Der große Graben

Die Präsidentschaftswahl hat gezeigt: Österreich ist zutiefst gespalten. Die autoritäre FPÖ erschüttert die Demokratie. Das Land braucht jetzt eine breite Allianz zur Verteidigung der offenen Gesellschaft

Die gute Nachricht lautet: Mit der Wahl von Alexander Van der Bellen am 22. Mai ist alles gerade noch mal gut gegangen. Die noch bessere: Die Präsidentschaftswahl in Österreich hat ungewöhnlich hohes Interesse gefunden und das Land politisiert. Plötzlich ging es bei dieser Abstimmung über ein vermeintlich unbedeutendes Amt mit überwiegend repräsentativen Aufgaben um sehr viel – weil mit Norbert Hofer erstmals ein Politiker der rechtspopulistischen FPÖ Präsident hätte werden können. Deshalb sei diese Wahl eine Richtungsentscheidung, hieß es, und ein Lagerwahlkampf wurde ausgerufen.

Entschieden haben sich die Österreicher am Ende für den offenen, fortschrittlichen, europäischen Kurs. Aber dies ist die schlechte Nachricht: Eine Richtungsentscheidung war diese Wahl eben doch nicht, denn dafür hätte sie eindeutiger ausgehen müssen. Stattdessen hatte sich bereits im Wahlkampf deutlich gezeigt, wie tief gespalten die österreichische Gesellschaft ist. Weiter geöffnet hat sich die Kluft zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zwar nicht, allerdings trat sie aufgrund der Bundespräsidentenwahl noch offensichtlicher zutage.

Dabei geht es in erster Linie nicht um den knappen Wahlausgang. Dass bei einer Stichwahl zwischen zwei Kandidaten das Ergebnis eher knapp ausfällt, ist keine Seltenheit und war auch in der Vergangenheit oft so, selbst bei über Parteigrenzen hinweg beliebten Präsidenten. Analysiert man die Wahlergebnisse aber genauer, offenbaren sich große soziodemografische und regionale Unterschiede. So konnte Van der Bellen im ersten Wahlgang nur in zwei Bundesländern punkten: zum einen im kleinen Vorarlberg ganz im Westen – traditionell ein ÖVP-dominiertes Bundesland mit starker Industrie, das durch die Grenzlage am Bodensee den Blick über den eigenen Tellerrand hinaus gewohnt ist; und zum anderen in der Hauptstadt Wien. Allgemein zeigt sich: Je urbaner eine Region, desto eher wurde dort Van der Bellen gewählt. In den ländlichen Gebieten hingegen hatte Norbert Hofer die Nase vorn.

Deutliche Unterschiede weist auch das Wahlverhalten von Frauen und Männern auf: Während sich 60 Prozent der Männer für den FPÖ-Kandidaten entschieden, waren es bei den Frauen nur 40 Prozent. Dieser geringere Zuspruch der Wählerinnen für die Rechtspopulisten ist zwar typisch, er hat sich aber in den vergangenen Jahren abgeschwächt. Klarer fällt dagegen das Ergebnis bei den jungen Frauen unter 30 Jahren aus: In dieser Gruppe haben mehr als zwei Drittel Van der Bellen gewählt. Umgekehrt stimmten 63 Prozent der Männer zwischen 30 und 59 Jahren für Hofer.

Noch gravierender ist die Differenz bei den Bildungsabschlüssen: Drei Viertel der Menschen mit akademischem Abschluss oder Abitur wählten den Kandidaten der Grünen, während 86 Prozent der Arbeiter für Hofer stimmten. Zugespitzt: Der mittelalte Arbeiter auf dem Land wählte mit überragender Wahrscheinlichkeit Hofer, die junge, erwerbstätige Akademikerin in der Stadt hingegen Van der Bellen.

Zivilisierter Streit ist nicht unsere größte Stärke

Die Trennlinien in der Gesellschaft verlaufen also zwischen Stadt und Land, zwischen Menschen mit guten Jobs, guter Ausbildung und Zukunftsperspektive und jenen, die keinen oder vergleichsweise schlechte Jobs haben und deren Perspektiven in den ländlichen Regionen eher überschaubar sind. Klar, diese­ Gruppen haben sich schon immer unterschieden. Neu ist nun aber die beinahe unüberbrückbare Kluft und politische Sprachlosigkeit zwischen ihnen. Man hat sich nicht mehr viel zu sagen und ist für sachliche Diskussionen mit dem Gegenüber nicht mehr zugänglich.

Diese Gräben müssten nun schnell zugeschüttet werden, heißt es im Nachgang der Wahl vielerorts. Dabei stellt sich die Frage, ob wir in den vergangenen Jahren nicht schon zu viel „zugeschüttet“ haben. Uns zu wenig mit den Unterschieden in der Bevölkerung auseinander gesetzt haben. Zu oft weggeschaut haben, wenn „Protestwähler“ an der Wahlurne ihrem Unmut über das politische System und die eigenen Zukunftsperspektiven Luft gemacht haben.

Österreich war bislang ein Land, das seine Unzufriedenheit am Wahltag und am Stammtisch zum Ausdruck brachte. Im Reden, Jammern und Beschweren sind wir einfach besser als im Steinewerfen. Das ist gut so. Jedoch ist es in den vergangenen Jahren nicht gelungen, diese Unzufriedenheit aufzufangen und ihr offensiv zu begegnen. Vielleicht auch, weil man mehr mit Aufforderungen à la „Nicht streiten!“ beschäftigt war als mit der offenen politischen Auseinandersetzung. Generell ist die Kultur der zivilisierten Auseinandersetzung in Österreich wenig ausgeprägt, an den Stammtischen ebenso wie in den Redaktionen und politischen Gesprächsrunden. Einer der großen Gründungsmythen der zweiten Österreichischen Republik ist, dass sich die demokratischen Kräfte nach dem Zweiten Weltkrieg darauf verständigten, es nie wieder so eskalieren zu lassen und trotz inhaltlicher Differenzen zwischen Sozialdemokratie und Bürgerlichen auf Kooperation zu setzen. Dieser Gründungsmythos ermöglichte nicht zuletzt die Sozialpartnerschaft, führte zu lang andauernden großen Koalitionen und einer Aufteilung des Landes in „Reichshälften“, die bis heute die Wirtschaft, Verbände und Vereine durchzieht. Das hat eine ungewöhnlich hohe Stabilität gebracht und trägt dazu bei, dass Österreich wirtschaftliche Krisen häufig besser abfangen kann als andere Länder. Es hat aber auch eine Proporzkultur wachsen lassen, die heute von verschiedenen Seiten kritisiert wird, weil sie zur Erstarrung und Verkrustung des politischen Systems geführt habe.

Diese Kritik mag an der einen oder anderen Stelle zutreffen. Ein Zustand, in dem es über Jahrzehnte hinweg kaum politischen Wechsel gibt, ist in der Tat demokratiepolitisch fragwürdig. Aber die Kultur des Kompromisses hat auch eine besondere Einstellung zwischen den politischen Kontrahenten befördert: Egal wie hart eine Auseinandersetzung in der Sache auch sein mag, sie wurde doch immer so geführt, dass man dem Gegner am nächsten Tag noch in die Augen schauen konnte. Die Akteure der Sozialpartnerschaft leben eine Kultur, in der die andere Seite nie bis zum Anschlag gereizt oder nachhaltig gedemütigt werden darf. Denn die nächste Verhandlungsrunde kommt bestimmt und der politische Wind kann sich bis dahin wieder drehen.

Wenn der Konkurrent zum Feind wird

Hinzu kommt, dass von einer verhärteten Konfrontation der großen Kräfte im Land, also wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie die Volksparteien gegenseitig in Schach halten, nur die undemokratischen und populistischen Kräfte profitieren. So wurden die Kompromisskultur und die Sozialpartnerschaft bereits während der ersten Koalition von ÖVP und FPÖ/BZÖ in den Nuller-Jahren stark geschwächt. Dabei nahm auch das Bewusstsein Schaden, dass man den politischen Gegner zwar als Konkurrent, nicht aber als Feind betrachten und behandeln sollte. Deutlich wird diese Veränderung etwa daran, wie heute die Koalitionspartner der Bundesregierung miteinander umgehen. Besonders die ÖVP fährt harte Angriffe gegen die SPÖ. Dieser Umgang selbst zwischen Regierungspartnern hinterlässt seine Spuren auch im politischen Klima und bei den Wählern. Und die Stimmung wird noch zusätzlich durch die Medien aufgeheizt.

Zur sozialpartnerschaftlich geprägten politischen Kultur gehört(e) es ebenso, sich selbst nach harten Wahlkämpfen die Hand zu reichen, dem Sieger zu gratulieren und als Verlierer das Ergebnis zu akzeptieren – auch als wichtiges Signal an die eigenen Parteimitglieder, Unterstützer und Wähler. Nach dem Motto: Ja, es hat nicht gereicht und wir hätten für andere Inhalte gestanden, aber so ist Demokratie; schauen wir, wie wir bis zur nächsten Wahl zusammenarbeiten können.

Verlierer inszenieren sich als Betrogene

Genau das Gegenteil macht derzeit die FPÖ und vermittelt ihren Anhängern dadurch zum wiederholten Mal das Gefühl, sie würden vom System übervorteilt. Mehr noch: Aufgrund des knappen Ausgangs inszeniert man die Legende der „gestohlenen Wahl“ – und rüttelt damit an den demokratischen Institutionen. Den Wählern wird signalisiert, es habe Ungereimtheiten und Manipulation gegeben. Das Ergebnis mehrerer Bezirke wird aufgrund formaler Fehler angefochten (es geht um den Zeitpunkt der Auszählung der Briefwahlkarten), die zwar nicht hätten passieren dürfen, am Ergebnis der Wahl aber nichts ändern.

So höhlen die Populisten nach und nach das Vertrauen in die Wahlen und den Staat aus. Dieses offensive Anzweifeln demokratischer Institutionen ist höchst problematisch und darf nicht hingenommen werden. Denn unter solchen Bedingungen werden Aussöhnung, Händereichen und das „Zuschütten von Gräben“ nach einem Wahlgang unmöglich. Wer sich um den Wert der eigenen Stimme betrogen fühlt, glaubt nicht mehr an Fairplay und Handshakes.

Zurück zum Bild des Gräbenzuschüttens: Einmal mit dem Bagger eine große Ladung Erde hineinschütten klingt nach einer einfachen Lösung. Das Problem ist nur: In den gesellschaftlichen Gräben haben sich mittlerweile Menschen verschanzt, die keine Bereitschaft mehr zeigen, über den eigenen Rand hinaus zu blicken. Diesen Leuten müssen wir Strickleitern zuwerfen, um sie da rauszuholen. Gewiss, Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen gab es immer und wird es immer geben. Die Frage ist, ob und wie wir sie überbrücken können. Doch statt Brücken über die Gräben zu bauen, reißt die FPÖ mit voller Absicht neue und zementiert die alten.

Dass es der FPÖ ernst ist mit ihrem Angriff auf demokratische Institutionen, zeigt sich auch an anderer Stelle. Als Präsidentschaftskandidat hat Norbert Hofer wiederholt angedeutet, die verfassungsrechtlichen Grenzen des Amtes mehr als nur ausloten zu wollen: Die Regierung werde er entlassen, wenn sie „nicht ordentlich“ arbeite; den Nationalrat werde er bei Bedarf auflösen und Neuwahlen anordnen; anstelle von Kanzler und Außenminister werde er als Staatsoberhaupt zum Europäischen Rat nach Brüssel fahren.

Nicht zuletzt diese Ankündigungen haben vielen Österreichern erst wieder bewusst gemacht: Der Präsident darf zwar nicht alles, was manchen in ihren „Allmachtsfantasien“ vorschwebt. Aber die Verfassung gesteht dem Amt doch sehr viel mehr Kompetenzen zu, als wir es in der politischen Praxis der vergangenen Jahrzehnte gewohnt waren. An der rechtspopulistischen Ausdeutung der vielen Möglichkeiten des vermeintlich machtlosen Amtes – polnische und ungarische Verhältnisse lassen grüßen – sind wir letztlich um gerade einmal 30 000 Stimmen vorbeigeschrammt.

Immerhin: Das Interesse an Politik ist zurück

Die Befunde nach der Präsidentschaftswahl sind nicht alle schön. Aber es bieten sich trotzdem auch Chancen. Erstens: Das wieder erwachte Interesse an der Politik sollte mit wert­orientierter, inhaltlicher Politik am Leben erhalten werden. Die Wähler müssen wieder wissen können, wofür eine Partei steht, und die Parteimitglieder, wofür sie im Wahlkampf eintreten sollen. Die Politik muss es riskieren, Position zu beziehen, auch wenn das den einen oder die andere vergraulen mag. „Menschen brennen nicht für Kompromisse. Sie brennen für Grundsätze und Haltungen“, sagte der neue Bundeskanzler Christian Kern in seiner ersten Regierungserklärung.

Zweitens: Die Politik muss dringend ihren Umgang mit den Medien überdenken. Will sie wirklich weiterhin den Boulevard füttern? Und welche Konsequenzen hat das für die politische Kultur? Redaktionen und Journalisten wiederum sollten sich stärker auf ihre demokratische Funktion rückbesinnen, möglichst objektiv und faktenorientiert zu informieren.

Drittens – und vor allem – ist gerade jetzt der richtige Augenblick gekommen, um die Kooperation zwischen den progressiven und demokratischen Kräften zu stärken. Wenn wir den gesellschaftlichen Fortschritt und die demokratischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte nicht zur Disposition stellen wollen, müssen wir stärker als bisher auf Allianzen mit all jenen setzen, die für eine offene Gesellschaft einstehen. Wer das Spektrum der Progressiven kennt, weiß dass das nichts mit Kuschelkurs und Konsens zu tun hat.

Im Gegenteil: Es geht dabei durchaus um inhaltliche Auseinandersetzung, um den Austausch von Argumenten, auch um Streit – aber immer in der Sache, immer auf Augenhöhe. Es geht jetzt um nicht weniger als darum, eine rationalere, an Argumenten orientierte politische Kultur zu etablieren. Mit „politischen Selbstmordattentätern, die sich einsam in einer Telefonzelle in die Luft sprengen“ (Christian Kern), wird das allerdings nicht möglich sein.

(Hinweis: Dieser Text erschien Ende Juni 2016, bevor das österreichische Verfassungsgericht eine Wiederholung der Stichwahl ums Bundespräsidentenamt angeordnet hat.)

zurück zur Ausgabe