Der Mythos lebt

Höchste Zeit, dass Sozialdemokraten Bayern besser verstehen - ein neues Buch kann ihnen dabei helfen

Mehr als 40 Jahre dauert in Bayern schon die Ewigkeit. So lange jedenfalls regiert im Freistaat allein die CSU. Bayern, das ist das Land, in dem Milch und Honig fließen, das lebendige Klischee aus Uschi Glas und Edmund Stoiber, aus "Kini", Trachten, Gamsbartträgern, schlitzohrig-bierseligen CSU-Abgeordneten und frommen Katholiken. Bayern, das ist der Mythos einer heilen Welt, einer im Norden der Republik vielfach beneideten wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte selbstbewusster "Bergbewohner". Oder, wie es ein Reisender in seiner Bairischen Chronik bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts festhielt: Das Volk am Rande der Alpen "trinkt ser, macht vil kinder; ist etwas unfreundlicher" und "sitzt tag und nacht bei dem wein, schreit singt tanzt kart spilt".


Was aber steckt hinter dem "Mythos Bayern", hinter den langlebigen Projektionen? Was ist Teil geschickter Selbstinszenierung, was Teil bayerisch-anarchischer Volkskultur? Journalisten der Süddeutschen Zeitung, darunter bekannte und feinsinnige Autoren wie der vor kurzem verstorbene Herbert Riehl-Heyse oder Hermann Unterstöger, haben die entlegenen Winkel des Freistaates erkundet und versucht, dem "Mythos" auf die Spur zu kommen. Entstanden sind dabei ebenso originelle wie unterhaltsame Momentaufnahmen aus dem Süden der Berliner Republik, der so viel mehr zu bieten hat als das wohlfeile Gemisch aus Laptop und Lederhosen.


"Wir sind", so glaubt Herbert Riehl-Heyse, selbst am Fuße der Wallfahrtskirche von Altötting zur Welt gekommen, "konservativ und anarchisch, fromm und antiklerikal, sind lauthals fröhlich und im nächsten Moment wieder schwer melancholisch. Auch weltoffen können wir sein, zum Beispiel wenn wir den Brasilianern beim FC Bayern zujubeln, als hätten sie auf niederbayerischen Bolzplätzen das Fußballspielen gelernt; und doch ist es den selben Leuten möglich, schon ein paar Stunden später wieder in den Bierzelten zu sitzen und den Politikern zu applaudieren, die sagen, jetzt müsse aber Schluss sein mit dem ewigen Zuzug von Ausländern."


Ein Land voller Widersprüche also, das allenfalls aus der Berliner Vogelperspektive eine regionale und landsmannschaftliche Einheit bildet. Freilich gibt es kaum ein anderes Bundesland, das sich nach 1945 schneller und tiefgreifender verändert hat als der Freistaat. Was sich seit Kriegsende, im Übrigen maßgeblich mit angetrieben von inzwischen vergessenen Sozialdemokraten wie Wilhelm Hoegner oder Waldemar von Knoeringen, vollzog, war ein atemberaubender, wenn auch vielfach von den Steuerzahlern aus dem Westen und Norden bezahlter Strukturwandel: Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen katholischen und protestantischen Gebieten, zwischen den industriellen, kleingewerblichen und agrarischen Sektoren von Wirtschaft und Gesellschaft wurden mehr und mehr eingeebnet, ohne sich allerdings völlig aufzulösen. In Bayern waren die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen für einen umfassenden Wandel vom Agrar- zum Industriestaat besonders günstig. Aufgrund des lange dominierenden Gewichts des Agrarsektors hatte im Freistaat die Industrialisierung erst relativ spät eingesetzt. Schwerindustrie gab es kaum, so dass die sich nach 1945 formierende Industriestruktur überwiegend auf neue Branchen wie die Elektro-, Chemie- oder Automobilindustrie stützen konnte. Ein nicht unbeträchtlicher Anteil dieser rasanten Entwicklung war bereits in den zwanziger Jahren eingeleitet und durch die nationalsozialistische Industriepolitik und die rüstungswirtschaftlichen Verlagerungen während des Zweiten Weltkrieges verstärkt worden. Siemens ist dafür nur eines von vielen Beispielen.

Rückständigkeit als Erfolgsbedingung

Die Standortbedingungen für den bayerischen Aufholprozesss waren deshalb eine wichtige Voraussetzung für Bayerns ökonomischen Aufstieg. Auch die zahlreichen Flüchtlinge und Vertriebenen, die sich hier nach 1945 niederließen, erwiesen sich als Vorteil. Die Entwicklung der "Wirtschaftswunderjahre" verlief in Bayern noch rascher, noch dramatischer als in anderen Bundesländern. Das galt vor allem für die Landwirtschaft, die immer weiter zu Gunsten anderer Branchen wie Industrie, Handwerk und Dienstleistung schrumpfte. Die Dynamik des Wachstums ging in den sich selbst tragenden Konjunkturaufschwung der fünfziger und sechziger Jahre über, der in Bayern - gemessen am jährlichen westdeutschen Bruttoinlandsprodukt - überdurchschnittlich verlief. Gleichzeitig musste Bayern nicht - wie etwa das Ruhrgebiet oder das Saarland - die schwere Hypothek zunehmend krisenanfälliger Industriezweige tragen. Die Bergbau- und Energiekrise der sechziger Jahre traf Bayern zwar auch, doch im Gegensatz zum Ruhrgebiet waren die sozialen Kosten erheblich geringer. Otto Schedl, der CSU-Wirtschaftsminister, konnte sich deshalb ohne langes Zögern zur Schließung der nur noch wenig rentablen oberbayerischen Zechen entschließen, ohne befürchten zu müssen, von einem Proteststurm hinweg gefegt zu werden. Diese Strukturvorteile einer "nachgeholten Modernisierung" führten dazu, dass Bayern Ende der siebziger Jahre zu NRW aufschließen und das Ruhrgebiet in den achtziger Jahren sogar überholen konnte. Das ist sozusagen der sozio-ökonomische Kern des bayerischen Mythos.


Die großen Verlierer dieser Entwicklung waren - und sind heute mehr denn je - die bayerischen Sozialdemokraten. Während sie in den späten fünfziger und sechziger Jahren noch eine Partei der großen Städte mit einem wachsenden Stimmenanteil vor allem auch bei der katholischen Bevölkerung waren, gelingt es der Partei, ganz zu schweigen von ihrer traditionellen Diaspora-Situation auf dem Land, inzwischen auch in den Metropolen nicht mehr, ihre Hochburgen zu halten. Doch Bayern und die SPD - das scheint für die SZ-Crew ohnehin kaum zusammenzupassen. Nicht einmal mit dem sonst so üblichen Hohn und Spott werden die geplagten Genossen übergossen. Bayerns Sozialdemokraten finden stattdessen in den Erzählungen über den "Mythos Bayern", in den auch für Nicht-Bayern amüsanten und lesenswerten Geschichten über kautzige Volksmusikanten und urtümliche Bauerntheater, amerikanische Lederhosenträger, bayerische Kultserien und benediktinisches Klosterleben nicht einmal mehr am Rande Beachtung - ganz im Gegenteil zur CSU, der zwar ebenfalls keine eigene Geschichte gewidmet ist, die aber gleichsam als Synonym für einen Kern des "Mythos" über den Dingen und Zeiten schwebt.

Wie der Mythos beim Weißbier entstand

Ein wenig gerät so in dem ebenso reich bebilderten wie schön gestalteten Buch aus dem Blick, was der CSU-Experte und Sozialwissenschaftler Alf Mintzel bereits vor einigen Jahren über den Mythos Bayern festgestellt hat: "Das heutige Erscheinungsbild Bayerns als CSU-beherrschte Einheit und moderner Industriestaat ist jüngeren Datums und Ergebnis eines sozialstrukturellen Wandlungsprozesses, an dessen Ende eine politisch-kulturelle Flurbereinigung ungeheuren Ausmaßes stand." Oder anders gesagt: erst die CSU hat den Freistaat zum positiv besetzten, mehr bestaunten als belächelten Mythos gemacht, an dessen Spitze der legendäre Franz-Josef Strauß stand. Und so wundert es nicht, dass dessen Zögling, Bayerns Ministerpräsident Stoiber, seine Rede zum Wahlkampfauftakt 2003 ganz unter das Motto "Mythos Bayern" stellte; fast so, als hätten seine PR-Agenten zuvor die SZ-Reportagen gelesen und anschließend, bei einem Glas Weißbier, sich einen Spaß daraus gemacht, den aufklärerischen Anspruch der Serie in ihr Gegenteil zu verkehren. Beim CSU-Parteitag waren es dann nicht mehr die Lederhosen, die auf den Plakaten zu sehen waren, sondern junge Frauen im Freistaat-Bikini mit Rauten- und Bayernlöwen-Tattoo auf dem Oberarm. So schnell kann aus Kitsch und Wahlklimbim ein bayerischer "Mythos" werden.

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