Der bewegte Mensch

Das Berliner Grundsatzprogramm der SPD - ein Dokument vergangenen Zeitgeistes

Kann ein Parteiprogramm Pech haben? Wenn ja, dann ist das Berliner Grundsatzprogramm sicherlich der Unglücksrabe unter diesen Dokumenten. Jahrelang hatte sich die ganze Parteiorganisation in beispielloser Weise damit beschäftigt, Vorlagen zu erarbeiten, Anträge zu formulieren und die Welt zu erklären, und als man endlich fertig war, änderte sich diese Welt innerhalb weniger Wochen von Grund auf.

Rasch wurde noch der Ort der Beschlussfassung angepasst, der Parteitag von Bremen nach Berlin verlegt. Aber damit ließ man es bewenden, die Ereignisse des Jahres 1989 fanden nicht mehr Eingang in das im Dezember 1989 beschlossene politische Selbstverständnis der deutschen Sozialdemokratie.

So wurde es zu einem Dokument aus einer anderen Zeit. Die achtziger Jahre und mit ihnen die Friedens-, Umwelt-, Frauen- und Dritte-Welt-Bewegung haben sich hier manifestiert. "Gefahr" ist ein Schlüsselbegriff. Wie jedes Grundsatzprogramm will es in die Zukunft verweisen, aber der Zeithorizont ist kurz, schließlich könnte morgen schon "the day after" sein.

Wo nicht die mögliche Apokalypse behandelt wird, blüht die Beliebigkeit:

Der Schutz von Arbeitnehmerrechten in kirchlichen Einrichtungen, die Sicherung des Umweltschutzes in der Antarktis und die Förderung des deutschen und europäischen Films - mit der Schwatzhaftigkeit und Pseudobetroffenheit von WG-Debatten gibt dieses Programm seinen Senf zu allem und jedem.

Erstaunlich lang erscheint aber aus der Rücksicht von nur 10 Jahren die Liste all der Probleme, denen das Programm wenig oder gar keine Aufmerksamkeit schenkt.

Auf dem dornigen Feld der Volkswirtschaftslehre sind die Autoren jedenfalls nicht zu Hause. Was die öffentlichen Finanzen angeht, so enthält das Programm ein trotziges Bekenntnis zum staatlichen Geldausgeben - losgelöst von der Frage, ob noch welches da ist. Das auch schon vor zehn Jahren erkennbare Zukunftsthema Generationensolidarität findet nicht statt. Und das Kapitel Arbeitsmarktpolitik folgt dem Gedanken, dass eine möglichst wortreiche Umschreibung des Phänomens Massenarbeitslosigkeit schon ein entscheidendes Instrument zu seiner Überwindung sei.

In einem kleinen Nebensatz schließlich wird die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung befürwortet, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass sich hieraus weitreichende und wohlmöglich schmerzhafte Anpassungsprozesse ergeben könnten.

Wer immer behauptet, Debatten über Grundsatzprogramme seien altmodisch und eigentlich sinnlos, der wird vom Berliner Programm insoweit widerlegt, als die Liste der Dinge über die man sich vor zehn Jahren partout keine Gedanken machen wollte, in erstaunlicher Weise identisch ist mit den Politikfeldern, auf denen die Sozialdemokratie heute etwas ratlos erscheint.

Leider hat das sang- und klanglose Verschwinden des Berliner Programms in die Bedeutungslosigkeit bei der SPD offenbar eine Art Trauma hinterlassen. Die Beschäftigung mit weiterführenden programmatischen Fragen ist seitdem jedenfalls nicht mehr sonderlich populär.

Und so lässt sich denn die Aufgeregtheit und Gereiztheit mit der nun debattiert wird - jetzt, da man durch Regierungsverantwortung dazu gezwungen ist, präzise zu sein - wohl auch damit erklären, dass inzwischen alle mehr oder weniger wichtigen Repräsentanten der Partei ihre eigene Version wahrer sozialdemokratischer Politik entwickelt haben

Verständigung tut also Not. Und selbst wenn die Parteilinke es nicht wahrhaben will, weil eine Programmdebatte, die nicht von ihr begonnen wurde, keine richtige Programmdebatte sein kann, stellt das Schröder-Blair-Papier die Themen in den Mittelpunkt, um die es heute vor allem geht: "Neue Mitte", das heißt, für wen machen wir eigentlich vor allem Politik? "Aktiver Staat", das heißt, wie sieht eine Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik aus, die tatsächlich etwas bewegt auf dem Arbeitsmarkt? Über die Antworten kann man streiten, und die Partei tut gut daran, jetzt damit zu beginnen.

zurück zur Person