Das soziale Europa existiert!



Viele sehen in einem „sozialen Europa“ eine beflügelnde Idee oder gar eine gelungene Utopie. Doch nur wenigen ist bewusst, dass das soziale Europa in der Praxis längst politische Gestalt angenommen hat. Die verbreitete Skepsis darüber geht auf viele einzelne Beobachtungen, Erfahrungen und Empfindungen zurück: Unternehmen stellen in Deutschland ihre Produktion ein und verlagern sie in Billiglohnländer; von dort kommen gering bezahlte Arbeitskräfte oder Selbständige mit kostengünstigen Angeboten auf den inländischen Arbeits-, Güter- und Dienstleistungsmarkt und verdrängen die heimischen Arbeitskräfte und Selbständigen; der Europäische Gerichtshof (EuGH) scheint soziale Schutzgarantien zu beseitigen, wenn er – wie im April 2008 – das niedersächsische Tariftreuegesetz verwirft.

Aus dieser Perspektive vermag der Binnenmarkt zwar Produktion und Wachstum anzuregen. Doch der Mann auf der Straße profitiert von der Europäischen Union nicht.

Die europäische Integration war und ist ein Elitenprojekt, angestoßen von Staatsmännern und Wirtschaftsleuten, um den Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kontinents im internationalen Einvernehmen zu bewältigen. Heute begegnet die Mehrheit der Arbeitnehmer und Konsumenten dem Vorhaben mit Vorbehalt, ja Argwohn. Der Vorwurf steht im Raum, der Binnenmarkt sei unsozial. Andererseits haben sich die allermeisten Bürger jedoch inzwischen in diesem Binnenmarkt gut eingerichtet. Kreta, Mallorca und Südtirol sind kostengünstige Ferienalternativen zu Nord- und Ostsee oder Allgäu geworden. Orangen aus Spanien, Spaghetti aus Italien und Oliven aus Griechenland stehen heute bei vielen Deutschen auf dem Esstisch – ganz so, als ob dieses europäische Waren und Dienstleistungsangebot eine Selbstverständlichkeit wäre.

Nein, der Markt ist nicht sozial, war es nie und beansprucht es auch nicht zu sein. Gerade deshalb muss er durch Politik und Recht eingerahmt und gebändigt werden. Nur so können wir von seinen Stärken profitieren, ohne gleichzeitig unter seinen Schwächen und Nachteilen zu leiden. Dafür bedarf es einer Sozialpolitik, die den Markt umfassend gestaltet und ergänzt. In der europäischen Geschichte war diese zunächst auf die Armenfürsorge beschränkt. Später wurde sie um die Sozialversicherung und die öffentlichen Dienste bei Versorgung, Medizin oder Bildung sowie Arbeitsschutz und Arbeitsrecht erweitert. Sozialpolitik wurde vor Jahrhunderten zunächst von den Gemeinden, später dann von den Nationalstaaten betrieben.

Laut verbreiteter Auffassung werden diese sozialstaatlichen Entwicklungen von der europäischen Integration eher behindert als befördert. Schließlich sollen die sozialen Dienste privatisiert oder jedenfalls europäisiert werden. Gehen der europäische Binnenmarkt und die überkommene staatliche Politik sozialen Schutzes zusammen? Oder verbirgt sich hinter dem Plan der europäischen Integration das Projekt einer unbegrenzten und grenzenlosen Marktwirtschaft ohne jede sozialpolitische Einbettung?

Im historischen Rückblick wird deutlich: Das Soziale war von Anfang an eine europäische Idee. Sie kam in den antiken Städten auf und führte zu Armenspeisung, Sterbeversicherung und Versicherungsschutz bei Krankheit. Im Mittelalter nahmen sich Kirchen und Städte der Kranken und Gebrechlichen, Alten und Armen an. Sie schufen Spitäler und Stifte, Armen-, Kranken- und Siechenhäuser, die zum Teil immer noch existieren. Die kirchlichen Hilfen wie die Armenfürsorge sind bis heute in England, Schweden, Frankreich, Deutschland oder Italien zu finden und dort in ähnlichen Mustern verbreitet.

Weil die Städte auch Vagabunden und Glücksritter, Taugenichte und Rabauken anzogen, die sich als Bettler und Kleinkriminelle durchschlugen, wurden überall in Europa seit dem 16. Jahrhundert Bettelverbote erlassen und ab dem 17. Jahrhundert Arbeitshäuser errichtet. Dort sollten arbeitsfähige Armen durch harte, entbehrungsreiche und entehrende Arbeit davor abgeschreckt werden, Armenfürsorge in Anspruch zu nehmen.

Im 19. Jahrhundert entstanden in Europa Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeiterschaft – je nach politischer Grundausrichtung der Staaten geduldet (so in England und Frankreich) oder gegängelt und verfolgt (so in Mitteleuropa). Als Gewerkschaften verfochten sie ihre ökonomischen und sozialen Interessen auf höhere Löhne, Schutz und Achtung; anfangs waren sie auch Zusammenschlüsse gleichartig Gefährdeter, die sich bei Krankheit und Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter solidarisch unterstützten. Aus ihnen gingen die Arbeiterparteien hervor, die politische Mehrheiten erstrebten, um die staatliche Gesetzgebung nach den Interessen der Industriearbeiterschaft auszurichten.

Die Arbeiterparteien verstanden sich im 20. Jahrhundert in ganz Europa durchzusetzen – zunächst als bestimmende Oppositions- und später auch als Regierungsparteien. Ebenso wurden die Gewerkschaften von den Unternehmen beziehungsweise von Unternehmerverbänden als Kollektivvertragspartei anerkannt. Hingegen sind die Selbsthilfeeinrichtungen in Europa nach der Gründung der Sozialversicherungen entbehrlich geworden. Denn die Sozialversicherung schuf eine auskömmliche, verlässliche und dauerhafte Sicherung. Sie war im 19. Jahrhundert in Deutschland gegründet worden und trat von dort ihren europa- und weltweiten Siegeszug an.

Seit anderthalb Jahrzehnten werden in der Nachfolge des dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus unterschieden: der liberale Typ des angelsächsischen, der sozialdemokratische Typ des nordischen und der konservative Typ des mitteleuropäischen Sozialstaats, zu dem auch Frankreich gehört. Diese Typologie erklärt die Unterschiede in der sozialpolitischen Grundausrichtung der europäischen Staaten, die aus den verschiedenen Ausgangsbedingungen ihrer Sozialleistungssysteme entstanden sind. Diese Unterschiede zeigen sich namentlich in dem jeweils geschützten Personenkreis, dem Sicherungsumfang oder auch in dem Maß an Differenzierung innerhalb der sozialen Sicherung einzelner Bevölkerungsgruppen. Zwar existieren die Verschiedenheiten bis heute, doch sind sie im Schwinden begriffen. Und diese Konvergenz erklärt sich auch aus dem europäischen Einigungsprozess, der die Sozialpolitik längst erreicht hat. Denn auf der Ebene der Europäischen Union sind die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus seit Jahrzehnten vereint. Dort findet seit geraumer Zeit ein Prozess der sozialpolitischen Angleichung statt, der viel zu selten beachtet und zu gering geschätzt wird.

Was bisher kaum jemandem auffiel

Als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vor 50 Jahren zu wirken begann, war zwischen Frankreich und den übrigen Staaten umstritten, ob ein Gemeinsamer Markt je ohne eine gemeinsame Sozialpolitik geschaffen werden könne. Die Franzosen bezweifelten dies, hingegen hielten die fünf anderen Gründerstaaten eine europäische Sozialpolitik für entbehrlich. Der gemeinsame Markt, lautete ihre Argumentation, werde zu einer wirtschaftlichen Stärkung und Angleichung aller Staaten führen. Infolgedessen werde dann auch eine soziale Angleichung der Mitgliedsstaaten mittels Gesetzgebung möglich sein.

Diese Meinungsverschiedenheiten wurden im Jahr 1955 durch einen Kompromiss überwunden, der allerdings nicht von Dauer war. Der EWG wurden zunächst nur wenige sozialpolitische Befugnisse eingeräumt: die zwischenstaatliche Koordination der sozialen Sicherungssysteme und die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Geschlechter im Erwerbsleben. Schon unmittelbar nach ihrer Gründung schuf die EWG zur zwischenstaatlichen Koordination der sozialen Sicherung der Mitgliedsstaaten ein noch heute in seinen Grundzügen gültiges Regelsystem, wodurch die Sozialleistungssysteme aller Mitgliedsstaaten miteinander verflochten werden. Seither können Renten in allen Mitgliedsstaaten ohne Abzug in Anspruch genommen werden; die Beschäftigung in mehreren Staaten führt nicht zum Verlust sozialer Rechte; und Krankenbehandlungen für die Versicherten eines Staates sind unter bestimmten Bedingungen auch in anderen Staaten möglich: etwa wenn die betreffende Person in dem anderen Staat wohnt, bei Notfällen oder mit Genehmigung des zuständigen Staates. Zudem ist aufgrund der Rechtsprechung des EuGH die EU-weite Krankenbehandlung und Pflege ohne die genannten Begrenzungen vorgesehen.

Schon Anfang der siebziger Jahre reifte unter allen Gründerstaaten die Einsicht, die europäische Integration müsse umfassend sozialpolitisch flankiert werden. Weitere sozialpolitische Initiativen auf europäischer Ebene waren zu verzeichnen, etwa die Richtlinien über die Angleichung der Entlohnungs-, Arbeits- wie Aufstiegsbedingungen für Männer und Frauen im Erwerbsleben. Damit gingen viele Veränderungen einher. Beispielsweise können Frauen seither im Falle von Diskriminierung durch den Arbeitgeber Schadensersatz verlangen; teilzeitbeschäftigte Frauen dürfen nicht mehr von Betriebsrenten ausgeschlossen werden; und der Arbeitsvertrag einer schwangeren Frau darf nicht mehr wegen arglistiger Täuschung angefochten werden, weil schon die Frage nach einer Schwangerschaft im Bewerbungsgespräch Frauen diskriminiert.

In den achtziger Jahren erhielt die Europäische Gemeinschaft (EG) die Zuständigkeit für den Arbeitsschutz, das älteste und wichtigste Teilgebiet des Arbeitsrechts. Seither ist das gesamte Arbeitsschutzrecht für Jugendliche wie Mütter, das Arbeitszeitrecht und der gesamte technische Arbeitsschutz vollständig europäisiert. Das ist bisher nur kaum jemandem aufgefallen.

„Europe will be a Europe for all or it will be nothing at all“

In den neunziger Jahren wurden die Bemühungen um die Angleichung sozialpolitischer Gesetzgebung der Europäischen Gemeinschaft schließlich auf die Formel gebracht: „Europe will be a Europe for all or it will be nothing at all!“ Im Jahr 2000 trat der Amsterdamer Vertrag in Kraft und gab der EG erstmals eine umfassende ergänzende Zuständigkeit auf nahezu allen Gebieten der Sozialpolitik. Ferner konnte die EG die Mitgliedsstaaten fortan zu bestimmten gesetzlichen Diskriminierungsverboten verpflichten. Daraufhin ergingen Richtlinien, die den Opfern von Diskriminierungen erstmals klare und eindeutige zivile Rechte einräumten. Außerdem wurden die Staaten zur Information und Dokumentation von Verstößen gegen das Diskriminierungsrecht verpflichtet. Einzig die Aussicht auf eine drastische Strafe bewegte Deutschland zum Erlass des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, das nicht wenige für unnötig und höchst bürokratisch hielten. Immerhin gibt es den zurückgesetzten und am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen erstmals rechtliche Instrumente an die Hand, um ihre eigene Ächtung zur Sprache zu bringen und die sozial Mächtigeren zur Verantwortung zu ziehen. Auch dieses Beispiel zeigt: Die EG hat in der Sozialpolitik mehr zu sagen, als den allermeisten bewusst ist.

In der Diskussion um die Ausgestaltung der Dienstleistungsfreiheit – als dem Recht jedes Selbständigen, EU-weit seine Dienstleistungen zu erbringen – setzte sich zunehmend die Einsicht durch, dass Unternehmer ihre Arbeitnehmer in der EU nicht nach den im Herkunftsland gültigen Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen beschäftigen dürfen. Vielmehr erlaube das Europarecht, dass jeder Mitgliedsstaat für die entsandten Arbeitnehmer Mindestlöhne und sonstige Mindestarbeitsbedingungen festsetzen könne.

So wurde im Jahr 1996 das deutsche Arbeitnehmerentsendegesetz geschaffen, das auf eine EU-Richtlinie zurückgeht. Es brachte erstmals – zunächst für die Bauwirtschaft – allgemein verbindliche tarifliche Mindestarbeitsbedingungen und Mindestlöhne. Gegenwärtig dreht sich die politische Debatte darum, welche weiteren Branchen in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufzunehmen seien. Ohne Europa hätte es weder Mindestarbeitsbedingungen, noch den Mindestlohn, noch die Debatte in Deutschland gegeben.

Dem widerspricht auch das Urteil des EuGH zum niedersächsischen Vergaberecht nicht. Zwar soll danach die Tariftreuepflicht der Dienstleistungsfreiheit widersprechen. Denn diese fordert, dass die Arbeitgeber die Arbeitnehmer auch zu anderen Tarifbedingungen als denen Niedersachsens – etwa Thüringens, Österreichs oder der Niederlande – beschäftigen dürfen. Das Urteil verbietet aber keine Mindestlöhne aufgrund eines Gesetzes oder eines allgemeingültigen Tarifvertrages. Wettbewerb fordert Mindestarbeitsbedingungen; dieser kann im Binnenmarkt aber nicht mehr dem Tarifrecht am Ort der Arbeitsausübung entsprechen.

Ein Blick auf die jüngste Rechtsentwicklung zeigt: Die EU prägt zunehmend die sozialpolitische Programmatik. Der 2007 verabschiedete Lissabonner Grundlagenvertrag soll die Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten klarer abgrenzen. Er sieht eine geteilte Zuständigkeit zwischen der EU und den Mitgliedsländern vor. Daraus folgt für die Sozialpolitik, dass die zwischenstaatliche Koordination der sozialen Sicherheit seit 1958 in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fällt, wogegen der EU schon seit dem Vertrag von Amsterdam in den übrigen Materien der Sozialpolitik eine unterstützende Zuständigkeit zukommt. Die These von der sozialpolitischen Alleinzuständigkeit der Mitgliedsstaaten ist nun nicht mehr zeitgemäß. Im Gegenteil überträgt der Grundlagenvertrag für den Binnenmarkt der EU eine differenzierte Zuständigkeit. Er wird auch die derzeit noch unverbindliche Grundrechtecharta der EU verbindlich machen – eine fundamentale Veränderung des europäischen Rechts. Das einst beklagte Fehlen von Menschenrechten in der EU wird damit endgültig und umfassend ausgeräumt.

Schon heute sind „europäische Sozialstandards“ europaweit verbindlich

Die Grundrechtecharta enthält auch soziale Grundrechte. Damit wird das EU-Recht mit einer Frage konfrontiert, die auch im deutschen Recht intensiv und bisher mit stets negativer Tendenz diskutiert wurde: ob nämlich soziale Grundrechte belangvolle und verbindliche Grundrechte sein können und wenn ja, worin ihre Wirkungskraft liegt. Inwieweit werden die sozialen Grundrechte durch Übernahme der Grundrechtecharta eine grundsätzlich neue Beurteilung erfahren? Was folgt daraus für die Deutung des Rechts der EU und der Mitgliedsstaaten, das Sozialstaatsverständnis und das Sozialrecht samt seiner sozialpolitisch verpflichteten Nachbargebiete?

Das Wechselverhältnis von Wirtschaftsrecht und Sozialrecht innerhalb der EU war das große Thema der vergangenen zehn Jahre. Die damit verbundenen Fragen berühren das Wettbewerbs-, Beihilfe- und Vergaberecht. Das Wirtschaftsrecht prägt die Binnenmarktverfassung. In ihr bündelt sich die Frage, inwieweit ein primär auf Binnenmarkterrichtung zielendes Recht die Sozialleistungssysteme berührt und, wenn ja, in welcher Weise. Unklar ist freilich geblieben: Was folgt aus dem Wettbewerbs-, Beihilfe- und Vergaberecht für das Sozialrecht konkret? Gilt es? Gilt es nicht? Oder gilt es mit Modifikationen?

Bereits heute sind „europäische Sozialstandards“ europaweit verbindlich. Damit ist nicht nur das „harte“, gesetzte Recht gemeint, sondern auch das als „weiche“ Prinzipien konsentierte Recht. Die EU ist im Begriff, durch weiche Normen (soft law) zu einem zentralen sozialpolitischen Akteur zu werden, denn sie bestimmt zunehmend die sozialpolitische Programmatik. Seit nunmehr einem Jahrzehnt werden die Mitgliedsstaaten in ihrer Sozialpolitik auf ihre Leistungsfähigkeit geprüft. Die Vorgehensweise heißt – wie in der EU leider üblich – elitär, expertenhaft, sperrig und wenig sinnfällig: „Offene Methode der Koordinierung“ (OMK). Ob in der Beschäftigungspolitik oder Alterssicherung, der Armutsbekämpfung und im Gesundheitsschutz – überall ringt Europa um die Modernisierung der Systeme sozialen Schutzes, und dies auf einer gesicherten Rechtsgrundlage.

Diese Bemühungen gibt es, weil alle Mitgliedsstaaten vor ähnlichen sozialpolitischen Herausforderungen stehen, die einen Erfahrungsaustausch, aber auch einen abgestimmten Plan in einem zunehmend verflochtenen Binnenmarkt unabweisbar machen. Wandel der Arbeit, Auflösung traditioneller Familienstrukturen, Geburtenrückgang, Alterung, medizinischer Fortschritt, Intellektualisierung der Arbeit und zunehmende Pflegebedürftigkeit – dies sind abstrakte Umschreibungen für schwerwiegende Herausforderungen, vor denen die Sozialpolitiken aller Mitgliedsstaaten stehen und die im Rahmen der OMK gemeinsam bearbeitet werden.

Zwar bleibt im Rahmen der OMK jeder Mitgliedsstaat in seinen sozialpolitischen Grundentscheidungen ungebunden. Dennoch hinterlässt dieser Prozess sichtbare Spuren, da eine gemeinsame Analyse der sozialpolitischen Problemlösungen stattfindet. Daraus werden sozialpolitische Leitprinzipien entwickelt und beste Praktiken identifiziert, die allen Mitgliedsstaaten zur Befolgung empfohlen werden. So wurden etwa die schwedische Rentenreform von 1998, die niederländische Förderung der Teilzeitbeschäftigung sowie die aktivierende Arbeitsmarktpolitik Großbritanniens und Dänemarks, die Familienpolitik Schwedens und Frankreichs, die Pflegeversicherung Deutschlands, die Betriebsrentengesetzgebung Großbritanniens und der Niederlande jeweils zu Leitbildern für die übrigen Mitgliedsstaaten. Die OMK wirkt wie eine „Olympiade der Sozialpolitik“, in der ähnlich wie bei der Pisa-Studie institutionelle Schwächen einzelner Staaten aufgedeckt und im Dialog moderne Antworten identifiziert werden.

Gerhard Schröders Beitrag zur Lissabonner Strategie

Freilich ist nur dem Eingeweihten der EU-Bezug der sozialpolitischen Reformen mancher Mitgliedsstaaten erkennbar, der manchmal bis in die Wortwahl hineingeht. Vor fünf Jahren stellte der hinsichtlich seiner vorgeblichen Medienkompetenz oft gelobte Bundeskanzler Gerhard Schröder sein Reformprogramm unter das Motto „Agenda 2010“, was kaum jemand verstand. Doch ausweislich Schröders Memoiren war das Programm als der deutsche Beitrag zur so genannten Lissaboner Strategie der Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten aus dem Jahr 2000 gedacht. Diese zielt darauf, die EU bis 2010 zum stärksten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln und dafür eine auf Beschäftigung setzende aktivierende Sozialpolitik zu betreiben.

Der aktive Wohlfahrtsstaat ist die Zielperspektive europäischer Sozialpolitik. In diesem Zeichen stehen derzeit die meisten Reformen des Sozialstaats in sämtlichen Mitgliedsstaaten. Arbeit hat Vorrang vor dem Bezug von Sozialleistungen. Investitionen in Bildung und Kleinkinderbetreuung sind dafür eine Grundvoraussetzung. Die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit ist eine weitere Bedingung, um dem Geburtenrückgang entgegenzuwirken, der Alterung zu begegnen sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu befördern. Prävention und Rehabilitation gehen vor Rente. Alterssicherung wird künftig im Drei-Säulen-Modell zu organisieren sein. Vermittlung und Qualifizierung von Arbeitsuchenden ist besser als deren Alimentierung auf Dauer. Diese Maximen prägen die Sozialpolitik in allen Ländern. Sie sind allesamt von der EU entwickelt und entfaltet worden!

Nicht wenige sehen in solchen Maximen allerdings nur den Ungeist des Neoliberalismus, die Abwesenheit jeglicher Sozialstaatlichkeit, die sie wiederum der EU anlasten. Aber auch darin befinden sie sich im Irrtum. Der Sozialstaat war stets erwerbsbasiert und -orientiert. Zu allen Zeiten bildete die Vollbeschäftigung die Voraussetzung jeglicher sozialer Sicherung. Arbeit war der Sozialpolitik stets mehr denn Mühsal, nämlich Sinngebung menschlicher Existenz. Der Sozialstaat wollte daher weder ein Recht auf Faulheit verheißen, noch ein Reich der Freiheit jenseits der Mühsal der Arbeit errichten. Dem Sozialstaat war es niemals um die Abschaffung, sondern stets um die Humanisierung der Arbeit getan. Dazu gehörte vor allem, dass die Arbeit nicht zur Ware werde, sondern dass jeder arbeitende Mensch als autonomes Subjekt mit eigener Würde behandelt und bezahlt werden muss.

Keine Utopie, sondern konkrete politische Wirklichkeit

Die Autonomie jedes Menschen durch Sozialleistungen zu sichern, das war und ist das beherrschende Ziel jedes Sozialstaates. Es ist daher falsch, in ihm eine Belastung oder gar Freiheitsbeschränkung zu sehen. Denn der Sozialstaat nimmt stets, um denen zu geben, die Hilfe benötigen. Das sozialstaatliche Geben kann aber nur gelingen, wenn der Sozialstaat auch nimmt. Die vorgebliche Freiheitsbeschränkung sozialstaatlichen Handelns erweist sich so als Bedingung für die Freiheitssicherung. Die Umverteilung des modernen Sozialstaats wird in Ausrichtung und Zielen, Mitteln und Wegen zunehmend durch die EU bestimmt.

Dies kann kaum überraschen. Denn Europa ist der weltweit am dichtesten integrierte Raum einer Vielzahl durch gemeinsame Traditionen und Kulturen verbundener Kleinstaaten. Deren Grenzregionen sind zu Zentren der europäischen Integration geworden, die kraft der EU-Sozialpolitik auch zu Zentren sozialer Integration werden.

Besteht also schon heute ein „Europäisches Sozialmodell“? Diese von der EU selbst gebrauchte Formulierung klingt plakativ und feuilletonistisch. Sie bündelt das Leitbild europäischer Sozialpolitik, das sich aus den Aufgaben- und Zielbestimmungen der EU unmittelbar ergibt. Dieses Leitbild wird zur Projektionsfläche der inhaltlichen Bestimmung des Sozialen im Binnenmarkt und macht die Summe dessen aus, was die EU für das Soziale leistet.

Das „Europäische Sozialmodell“ ist damit weit mehr als eine suggestive Formel. Es bezeichnet, was die europäischen Länder sozial und politisch miteinander verbindet – nicht erst seit wenigen Jahrzehnten, sondern seit Jahrhunderten. Es bedeutet die soziale Umhegung des Marktes; seine Ergänzung, wo dieser versagt; seine Inpflichtnahme, wo dieser sozial unsensibel ist; und seine Begrenzung, wo politische Kontrolle unverzichtbar bleibt – durch Sicherung der elementaren Lebensbedürfnisse sowie Hilfe bei Krankheit, im Alter, bei Erwerbsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit. In dem Maße, wie sich die europäische Wirtschaftsgesellschaft transnational entfaltet, wird sie der Formung durch die Europäische Sozialpolitik bedürfen. Das ist keine Utopie oder träumerische Vision, sondern eine konkrete politische Wirklichkeit, die in diesen Jahrzehnten in der EU mehr und mehr Gestalt annimmt.

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