. Die Zahl klingt hoch, doch sie macht nur 0,5 bis 0,8 Prozent der gegenwärtigen Bevölkerung der Europäischen Union aus.8

Auf mittlere bis lange Sicht werden die neuen Mitgliedsstaaten keine Quelle von Arbeitsmigration in großem Umfang sein. In den meisten Ländern Mittel- und Osteuropas sind die demografischen Trends noch besorgniserregender als in Westeuropa. Während die Lebenserwartung steigt, sind die Geburtenraten extrem niedrig, so dass die Gesellschaften im Osten noch schneller altern als die in der alten EU. Die Vereinten Nationen sagen voraus, dass die Bevölkerung von Lettland und Litauen bis 2050 jeweils um ein Drittel schrumpfen, die Zahl der Ungarn und Tschechen immerhin noch um ein Fünftel zurückgehen wird. Die neuen Mitgliedsländer werden also selbst größere Zahlen von Einwanderern aufnehmen müssen, um ihr Wirtschaftswachstum zu stützen und ihre Rentensysteme zu flicken. Aber viele dieser Gesellschaften sind es nicht gewöhnt, mit großen Zahlen von ausländischen Arbeitern umzugehen. Ungarn ist heute Gastgeber von nur 50.000 bis 80.000 ausländischen Arbeitern, zumeist aus dem benachbarten Rumänien. Aber um den Rückgang seiner einheimischen Erwerbsbevölkerung auszugleichen, wird das Land womöglich schon innerhalb der nächsten fünf Jahre bis zu zwei Millionen Einwanderer benötigen.

Die Ängste in der alten EU im Kontext der Erweiterung gehen weit über deren Auswirkungen auf Schlachthäuser und Baustellen hinaus. Die Westeuropäer wissen: Sie können die billigen Osteuropäer von ihren Arbeitsmärkten fernhalten – aber sie können ihre Unternehmen nicht davon abhalten, dorthin zu gehen, wo Arbeit billiger ist. In Deutschland haben Unternehmensführer angesichts der Niedrigkostenkonkurrenz aus dem Osten erfolgreich Lohnzurückhaltung verlangt. Zahllose Unternehmen, von DaimlerChrysler bis Siemens, haben damit gedroht, mehr Produktionsstätten nach Osten zu verschieben, es sei denn, ihre Mitarbeiter erklärten sich bereit, für dasselbe Geld wie bisher (oder weniger) länger zu arbeiten. Die Reallöhne in Deutschland stagnieren seit Jahren, und die Lohnstückkosten sind inzwischen wieder da, wo sie Mitte der neunziger Jahre waren. Das Gürtelengerschnallen der Deutschen wiederum hat den Druck auf deren große westeuropäische Handelspartner erhöht. Italien, Frankreich und andere haben schwer damit zu tun, ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland wieder herzustellen. Im Ergebnis sind die Lohnstückkosten in der gesamten Eurozone seit 2001 durchschnittlich um 0,5 Prozent pro Jahr gefallen.

Die Empörung des Unverstands

Darüber hinaus hat sich die Erweiterung der EU zu einer Zeit ereignet, da viele westeuropäische Länder mitten in schmerzhaften strukturellen Reformen steckten (und stecken). Es geht um die Lockerung von arbeitsrechtlichem Insiderschutz und die Reduzierung von Ansprüchen auf Sozialleistungen. Es ist unmöglich zu sagen, in welchem Maße Lohnzurückhaltung und Arbeitsmarktreformen eine direkte Folge der Osterweiterung gewesen sind. Es scheint, dass die Verfügbarkeit von Millionen billiger Arbeitskräfte vor der eigenen Tür die westeuropäische Arbeitgeberseite gegenüber ihren Mitarbeitern gestärkt hat. Aber es kann, wie bereits betont, andererseits auch so sein, dass die Verlagerung bestimmter Produktionsprozesse oder Backroom-Dienstleistungen angesichts des gesteigerten globalen Wettbewerbs Arbeitsplätze im Westen gesichert hat. Selbst wenn Osteuropa morgen vom Gesicht der Erde verschwinden würde, würden sich soziale und demografische Trends wie die Alterung der Gesellschaften und die Erosion traditioneller Familienstrukturen fortsetzen. Die europäische Integration, der Gemeinsame Markt und die Währungsunion wären immer noch da. Und bei der globalen Konkurrenz aus China, Indien, Amerika und anderen Staaten bliebe es ebenfalls. Alle diese Kräfte würden die alten Staaten der Europäischen Union auch weiterhin zwingen, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Viele Menschen in diesen Ländern begreifen jedoch weder die Globalisierung noch den Wandel ihrer eigenen Gesellschaften. Wenn sie befürchten, ihre Arbeitsplätze zu verlieren, zeigen sie sehr schnell mit dem Finger auf die Osteuropäer. Die überhitzte Debatte der Franzosen über das Phänomen der so genannten délocalisation richtet sich im Wesentlichen gegen die neuen Mitgliedsstaaten der EU – und gegen jene Länder, die wie Bulgarien, Rumänien und die Türkei immer noch Schlange stehen, um der Union beizutreten. Manche Deutschen fürchten, dass die Osterweiterung ihr Land in eine „Basarökonomie“ verwandelt, in der nur noch eine begrenzte Zahl von Fertigprodukten zusammengeschraubt wird, während die meiste Arbeit durch Outsourcing längst über die östliche Landesgrenze verschwunden ist.

Solche Ängste gehen Hand in Hand mit der Idee, die neuen Mitglieder setzten „unfaire“ Mittel ein, um Unternehmen nach Osten zu locken – nämlich ihr geringes Niveau sozialer Sicherheit, niedrige Steuern und fehlende Arbeitnehmerrechte. Kurz, viele Menschen in Westeuropa stellen sich die Osteuropäer als ruchlose „angelsächsische“ Kapitalisten vor, deren Aufnahme in die EU das wertvolle „Europäische Sozialmodell“ untergrabe.

Die wirkliche Situation in den neuen Mitgliedsstaaten ist natürlich weit komplexer. Die neuen Mitglieder besitzen vergleichsweise flexible Arbeitsmärkte, eine Eigenschaft, die sie mit Großbritannien, Irland und in gewissem Maße den nordischen Ländern teilen. Aber anders als diese Länder leiden große Teile von Osteuropa an sehr hohen Arbeitslosenquoten, die hier sogar noch höher sind als in Deutschland, Frankreich oder Italien. Die neuen Mitglieder ähneln den großen Ländern der Eurozone auch darin, dass sie wie diese großzügige Sozialsysteme aufweisen, die durch Beiträge finanziert werden – also durch Steuern auf Erwerbsarbeit.

Steuerdumping?

Die meisten mittel- und osteuropäischen Staaten haben ihre Unternehmenssteuern in Vorbereitung auf den EU-Beitritt gesenkt. Auf diese Weise sollte die Abschaffung diskriminierender Steuersubventionen kompensiert werden, die durch die Förderrichtlinien der Union erzwungen wurde. Viele Länder führten außerdem „flache“ Einkommensteuersätze für Privatpersonen ein. Die Slowakei ging mit ihren Steuerreformen am weitesten, indem sie die Steuern auf Gewinne, Einkommen, Kapital und Umsatz auf den niedrigen Satz von 19 Prozent senkte. Der Trend zur Steuersenkung hat sich in ganz Mittel- und Osteuropa ausgebreitet und scheint nun auch die alte EU zu erreichen – was die Angst schürt, es könnte zu einem race to the bottom der Steuersätze kommen. Österreich hat seine Unternehmenssteuern im Januar 2005 von 34 auf 25 Prozent gesenkt. Drei Monate später kündigte die deutsche Bundesregierung an, den Steuersatz für einbehaltene Gewinne von 25 auf 19 Prozent zu senken.

Es ist nicht klar, ob solche Reformen eine direkte Folge der EU-Erweiterung sind oder Teil eines größeren internationalen Trends hin zu niedrigeren direkten Steuern (auf Einkommen und Gewinne) und höheren indirekten Steuern (Mehrwertsteuer und Vermögen). Aber es ist wichtig, mit dem Mythos aufzuräumen, das östliche Europa sei ein Niedriglohnparadies, das zulasten der Hochsteuerländer in der westlichen Nachbarschaft erblühe. Aufs Ganze gesehen ist das Niveau der Steuern in den neuen Mitgliedsländern niedriger als in den EU-15 – aber nicht viel. Im Jahr 2003 erhoben die zehn Beitrittsländer Steuern in Höhe von 36 Prozent ihres Bruttosozialproduktes, in den Staaten der EU-15 waren es 40 Prozent. Zwischen den Neulingen bestehen große Unterschiede. Das Steuerniveau in Litauen ist mit 29 Prozent niedriger als das in Irland, während Ungarn und Slowenien mit etwa 40 Prozent genauso hohe Steuern aufweisen wie Deutschland.9

Es stimmt, dass die formalen Unternehmenssteuersätze in den neuen Mitgliedsländern viel niedriger sind als in der EU insgesamt. Sie liegen typischerweise bei 15 bis 20 Prozent, verglichen mit 34 bis 38 Prozent in Deutschland, Italien und Frankreich. Aber das heißt nicht automatisch, dass die osteuropäischen Regierungen davor zurückschrecken, die einheimischen Unternehmen zu besteuern. Steuereinnahmen setzen sich aus zwei Bestandteilen zusammen: aus dem Steuersatz und aus der Bemessungsgrundlage (auf die Steuern erhoben werden). Die westeuropäischen Steuersysteme stecken üblicherweise voller Ausnahmetatbestände, viele weisen auch großzügige Abschreibungsregelungen auf, um bestimmte Investitionen anzuregen. Die „effektiven“ Steuern auf Unternehmensgewinne sind deshalb oft viel niedriger als der formale Steuersatz. Die Schätzungen über die effektiven Steuersätze gehen weit auseinander. Nach manchen Berechnungen liegt die effektive Besteuerung der Unternehmen in Deutschland nur bei der Hälfte des formalen Satzes von 38 Prozent. Einige der größten Unternehmen des Landes kommen in den Genuss so vieler Ausnahmen, dass sich ihr effektiver Steuersatz auf Null beläuft.10 Andere Schätzungen zeigen, dass die effektiven Steuersätze in den osteuropäischen Mitgliedsländern mittlerweile weit niedriger sind als in der alten EU, beispielsweise etwa 18 Prozent in Polen und Ungarn – verglichen mit 35 bis 36 Prozent in Deutschland und Frankreich.11

Eine weitere (aber ähnlich problematische) Möglichkeit, die wirkliche Steuerlast zu schätzen, liegt darin, die tatsächlichen Einnahmen der Staaten aus Unternehmenssteuern zu berechnen. Nach Angaben der Europäischen Kommission nahm Deutschland 2003 Unternehmenssteuern von nur 0,8 Prozent seines Bruttosozialproduktes ein, in Frankreich waren es 2,2 Prozent. Man vergleiche das mit den Werten der vermeintlichen Niedrigsteuerländer wie Irland und Großbritannien (mit 3,8 beziehungsweise 2,7 Prozent des Bruttosozialprodukts) oder der Slowakei und Ungarn (mit 2,8 beziehungsweise 2,2 Prozent). Sogar Estland, das wieder investierte Gewinne überhaupt nicht besteuert, nahm relativ zu seinem Bruttosozialprodukt mehr Unternehmenssteuern ein als Deutschland.

Aber selbst wenn man annimmt, dass die effektiven Unternehmenssteuern in Mittel- und Osteuropa deutlich niedriger sind als jene in der alten EU, folgt daraus nicht notwendigerweise, dass die Steuerpolitik der Grund für den osteuropäischen Investitionsboom ist. Umfragen unter Investoren zeigen, dass das Steuerniveau nur ein Faktor unter anderen ist, die für die Entscheidung darüber maßgeblich sind, wo Unternehmen sich niederlassen. Andere Faktoren wie wirtschaftliche und politische Stabilität, die Qualität der Arbeitskräfte, die Höhe der Löhne und der Produktivität, die Größe des jeweiligen regionalen Marktes und dessen Nähe zu wichtigen überregionalen Märkten, sind in der Regel wichtiger.

Das osteuropäische Sozialmodell

Der Eindruck, dass Osteuropa in niedrige Steuern verliebt ist, hat sich dadurch verstärkt, dass vier der neuen EU-Mitglieder „flache“ Einkommenssteuersätze eingeführt haben.12 Estland hat diesen Trend 1994 angefangen, andere baltische Länder sowie die Slowakei sind seither gefolgt. Inzwischen werden einheitliche Steuersätze auch von Oppositionsparteien in Ungarn, Polen und Tschechien sowie von einigen Politikern und Wirtschaftsexperten in der alten EU gefordert.13 Es gibt Gründe, warum die flat tax für Osteuropa eine gute Idee war: vor allem die Schwäche der jeweiligen Steuerbehörden und das Ausmaß der Steuerhinterziehung. Und es gibt ebenso gute Gründe dafür, dass die westeuropäischen Staaten ihre ausgeklügelten und progressiven Steuersysteme womöglich doch lieber behalten werden; dazu zählen Argumente der sozialen Gerechtigkeit (höhere Steuersätze für Besserverdiener) oder das Ziel, mithilfe des Steuersystems bestimmte politische Ziele zu erreichen (etwa die Förderung von Rücklagen für das Alter oder Hauseigentum). Die großen Länder der EU werden dem Trend zum einheitlichen Steuersatz also schwerlich folgen. Dennoch dürften einige von ihnen diese Richtung zumindest teilweise einschlagen, indem sie ihre Steuersysteme vereinfachen und die Spitzensteuersätze senken.

Aufgrund ihrer niedrigen Steuern auf Einkommen und der verbreiteten Steuerhinterziehung verzeichnen die osteuropäischen Länder viel weniger Steuereinnahmen von Privatpersonen als die westeuropäischen: fünf Prozent des Bruttosozialprodukts im Osten im Vergleich zu zehn Prozent im Westen. Stattdessen nutzen die Regierungen der neuen Mitgliedsländer andere Methoden der Besteuerung des Erwerbseinkommens, nämlich Sozialversicherungsbeiträge. Daher sind diese Beiträge in den neuen Mitgliedsländern üblicherweise deutlich höher als in den meisten alten EU-Staaten. In Polen, Ungarn und der Slowakei zum Beispiel erhöhen die Versicherungsbeiträge die Arbeitskosten um fast 40 Prozent – mehr als in Deutschland oder Italien und doppelt so viel wie in Großbritannien. Nach Angaben der Europäischen Kommission nahmen die zehn neuen EU-Länder im Jahr 2003 durchschnittlich 13,3 Prozent ihres Bruttosozialprodukts in Form von Sozialversicherungsbeiträgen für Gesundheit, Rente und Daseinsvorsorge ein – fast genau der gleiche Anteil wie in den Ländern der alten EU-15.

Tatsächlich sind die mittel- und osteuropäischen Staaten keineswegs „ultraliberal“ oder sozial minimalistisch. Vielmehr wenden sie, gemessen an ihrem niedrigen Stand der Einkommen und der wirtschaftlichen Entwicklung sogar zu viel Geld für die soziale Sicherung auf. In Ungarn ist diese oder jene Art von Sozialtransfer für ein Viertel der Bevölkerung die hauptsächliche Einnahmequelle. Jeder fünfte Pole im erwerbsfähigen Alter erhält staatliche Sozialleistungen, und nur zwei Prozent aller Leistungen orientieren sich am Bedarf der Empfänger. Deshalb arbeiten die neuen Mitgliedsstaaten hart daran, günstigere und gezielter wirksame Sozialsysteme zu entwickeln. Wie im Westen sind solche Veränderungen politisch umstritten und bringen zunächst oft hohe Anfangskosten mit sich. Diese sind schwierig aufzubringen, weil die neuen Mitglieder der Eurozone beitreten wollen und deshalb ihre Haushaltsdefizite senken müssen.14 Gleichzeitig suchen sie nach Wegen, Millionen von Erwerbslosen wieder in Arbeit zu bringen.

Die Wahrheit über die osteuropäischen Arbeitsmärkte

Die meisten Menschen in Westeuropa haben nicht die geringste Vorstellung davon, wie riesig die Arbeitsmarktprobleme sind, mit denen sich die neuen EU-Mitglieder herumschlagen müssen. Vielleicht stünden sie den verzweifelten Versuchen der Osteuropäer, ihr Wachstum zu steigern und Investitionen anzulocken, weniger kritisch gegenüber, wenn sie mehr über diese Schwierigkeiten wüssten. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote in den neuen Mitgliedsländern liegt bei 15 Prozent, verglichen mit 8,5 Prozent in den Staaten der alten EU-15. Der osteuropäische Durchschnitt wird von Polen heraufgezogen, wo die Erwerbslosigkeit 18 Prozent beträgt. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist im Osten ebenfalls weit höher als in der alten EU. In Ländern wie Polen oder der Slowakei scheinen zehn Prozent der Erwerbsfähigen völlig unvermittelbar zu sein. Vielleicht noch beunruhigender ist der hohe Stand der Jugendarbeitslosigkeit: Fast ein Drittel der 15- bis 24-Jährigen in Mittel- und Osteuropa ist ohne Arbeit, wiederum doppelt so viele wie in den Ländern der EU-15. Das bedeutet, dass Millionen von jungen Menschen in Osteuropa weder in Ausbildung sind noch Qualifikationen bei der Arbeit erwerben. Für ihre Zukunft eröffnet das alles andere als gute Perspektiven.

Die Arbeitslosenraten in Mittel- und Osteuropa lägen sogar noch höher, wenn nicht Millionen von Menschen im Laufe der neunziger Jahre ganz und gar aus der Erwerbsbevölkerung herausgefallen wären. Als Folge liegen die Erwerbsquoten in den neuen Mitgliedsländern heute üblicherweise niedriger als in der alten EU – und weit unterhalb des von der EU bis 2010 angestrebten Ziels von 70 Prozent. Gegenwärtig erreichen überhaupt nur Tschechien und Slowenien den Durchschnitt der EU-15 von 64 Prozent. In Polen hat nur ungefähr die Hälfte der Menschen im erwerbsfähigen Alter einen regulären Arbeitsplatz. Zumindest hat sich der Abwärtstrend mittlerweile umgekehrt; die meisten neuen Mitgliedsländer vermelden stabile oder steigende Erwerbsquoten. Neue Arbeitsplätze schaffen dabei vor allem ausländische Investoren und Kleinunternehmen. Beide siedeln sich typischerweise in Clustern um die schnell wachsenden urbanen Zentren im Westen der neuen Mitgliedsländer an. Dagegen liegt die Arbeitslosigkeit in den ländlichen Regionen und den alten industriellen Kerngebieten beharrlich bei 30 Prozent und darüber. Unbewegliche Immobilienmärkte und unzureichende Verkehrssysteme erschweren es den Arbeitsuchenden, dorthin zu ziehen, wo die Erwerbsmöglichkeiten günstiger sind. Und ausländische Investoren zieht es höchst selten in die östlichen Teile der neuen Mitgliedsländer, wo Infrastruktur und Bildungsniveau häufig dürftig sind.

Wo es wirklich um China geht

Insgesamt jedoch können die neuen Mitgliedsländer auf ihre sehr soliden Bildungssysteme verweisen. Hinsichtlich mancher Indikatoren, etwa dem Sekundarschulbesuch oder der Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss, stehen die Mittel- und Osteuropäer besser da als die alten EU-Mitglieder. Osteuropäer weisen typischerweise auch gute Werte im Hinblick auf grundlegende Bildungskriterien wie die Rechen- und Lesefähigkeit auf. Der schulische Schwerpunkt in Osteuropa liegt eindeutig auf technisch-naturwissenschaftlichen Fächern, was angesichts der gegenwärtigen Spezialisierung der Region auf die Produktion von Autos, Elektronik und einfachen Industriegütern plausibel erscheint. Gerade auf diesen Gebieten jedoch geraten die neuen EU-Mitgliedsländer derzeit zunehmend unter Druck aus China und anderen Niedrigkostenländern. Als Region der arbeitsintensiven Industrieproduktion zu niedrigen Kosten hat das östliche Europa daher keine Zukunft.

Die Löhne im Osten wirken im Vergleich zu denen in der alten EU sehr niedrig. Im Jahr 2003 (dem jüngsten Zeitpunkt, für den Vergleichszahlen verfügbar sind) lagen die Kosten pro Arbeitsstunde bezogen auf den Durchschnitt der EU-15 zwischen 12 Prozent in Lettland und 53 Prozent in Slowenien. Aber in Ländern wie China und Indien werden noch viel niedrigere Löhne gezahlt. Wenn die neuen Mitgliedsländer die alten einholen wollen, dann müssen sie sich also zügig in die Richtung hochwertiger Industrieproduktion und Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung bewegen. Soll dies gelingen, brauchen sie sehr hohe Investitionsraten, schnellen technischen Fortschritt und die rasche Steigerung von Qualifikationen.

Die Besorgnis der Westeuropäer über die Erweiterung der Europäischen Union – von der Migration bis hin zum Niedrigkostenwettbewerb – bezieht sich zumeist auf die große Einkommenslücke, die weiterhin zwischen den alten und den neuen Mitgliedern besteht. Grundsätzlich sollten die alten Mitgliedsstaaten daher den Wunsch der neu Hinzugekommenen unterstützen, zum Einkommensniveau der EU-15 aufzuschließen. Bis jetzt ist die Aufholjagd trotz rapider Produktivitätszuwächse nicht so recht in Gang gekommen, weil zu viele Menschen zwischen Estland und Slowenien nicht produktiv beschäftigt sind. Um die Angleichung der Einkommen zu beschleunigen, müssen die Osteuropäer ihre Arbeitsmärkte in Ordnung bringen. Welchen Beitrag die Europäische Union dazu leisten müsste, liegt auf der Hand: Die EU sollte ihre Steuersätze sowie ihre Standards sozialer Sicherheit überall in der Union harmonisieren. Deutsche und französische Politiker rufen nach Mindestsätzen der Unternehmensbesteuerung in der EU, um so die „unfaire“ Steuerkonkurrenz aus dem Osten zu unterbinden. Und sie werfen den neuen Mitgliedern vor, durch die Unterbietung von Sozialstandards westeuropäische Arbeitsplätze zu „stehlen“. Wie dieser Essay gezeigt hat, sind diese Vorwürfe unbegründet. Die Sozialstaaten der neuen Mitglieder sind bereits reichlich ausgebaut, ganz besonders bei Berücksichtigung ihres niedrigen Einkommens- und Entwicklungsniveaus. Und die Herausforderungen, mit denen die neuen Mitglieder fertig werden müssen – von der alternden Erwerbsbevölkerung über schlecht fokussierte Sozialsysteme bis hin zu unterfinanzierten Universitäten – unterscheiden sich nicht sehr von den Problemen der westeuropäischen Staaten.

Europäisches Benchmarking und gegenseitige Leistungskontrolle, wie sie durch den „Lissabon-Prozess“ geschaffen werden sollte, kann die Reformbemühungen der Neumitglieder unterstützen. Aber damit diese Methoden auf konstruktive Weise funktionieren können, müssen westeuropäische Politiker aufhören, die Ost- und Mitteleuropäer als ultraliberal zu denunzieren. Die mittel- und osteuropäischen Länder sind nicht instinktiv liberal. Die meisten Menschen in dieser Region sind mit einer Anspruchshaltung in Bezug auf Arbeit und soziale Sicherheit aufgewachsen. Kennzeichnend für sie ist ein ausgeprägter Sinn für soziale Fairness und Gerechtigkeit. Manche Forscher glauben, die osteuropäische Vorliebe für Gleichheit sei ein „aus den sozialistischen Zeiten übrig gebliebenes Einstellungserbe“15.

Die Osteuropäer haben mehr als ein Jahrzehnt turbulenten Wandels auf sich genommen, um sich auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union vorzubereiten. Die „alte“ EU schuldet ihnen eine freundliche Aufnahme. Praktisch heißt dies, dass westeuropäische Politiker aufhören sollten, auf populistische Weise die Angst vor Billiglohnkonkurrenz aus dem Osten zu schüren. Stattdessen sollten sie ihren Wählern erklären, dass Wirtschafts- und Sozialreformen in ihren Staaten selbst dann notwendig wären, wenn es die Erweiterung der EU nicht gegeben hätte. Und sie sollten den Menschen sagen, dass die Aufnahme der zehn neuen Mitgliedsländer aufs Ganze gesehen zum Vorteil der europäischen Wirtschaft gewesen ist.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

Anmerkungen
1 Marjorie Jouen und Catherine Papant, Social Europe in the Throes of Enlargement, Notre Europe Policy Papers Nr. 15, Juli 2005.
2 Wolfgang Quaisser, Kosten und Nutzen der Osterweiterung unter besonderer Berücksichtigung verteilungspolitischer Probleme, Osteuropa-Institut Working Paper, Nr. 230, Februar 2001.
3 Michael Knogler, Auswirkungen der EU-Osterweiterung auf die Arbeitsmärkte der neuen Mitgliedsstaaten und der EU-15, insbesondere Deutschland, Osteuropa-Institut Working Paper Nr. 257, Januar 2005.
4 Julianna Traser, Who’s Afraid of EU Enlargement? Report on the Movement of Workers in EU-25, European Citizen Action Service, September 2005.
5 Katinka Barysch, Storm in a Teacup, in: Elsharp, November 2004.
6 Der Zeitschrift Newsweek vom 17.10.2005 zufolge arbeiteten in Frankreich im Jahr 2005 überhaupt nur 150 polnische Klempner, während die französische Klempnerinnung zugleich 6.000 freie Stellen meldete. Britische Regierungsstatistiken weisen aus, dass sich zwischen Mai 2004 und März 2005 genau 75 osteuropäische Klempner in Großbritannien zur Arbeit anmeldeten.
7 Milosz Matuschek, Die geplante Richtlinie ist besser als ihr Ruf, Centrum für angewandte Politikforschung, April 2005.
8 Katinka Barysch, Does Enlargement Matter for the EU Economy? CER Policy Brief, Mai 2003.
9 Europäische Kommission, Structures of the Taxation Systems in the European Union, Ausgabe 2005.
10 Katinka Barysch, Is Tax Competition Bad? CER Bulletin Nr. 37, August/September 2004.
11 Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung und Ernst & Young, Company Taxation in the New EU Member States, Juli 2004. Diese Untersuchungen unterschätzen jedoch vermutlich die effektiven Steuersätze in den neuen Mitgliedsländern. Vgl. James Owen, Tax Issues in the New EU Members, EIU Economies in Transition, Dezember 2004.
12 Einheitliche Einkommenssteuersätze haben auch Rumänien, die Ukraine, Russland, Serbien und Georgien eingeführt.
13 Zu den namhaftesten westeuropäischen Befürwortern der flat tax zählen Paul Kirchhof, Berater von Angela Merkel während des Bundestagswahlkampfes 2005; George Osborne, Schattenfinanzminister der britischen Konservativen; der niederländische Rat der „Wirtschaftsweisen“; und Griechenlands Finanzminister Georgios Alogoskoufis.
14 Im Jahr 2005 wiesen Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei allesamt Haushaltsdefizite von mehr als drei Prozent ihres Bruttosozialprodukts auf.
15 Marc Suhrke, Preference for Equality: East vs West, HWWA Discussion Paper Nr. 150, 2001 sowie Jan Delhey, Inequality and Attitudes – Post-Communism, Western Capitalism and Beyond, Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin, 1999.

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