Das sozialdemokratische Lagerdilemma

Nach ihrer Wahlniederlage setzen manche in der geschrumpften SPD auf die Formierung eines schlagkräftigen linken Lagers in der Opposition. Doch damit würden die Sozialdemokraten die politische Mitte womöglich vollends den Christdemokraten überlassen

Nach elf Jahren Regierungsbeteiligung hat die SPD ihr schlechtestes Ergebnis in der bundesrepublikanischen Geschichte erzielt. Noch nie hat eine Partei bei einer Bundestagswahl so hohe Verluste eingefahren wie jetzt die SPD. Die Niederlage ist so heftig, dass es nicht ausreicht, sich einzureden, das nächste Mal werde es mit etwas veränderten programmatischen und personellen Angeboten schon wieder klappen. Es wird auch nicht genügen, auf die offensichtlichen Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit von CDU, CSU und FDP zu hoffen, selbst wenn sich die Umfragewerte jetzt kurzfristig erholen werden.


Grundsätzlich ist festzuhalten, dass sich die Bindungen großer Wählerschichten an eine bestimmte Partei in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gelockert haben. Dadurch ist die Volatilität des Wahlverhaltens deutlich angestiegen, Gewinne und Verluste können wesentlich höher ausfallen als früher. Die höhere Volatilität erlaubt aber auch eine schnellere Erholung, als sie früher möglich gewesen wäre. Zudem gibt das Ergebnis der SPD von 23 Prozent nicht das wirkliche Potenzial der Partei wieder, sondern ist auch das Ergebnis einer diffusen strategischen Orientierung und einer suboptimalen Wahlkampfführung in einer ungünstigen Koalitionskonstellation. Dennoch wird eine Konsolidierung der SPD nicht ohne eine umfassende Bestandsaufnahme der grundsätzlichen Orientierungen in der Wählerschaft und der sich daraus ergebenden strategischen Grenzen und Spielräume gelingen. Eine solche Bestandsaufnahme ist nicht erst während der Vorbereitung auf kommende Wahlkämpfe notwendig, sondern schon für die Positionierung in der Opposition im Bundestag.


Um die Lage realistisch zu beurteilen, muss man sich zunächst von der Vorstellung lösen, dass sich die Gesamtheit aller Wahlberechtigten überschneidungsfrei und eindeutig in Anhängerschaften der verschiedenen Parteien aufteilt, über die die Parteien jeweils nur geschickt in Wahlkämpfen verfügen müssen. Selbst unmittelbar vor der Bundestagswahl konnten sich zusammengenommen nur 25 Prozent aller Wähler vorstellen, ausschließlich eine bestimmte Partei zu wählen. Alle anderen nannten mindestens zwei Parteien. Diese 25 Prozent der Wahlberechtigten setzen sich zusammen aus 11 Prozent Wählern der CDU/CSU, 5 Prozent der SPD, 3 Prozent der FDP, 4 Prozent der „Linken“ und jeweils 1 Prozent der Grünen beziehungsweise sonstiger Parteien. Bei diesen Wählerschichten stehen die Parteien vor der Herausforderung, sie in Wahlkämpfen zu mobilisieren. Jenseits der Kernwählerschaften befinden sich verschiedene Parteien in Konkurrenz um die Stimmen. Dort müssen Wähler überzeugt werden. Selbstverständlich haben nicht bei allen Wählern alle Parteien die gleiche Chance, eine positive Resonanz zu erfahren. Nach wie vor lassen sich anhand der parteipolitischen Präferenzen der Wähler deutliche politische Lager erkennen. Dies zeigte nicht zuletzt das Stimmensplitting bei der Bundestagswahl.

Das Lager als Schnittmenge

Der Begriff „politisches Lager“ bedeutet dabei empirisch lediglich die Gruppierung von Parteien aufgrund der sich überschneidenden Optionen der Wähler für bestimmte Parteien. In diesem Sinne stellt ein politisches Lager die Schnittmenge der Potenziale von Parteien bei den Wählern dar (operationalisiert als Summe aus Wahlabsicht und vorstellbarer weiterer Wahlabsicht). Eine programmatische Ähnlichkeit der Parteien ist dabei wahrscheinlich, aber weder in Hinsicht auf Konsistenz noch auf Vollständigkeit zwingend notwendig. Mithilfe der klassischen Sonntagsfrage lassen sich lediglich zeitpunktbezogen bestimmte Stimmungskonstellationen in der Bevölkerung messen, eine Evaluierung der Chancen und Restriktionen für die Entwicklung einer Partei ist damit nicht möglich. Mit einer Potenzialanalyse hingegen können nicht nur koalitionstaktische Möglichkeiten aufgezeigt und abgeschätzt werden, sondern sie liefert auch Erreichbarkeitswahrscheinlichkeiten für politische Kommunikation jenseits der Wahlkämpfe.

Und ewig schrumpfen die Milieus


Die Lockerung der Bindungen großer Teile der Wählerschaft an die Volksparteien hat ihre Ursache primär in den sozialen und ideologischen Veränderungen unserer Gesellschaft. Allerdings beruht der wachsende Anteil volatiler Wähler wesentlich stärker auf der Schrumpfung des den Volksparteien jeweils nahestehenden Milieus als auf dem Rückgang des Zuspruchs aus diesen Milieus. Beispielsweise erzielte die Union auch bei dieser Bundestagswahl im Milieu der kirchengebundenen Katholiken im Westen ein Zweitstimmenergebnis von stolzen 67 Prozent. Langfristig verändert hat sich aber der Anteil der Stimmen für die Union, die aus diesem Milieu kommen: Bei der Bundestagswahl 1976 waren es noch 37 Prozent, bei der Wahl 2009 nur noch 14 Prozent der Stimmen. Der Grund: Es gibt immer weniger Katholiken, und von den verbliebenen haben immer weniger eine Kirchenbindung. Inzwischen gehören nur noch 8 Prozent der gesamtdeutschen Wahlberechtigten zur Gruppe der Katholiken mit einer starken Kirchenbindung. Um politisch erfolgreich zu sein, kann die Union ihre Politik nicht primär an dieser Gruppe ausrichten. Selbst wenn es ihr gelänge, diese Gruppe maximal zu mobilisieren und eine Zunahme bei der Wahlbeteiligung von 10 Prozent zu erreichen und dann alle die Union wählen würden, würde sich das Unionsergebnis um weniger als einen Prozentpunkt verbessern.

Immer mehr potenzielle Wechselwähler

Ähnliches gilt bei der SPD – wenn auch auf niedrigerem Niveau – tendenziell immer noch für ihr Milieu der gewerkschaftlich gebundenen Arbeiter. Allerdings zeigen sich in der jüngeren Vergangenheit selbst in dieser Gruppe signifikante Erosionserscheinungen, die nicht zuletzt durch außerordentlich starke strukturelle Veränderungen in der Arbeitswelt bedingt sind, was unter anderem zur formalen Abschaffung des Begriffes „Arbeiter“ geführt hat. Selbst unter Arbeitern im Westen, die auch Mitglied einer Gewerkschaft sind, kommt die SPD bei dieser Bundestagswahl lediglich noch auf 37 Prozent. Bei den Bundestagswahlen 2002 (56 Prozent) und 2005 (54 Prozent) hatte sie dort noch eine klare Mehrheit.


Auch wenn die SPD hier trotz hoher Verluste ein weit überdurchschnittliches Ergebnis erzielt, ist wie bei der Union auch bei der SPD der Anteil dieser Wählerschichten an ihrem Gesamtstimmenaufkommen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich rückläufig. Bei der Bundestagswahl 1976 kamen noch 25 Prozent aller für die SPD abgegebenen Stimmen aus diesem klassischen sozialdemokratischen Milieu, jetzt sind es – ähnlich wie 2005 – nur noch 9 Prozent. Dieser gesellschaftliche Veränderungsprozess, der ja schon vor langer Zeit begann, schuf zunächst immer mehr potenzielle Wechselwähler. Deren früher aktive Parteibindung wurde zunehmend durch eine träge Parteibindung ersetzt, was sich zunächst noch wenig am Wahlergebnis bemerkbar machte, zumindest auf Bundesebene. Das Ergebnis der SPD bei dieser Bundestagswahl hat allerdings verdeutlicht, welche Auswirkungen die strukturellen Veränderungen haben können.


Dennoch ist festzustellen, dass sich selbst diese heftigen Verschiebungen weitgehend innerhalb der klassischen Lager vollziehen. Die Summe der Stimmen für CDU/CSU und FDP einerseits und für SPD, Grüne und Linkspartei andererseits schwanken bei den letzten drei Bundestagswahlen für Union und FDP zwischen 45,0 und 48,4 Prozent der Stimmen und für Rot-Rot-Grün zwischen 45,6 und 51,1 Prozent. Wechselndes Wahlverhalten findet somit überwiegend innerhalb des politischen Lagers statt, in dem der Einzelne früher noch eine aktivere Bindung an eine der Parteien hatte.

Welche Gruppe Wahlen entscheidet

Bei der Selbstverortung der Wähler sind die klassischen Lager auch nach vier Jahren Großer Koalition als die zentralen Schnittmengen zwischen den Parteien erkennbar: Noch wenige Tage vor der Wahl konnten sich 60 Prozent der Befragten mit einer FDP-Wahlabsicht auch vorstellen, die CDU/CSU zu wählen, umgekehrt halten es 48 Prozent der Unionswähler für denkbar, die FDP zu wählen. Auf der linken Seite des politischen Spektrums ist die Struktur nicht ganz so eindeutig. Zwischen SPD und Grünen ist die alte Ordnung der Parteienlandschaft noch intakt: 69 Prozent der Grünen-Wähler halten es für möglich, die SPD zu wählen, und 58 Prozent der Befragten mit einer SPD-Wahlabsicht könnten sich das auch für die Grünen vorstellen. Weniger freundschaftlich ist allerdings das Verhältnis zu den „Linken“. Lediglich 17 Prozent der SPD-Wähler haben auch eine potenzielle Parteipräferenz zugunsten der Linkspartei. Von deren Wählern wiederum können sich nur 35 Prozent auch vorstellen, die SPD zu wählen, 46 Prozent hingegen die Grünen und selbst 13 Prozent die CDU/CSU.


Dazwischen gibt es ein recht großes Potenzial, das die Schnittmenge zwischen den beiden Lagern bildet, in das sowohl die Union als auch die SPD reichen, weniger aber die FDP oder die Grünen. In dieser Gruppe wird die Machtfrage bei einer Wahl entschieden. Wer hier deutlich punkten kann, hat die Chance auf eine Mehrheit. Je nach Abschneiden von Union und SPD in dieser Schnittmenge ist eine schwarz-gelbe oder eine rot-rot-grüne Koalition zumindest rechnerisch möglich. Genau deshalb werden politische Mehrheiten, jedenfalls wenn es sich um Mehrheiten für Regierungen handelt, in der Mitte gewonnen, wobei die Geschlossenheit der beiden Lager, auf die sich Mehrheiten stützen müssen, eine ganz unterschiedliche ist. Diese Asymmetrie wird durch die wahrgenommene Positionierung der Parteien noch verstärkt. Die Bevölkerung nimmt Union, FDP, SPD und Grüne als immer ähnlicher wahr, und entsprechend wandern die Bewertungen dieser Parteien auf der Rechts-Links-Skala von Jahr zu Jahr immer weiter in Richtung Mitte. Die Linkspartei hingegen wird von den Befragten von Jahr zu Jahr immer weiter links wahrgenommen, was ihr zunehmend eine Sonderrolle zuweist, die schon sehr stark in Richtung Ausgrenzung und Isolation geht. Das führt dazu, dass die wahrgenommene Distanz auf der Rechts-Links-Dimension zwischen Union und den Grünen ungefähr so groß ist wie die zwischen SPD und Linkspartei. Das ist alles andere als eine gute Voraussetzung für eine mögliche Zusammenarbeit von Linkspartei und SPD.

Überall große Distanz zur Linkspartei

Diese als groß wahrgenommene, letztlich programmatische Distanz innerhalb dessen, was das linke Lager sein könnte, führt zu einer heftigen Ablehnung der Linkspartei als möglicher Regierungspartner auf Bundesebene, aber auch in den westlichen Bundesländern. So fanden es unmittelbar vor der letzten Bundestagswahl 63 Prozent aller Wahlberechtigten schlecht, wenn die Linkspartei an der Bundesregierung beteiligt werden würde, 13 Prozent war das egal und nur 21 Prozent unterstützten das. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass auch 68 Prozent der SPD-Anhänger eine solche Beteiligung dezidiert ablehnten. Auch nach dem Parteitag in Dresden findet eine Zusammenarbeit von SPD und Linkspartei keine mehrheitliche Unterstützung: 64 Prozent aller Befragten und 62 Prozent der SPD-Anhänger sprechen sich explizit dagegen aus. Dafür sind lediglich 29 Prozent aller Befragten und 35 Prozent der SPD-Anhänger.

Nagelprobe in Nordrhein-Westfalen

Insofern bleibt das Grunddilemma der SPD, an dem die beiden letzten SPD-Vorsitzenden gescheitert sind, unverändert bestehen. Zur Verbesserung der Geschlossenheit eines kampfstarken linken Lagers müsste sich die SPD deutlich stärker nach links orientieren, um eine belastbarere Zusammenarbeit mit der „Linken“ gewährleisten zu können und um danach auf der Basis einer zweifelsfreien Bündnisstrategie auch wieder Wähler von dort zurückzugewinnen. Schließlich haben das implizite Liebäugeln mit der Großen Koalition und das explizite mit der FDP in einer Ampelkoalition alle diejenigen Wähler, die das jeweils nicht wollten, zwangsläufig zur Linkspartei getrieben. Andererseits wird die zu erwartende stärkere Orientierung der SPD nach links die Flanke der SPD in Richtung CDU/CSU entblößen und es der Union – die sich unter Angela Merkel stärker zur Mitte hin positioniert – erleichtern, der SPD Wähler abspenstig zu machen. Die Wahl in Nordrhein-Westfalen wird hierfür die Nagelprobe. Gelingt es der CDU auch nach dem Wahlsieg im Bund, das gefühlte SPD-Stammland zu halten oder kann Rot-Rot das auch im Westen verhindern? Schaut man sich den nordrhein-westfälischen Landesverband der Linkspartei etwas genauer an, wird deutlich, wie schwer es die SPD dabei hat.

Dieser Beitrag stellt eine Fortschreibung dar von: Matthias Jung, Koalitionswunsch und Lagermentalität, in: Matthias Machnig und Joachim Raschke (Hrsg.), Wohin steuert Deutschland?: Bundestagswahl 2009. Ein Blick hinter die Kulissen, Hamburg 2009, S. 280-289. Alle wiedergegebenen Daten basieren auf Umfragen und Analysen der Forschungsgruppe Wahlen.


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