Demographie, Arbeitsmarkt und die Rolle der Zuwanderung



Die kürzlich erschienene 9. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland bis zum Jahre 2050 prognostiziert eine weitere Verformung des Altersaufbaus in Deutschland verbunden mit einem stark ansteigenden Altenquotienten und einem Rückgang der Bevölkerung von heute 82 auf bis zu 65 Millionen Einwohnern im Jahr 2050. Vor diesem Hintergrund wird Zuwanderung als ein Instrument zur Relativierung der mit dieser demographischen Entwicklung verbundenen Probleme am Arbeitsmarkt und im Bereich der sozialen Sicherung gesehen.

Allerdings kann Migration die Alterung und das Schrumpfen nicht verhindern. Denn nach einer Studie der Vereinten Nationen wäre es demnach erforderlich, dass in den nächsten 50 Jahren 17 Millionen Menschen nach Deutschland einwandern müssten, um die derzeitige Wohnbevölkerung konstant zu halten. Um die Erwerbsbevölkerung, das heißt die Anzahl der 15- bis 64-jährigen, konstant zu halten, müssten 24 Millionen Menschen zuwandern. Um den Altenquotienten, das heißt das Verhältnis der über 64-jährigen zu den 15- bis 64-jährigen, konstant zu halten, wäre eine Zuwanderung von über 181 Millionen Menschen nötig.

Ziel einer wie auch immer gesteuerten oder gestalteten Zuwanderung sollte jedoch nicht eine konstante bzw. bestimmte Bevölkerungszahl oder eine bestimmte Bevölkerungsstruktur sein. Zahl und Struktur an sich können keine erstrebenswerten Größen sein. Entscheidend ist nicht das physische "Dasein" von Migranten, sondern deren Integration in Gesellschaft und Wirtschaft. Zuwanderungssteuerung, die unabhängig vom Recht auf Asyl ist, sollte immer auf eine Verbesserung der ökonomischen Wohlfahrt der gesamten Wohnbevölkerung ausgerichtet sein.

Akzeptiert man ein solches gesamtwirtschaftliches Wohlfahrtsziel, wird man Volumen und Mix der Zuwanderung an volkswirtschaftlichen Kriterien im Allgemeinen und an arbeitsmarktpolitischen Kriterien im Besonderen ausrichten - und nicht an Bevölkerungszahlen. Und erst dann können Migranten auch zur Stabilisierung des Systems sozialer Sicherung beitragen, da es in erster Linie ein erwerbsarbeitszentriertes Sozialversicherungssystem ist. Die Sozialversicherungen sind also dem Arbeitsmarkt nachgelagert.

Vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, den Aspekt des Arbeitsmarktes stärker zu beleuchten: Welche Hilfestellungen für eine arbeitsmarktorientierte Migration kann uns die ökonomische Theorie geben? Was sind die Anforderungen an zukünftige Erwerbstätige?


Erfüllen die bereits in Deutschland lebenden Ausländer diese Anforderungen? Und zum Schluss: Welchen Stellenwert könnte eine arbeitsmarktorientierte Zuwanderung in Kombination mit anderen Maßnahmen haben?

Zuwanderung und Arbeitsmarkt

Der Einfluss der Zuwanderung auf einen nationalen Arbeitsmarkt hängt zunächst vom Umfang der Zuwanderung ab. Unbegrenzte Zuwanderung führt zu einer sinkenden Beschäftigung der inländischen Arbeitnehmer bei gleichzeitigem Anstieg der Gesamtbeschäftigung und der Gesamtbevölkerung und hätte im Vergleich zur Ausgangssituation eine höhere Arbeitslosigkeit der inländischen Beschäftigten bei einem für sie niedrigeren Lohnniveau zur Folge. Neben diesen Bewegungen kommt es im makroökonomischen Kreislaufzusammenhang allerdings aufgrund der durch die Zuwanderung angestiegenen gesamtwirtschaftlichen Produktion auch zu einer vermehrten Arbeitsnachfrage. Abhängig von deren Ausmaß kann dies im neuen Arbeitsmarktgleichgewicht nun auch zu höheren Beschäftigungs- und Lohnniveaus inländischer Arbeitnehmer führen.

Erweitert man dieses einfache Modell um unterschiedliche Arbeitnehmergruppen, dann lässt sich nach dem Verhältnis von inländischen zu ausländischen Arbeitnehmern fragen. Denn die Auswirkungen letzterer auf erstere hängen insbesondere davon ab, ob die Beziehung zwischen beiden komplementärer oder substitutiver Natur ist. Der Komplementaritätsthese zufolge besetzen ausländische Arbeitnehmer Arbeitsplätze, die inländische Arbeitnehmer aus verschiedenen Gründen nicht einnehmen wollen oder können. Sie nehmen somit eine Ergänzungsfunktion auf dem Arbeitsmarkt ein. Im Gegensatz dazu würden Ausländer entsprechend der Substitutionshypothese inländischen Arbeitnehmern die Arbeitsplätze wegnehmen. In der Realität muss man davon ausgehen, dass ausländische Arbeitnehmer sowohl eine komplementäre als auch eine substitutive Rolle einnehmen. Folglich tritt in der Regel beides auf: Verdrängung und Ergänzung. Zuwanderung müsste demnach so gesteuert werden, dass die komplementäre Ergänzungsfunktion überwiegt.

Prognosen zum Arbeitsmarkt

Das Erwerbspersonenpotenzial - in der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung die Gruppe der 20- bis unter 65-jährigen - schrumpft ebenfalls von gegenwärtig gut 51 Millionen Personen auf 35 bzw. 38,7 Millionen Personen im Jahr 2050 bei jährlicher Zuwanderung von 100 000 bzw. 200 000 Menschen. Dies ist ein Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials auf 68 bzw. 75 Prozent des heutigen Niveaus. Dieses Arbeitsangebot steht dann einer zukünftigen Wirtschaftsstruktur gegenüber, die von einer weiteren Tertiärisierung gekennzeichnet sein wird: Höhere Beschäftigungsanteile der Dienstleistungsbranchen, die von gegenwärtig gut 60 auf knapp 70 Prozent im Jahr 2010 geschätzt werden, und ein entsprechender Rückgang bei allen produktionsorientierten Tätigkeiten von 35 auf unter 30 Prozent. Gleichzeitig werden sich auch höhere Beschäftigungsanteile bei anspruchsvollen Tätigkeiten herauskristallisieren - bei einem parallelen Rückgang einfacher Tätigkeiten.

Diese erhöhte Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften wird dann mit der schrumpfenden und alternden Bevölkerung konfrontiert. Es stellt sich somit die Frage, ob die demographische Entwicklung zu einem Arbeitsangebot führt, das der Nachfrage entspricht.

Unser Bildungssystem präferiert die Erstausbildung Jüngerer gegenüber der Weiterbildung Älterer. Bei einem sinkenden Anteil Jugendlicher und einer immer kürzer werdenden Halbwertzeit des Wissens - insbesondere auf Grund der Entwicklung im Informations- und Kommunikationsbereich - kann davon ausgegangen werden, dass unter Status-quo-Bedingungen das vorhandene Humankapital nicht mehr den Anforderungen entsprechen wird. Vielmehr deutet einiges darauf hin, dass es im Bereich mittlerer und höherer Qualifikationen zu Engpässen kommen dürfte, während Geringqualifizierte mit starken Verlusten rechnen müssen. In der Folge sollte dies zu Wachstums- und Wohlfahrtseinbußen für die deutsche Volkswirtschaft und Gesellschaft führen.

Die offensichtliche Reaktion auf diese Entwicklung liegt in einer Umorientierung der Bildungspolitik und dies sowohl im öffentlichen wie im betrieblichen Bereich. Daneben liegt in diesem qualifikatorischen Mismatch auch die Begründung für eine gesteuerte Zuwanderung von zu deutschen Erwerbstätigen komplementären ausländischen Arbeitskräften. Ausweislich der vorliegenden Prognosen sollten zukünftige Zuwanderer also relativ hoch qualifiziert und dienstleistungsorientiert sein. Entscheidend ist also deren Bildung, berufliche Stellung und ihre Verteilung über die Wirtschaftssektoren. Zu prüfen ist allerdings auch, ob die bereits sich in Deutschland befindenden Ausländer, insbesondere die der zweiten und dritten Generation, diesen Anforderungen entsprechen. Schließlich sind rund 40 Prozent der in Deutschland lebenden Ausländer in einem Alter zwischen sechs und 30 Jahren.

Ausländer und Deutsche am Arbeitsmarkt: Wo liegen die Unterschiede?

Arbeitslosigkeit

Der augenfälligste Unterschied zu deutschen Arbeitnehmern dürfte in der unterschiedlichen Betroffenheit von Arbeitslosigkeit liegen. Die Arbeitslosenquote ausländischer Erwerbspersonen lag in den letzten zwanzig Jahren immer über der der westdeutschen. Ausländische Arbeitskräfte waren vom strukturellen Wandel der Wirtschaft und der Arbeitsmärkte in besonders hohem Maße betroffen. Viele ihrer ursprünglichen Arbeitsplätze in der industriellen Massenfertigung und in der Schwerindustrie gingen verloren. Neue Beschäftigungsmöglichkeiten im Dienstleistungsbereich konnten den Beschäftigungsverlust in der Industrie nicht kompensieren. Arbeitslosigkeit ausländischer Erwerbspersonen spiegelt folglich einerseits auch den Strukturwandel in der Wirtschaft sowie andererseits die Konzentration der Ausländer auf diese, aus heutiger Sicht, wenig zukunftsweisenden Branchen wider.

Wirtschaftsbereiche

Der Zeitvergleich zeigt, dass 1980 fast jeder zweite deutsche Mann im produzierenden Gewerbe tätig war. 1999 lag dieser Anteil noch bei 41 Prozent. Im Vergleich zu 1980 ist der Anteil der Dienstleistungen gestiegen, insbesondere der wirtschaftsbezogenen Dienstleistungen. Bei Ausländern zeigt sich ausgehend von einer überproportional hohen Beschäftigung im produzierenden Gewerbe die gleiche Entwicklung. Frauen waren und sind durchgängig seltener im produzierenden Gewerbe beschäftigt.

Die Zuordnung der deutschen und ausländischen Beschäftigten nach Branchen zeigt recht deutlich, wie sich die Beschäftigungsstruktur im ausgehenden 20. Jahrhundert verändert hat. Ausländische Arbeitnehmer aus Mittelmeerländern sind in weit höherem Maße von strukturellen Umbrüchen betroffen als deutsche Beschäftigte. Generell gilt, dass bei der Beschäftigung von Frauen die Tertiärisierung weiter vorangeschritten ist als bei Männern.

Stellung im Beruf

Vergleicht man Deutsche und Ausländer nach ihrer Stellung im Beruf, also danach ob sie als un- oder angelernte Arbeiter, Facharbeiter oder Angestellte beschäftigt sind, so ergeben sich auch hier wieder signifikante Unterschiede, aber auch parallele Entwicklungen.

Sowohl 1980 als auch 1999 arbeitete ein Viertel der deutschen Männer als un- oder angelernte Kräfte. Starke Verschiebungen ergaben sich in den beiden anderen Kategorien: So sank der Anteil der Facharbeiter, wohingegen der Anteil der Angestellten stieg. Die Verteilung bei Männern aus den südeuropäischen Ländern zeigt dagegen immer noch eine Dominanz der Tätigkeiten als un- oder angelernte Arbeitskräfte. In- und ausländische Frauen sind weitaus öfter in Angestelltenberufen beschäftigt als Männer.

Bildung

Der Hintergrund all dieser skizzierten Unterschiede zwischen Deutschen und Ausländern dürfte in den unterschiedlichen Bildungsniveaus beider Gruppen liegen.

Deutsche Männer, die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, haben typischerweise eine Haupt- oder Realschule und anschließend eine berufliche Ausbildung abgeschlossen. Die Bildungsstruktur männlicher Zuwanderer aus den Hauptherkunftsländern früherer Gastarbeiter unterscheidet sich dagegen erheblich von jener deutscher Erwerbstätiger. Ausländische Erwerbstätige haben wesentlich öfter keinen Abschluss oder lediglich einen primären Bildungsabschluss ohne Berufsausbildung. Hier lässt sich die komplementäre Zielrichtung der Anwerbung noch deutlich erkennen. Damals wurden überwiegend Arbeitskräfte für die industrielle Serienfertigung, die Schwerindustrie und den Bergbau nach Deutschland geholt. Für diese Arbeitsplätze waren in der Regel keine höheren Qualifikationen notwendig.

Insgesamt lässt sich an der Bildungsstruktur der ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland eine zunächst positive Tendenz ablesen. Bei fast allen Gruppen, Männern wie Frauen, erhöhte sich zwischen 1980 und 1999 der Bildungsgrad. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und der Tatsache, dass bereits jetzt die jungen Altersklassen bei Ausländern relativ stärker besetzt sind als bei Deutschen einerseits und den aller Voraussicht nach zunehmenden qualitativen Anforderungen an das Arbeitskräftepotential andererseits, muss jedoch die Bildungsbeteiligung junger Ausländer verstärkt werden.

Generell zeigt die Analyse der Arbeitsmarktpositionen von Migranten, dass Gruppen mit hohem Bildungsgrad in der Regel höhere Positionen auf dem Arbeitsmarkt erreichen. Somit kann davon ausgegangen werden, dass der deutsche Arbeitsmarkt nicht ethnisch segmentiert ist. In erster Linie dürfte die ungünstigere Humankapitalausstattung von Zuwanderern für deren überproportional häufige Positionierung am unteren Ende des Arbeitsmarkts verantwortlich sein. Insgesamt ist festzuhalten, dass bisher in den überwiegenden Fällen die Ergänzung die Verdrängung deutscher Arbeitnehmer dominiert hat. Erst ermöglichte die Unterschichtung durch ausländische Arbeitskräfte den beruflichen Aufstieg der Deutschen. Aktuell unterstützen sie den Strukturwandel.

Einwanderung - Chance oder Gefahr?

Einwanderung ist eindeutig als Chance und nicht als Gefahr für die deutsche Gesellschaft zu sehen - aber Einwanderungspolitik muss um Integrationspolitik erweitert werden.


Da aus der demographischen Entwicklung ein wachsender Zuwanderungsbedarf resultiert, wäre es wünschenswert, wenn die Politik alsbald den Mut fände, ein Einwanderungsgesetz zu erlassen, nicht zuletzt deshalb, um in den nächsten Jahren, in denen noch kein ausgeprägter Zuwanderungsbedarf besteht, eine derartige Gesetzesanwendung zu "üben" und zu "lernen". Denn Aufgabe der Politik ist es mithin, die für positive Effekte von Zuwanderung notwendige Komplementarität zwischen deutschen und ausländischen Erwerbstätigen zu realisieren. Zudem verdeutlichen internationale Vergleiche, dass Einwanderungsgesetze die Integration von Ausländern auch dadurch erleichtern, weil sie von den Einheimischen dann eher akzeptiert werden.

Die Politik sollte mit einem Bündel von Strategien auf die prognostizierte demographische Entwicklung reagieren. Eine gesteuerte Zuwanderung allein kann die Folgen schon deshalb nicht schultern, da die übrigen Industrieländer vor der gleichen Bevölkerungsentwicklung stehen und es somit zu einem Wettkampf um die besten Zuwanderer käme. Zudem würde diese Politik zu einem brain drain in den Entsendeländern führen, was wiederum die Ungleichgewichte zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern verstärken würde.

Eine reife Volkswirtschaft wie die deutsche muss deshalb noch andere Strategien aktivieren wie eine Steigerung der Arbeitsproduktivität, wozu insbesondere eine Umorientierung in der Bildungspolitik gehört. Eine andere Maßnahme wäre eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit sowie des weiteren eine Erhöhung der ebenfalls im internationalen Vergleich niedrigen Frauenerwerbsquote. Maßnahmen hierzu dürfen allerdings nicht im Gegensatz zu familienpolitisch notwendigen Aktivitäten zur Erhöhung der Fertilitätsrate stehen. Vielmehr muss versucht werden, arbeitsmarktpolitisch und familienpolitisch motivierte Strategien als Komplemente zu formulieren.

Jede dieser Strategien hat spezifische Vor- und Nachteile sowie ihre eigenen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die soziale Sicherung. Die gesamtgesellschaftliche Reaktion auf den demographischen Wandel wird sicherlich in einem Mix aus allen vier Strategien zu suchen sein. Die Aufgabe der Politik wird es sein, Prioritäten zu setzen und Inkompatibilitäten zu vermeiden.

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