Das Rumpelstilzchen-Modell

Oder: Der schwere Abschied von postmodernen Illusionen

Von einer besseren Welt zu träumen, in der Not und Mühsal, Leid und Kargheit überwunden sind, gehört zum Arsenal des menschlichen Lebens dazu. Seit dem 18. Jahrhundert nennen wir diesen Traum die Idee vom "Fortschritt". Was als Utopie, als die Projektion von Hoffnung auf einen "Nicht-Ort" begonnen hatte, formulierte sich seitdem als eine konkrete Erwartung an die Zeit, an die eigene Zukunft.

Im 19. Jahrhundert konnte man an den Fortschritt als einen Selbstläufer glauben, der den Namen "Weltgeist" oder "Logik der Produktionsverhältnisse" trug. Oder man konnte die Verwirklichung des Fortschritts selber in die Hand nehmen: Er wurde zum politischen Programm, das auf mehr Freiheit, mehr Wohlstand, mehr Frieden, mehr Gerechtigkeit zielte. Nicht nur für wenige, sondern für alle sollte das Leben sicherer und angenehmer werden. Bezahlt werden sollte dieser Fortschritt aus dem, was damals scheinbar unerschöpflich zur Verfügung stand: natürliche Ressourcen, menschliche Erfindungskraft und eine unbegrenzte Dynamik des wirtschaftlichen Wachstums.

Im 20. Jahrhundert hat dieser Entwurf tiefe Risse bekommen. Im Ersten Weltkrieg wurde der Fortschritt von Frieden und Sicherheit zweifelhaft, in Inflation und Weltwirtschaftskrise die Idee von der immerwährenden Mehrung des Wohlstands. Der Rettungsanker, an den in Deutschland viele glaubten, hielt nicht: Die Versprechen des Nationalsozialismus rissen den Fortschritt in allen nur denkbaren Aspekten erst recht in einen bis dahin unvorstellbaren Abgrund. Doch danach ging es wieder aufwärts. Die Erfolge der Bundesrepublik Deutschland knüpften an die Ideen einer besseren Welt an und ließen sie in einer stabilen Demokratie, einer liberalen Gesellschaft und Kultur, und nicht zuletzt in Wirtschaftswunder und Massenwohlstand beinahe fertig verwirklicht erscheinen. In der Tat, in den späten 1960er Jahren war das Paradies nicht mehr fern, von welcher politischen Perspektive man auch blickte: Im bürgerlichen Lager war der Anspruch auf Veränderung ohnehin weitgehend saturiert, und auf der Linken glaubte man, nur noch den Kapitalismus abschaffen zu müssen - und wenn nicht das, dann ihn durch Planung und Globalsteuerung endgültig zu zähmen.

Seitdem hat unser Fortschrittsbewusstsein erneut tiefe Brüche hinnehmen müssen. In der ersten Ölkrise von 1973/74 zerbrach die Erwartung einer unbegrenzten Prosperität, und die "Grenzen des Wachstums", von denen der Club of Rome sprach, waren auch Grenzen der natürlichen Ressourcen. Immerhin erholte sich der Westen recht schnell wieder, und man richtete sich auf ein Leben mit langsameren Zugewinnen ein. Jetzt erst recht konnte man sich fragen, welcher grundlegende Fortschritt, welche prinzipielle Veränderung in den westlichen Gesellschaften denn überhaupt noch möglich - und nötig - war. Ein ruhig gestelltes Zeitalter nach der Geschichte, des posthistoire, schien angebrochen zu sein, dessen Aufgabe nur noch eine Verwaltung des schon Bestehenden sein würde: der vorhandenen Ressourcen und des erreichten Wohlstands.

Aber so leicht ließ sich der Glaube an den Fortschritt, der sich tief in die Mentalität der Wohlstandsbürger eingegraben hatte, nicht kleinkriegen. Wenn die klassische, die industrielle Moderne an ihre Grenzen gekommen war, dann war das Fortschrittsparadies vielleicht in einer Postmoderne zu finden. In dieser Postmoderne konnten noch die gravierendsten Probleme in verheißungsvolle Chancen umdefiniert werden. Die Erwerbsarbeit ging aus - erfüllte sich darin nicht die Vision von zunehmender Freizeit? Die Bindungsfähigkeit der Menschen ließ nach - war das nicht die Erfüllung des Traums von der Individualisierung? Die Infrastruktur veraltete aus Geldmangel - war das nicht ein Segen in einem dicht besiedelten Land, das keine weiteren Baustellen, keinen Flächenverbrauch vertragen konnte? Alte Fortschrittsversprechen und neue, postmaterielle Werte gingen so eine wundersame Symbiose ein. Auf diese Weise fühlte man sich zwar in den 1980er und 1990er Jahren nicht mehr ganz so behaglich, nicht mehr ganz so euphorisch wie zuvor. Aber der postmoderne Entwurf schien einen Weg gewiesen zu haben, im Hier und Jetzt möglichst viel zu genießen und dabei dennoch das meiste beim Alten zu lassen, nichts Entscheidendes zu verändern.

Mit gehöriger Verspätung - und hoffentlich nicht zu spät - sind uns in den letzten Jahren die Unzulänglichkeiten dieser harmoniesüchtigen Utopie nach und nach zu Bewusstsein gekommen. Das Land, Politik und Gesellschaft gleichermaßen, stecken in einer tiefen Krise, und diejenigen, die schon länger nach grundlegenden Reformen gerufen haben, finden allmählich doch noch Gehör. In weiten Kreisen der Bevölkerung macht sich derweil Enttäuschung über die neuerliche Desillusionierung breit. Aber wegen der Einsicht in gestrige Fehler und heutige Krise in Resignation oder Apathie zu verfallen, wäre fatal. Wir stellen fest, dass wir falschen Utopien hinterhergelaufen sind - oder dass wir berechtigte Ziele mit falschen, und häufig wortwörtlich zu billigen Mitteln glaubten erreichen zu können. Rückzug und Frustration führen jedoch aus der Sackgasse der postmodernen Illusionen nicht heraus. Wir brauchen einen konstruktiven und engagierten Neuaufbau der brüchig gewordenen Grundlagen unserer Gesellschaft und Kultur. Doch zuvor können wir uns den Blick zurück nicht ersparen: die schonungslose Analyse jener Illusionen, denen sich Deutschland offenbar in weitaus stärkerem Maße als die meisten vergleichbaren Länder ausgeliefert hat. Wie ist diese Situation entstanden, warum sind wir in die postmoderne Falle gelaufen? Und was waren die verlockenden Versprechungen, denen wir allzu leicht gefolgt sind, warum sind sie gescheitert oder haben sich als illusionär entpuppt?

Schon mit dem Ölschock von 1973 war das Goldene Zeitalter vorbei

Der Beginn der Misere liegt jedenfalls weder im letzten Konjunkturabschwung noch in irgendeinem Regierungswechsel, sei es dem von 1982 oder dem von 1998, begründet. Seit etwa drei Jahrzehnten haben sich vielmehr verschiedene Prozesse, teils auch widersprüchliche Trends überlagert, die zusammengenommen eine schiefe Ebene des scheinbaren Fortschritts ergaben. In vieler Hinsicht steht die Zäsur von 1973 am Anfang. Im Rückblick wird immer deutlicher erkennbar, dass der "Ölschock" eine fundamentale Zäsur für alle westlichen Gesellschaften markierte, nicht nur in wirtschaftlicher, sondern ebenso in kultureller Hinsicht, als eine Zäsur des gesellschaftlichen Bewusstseins. Die "Goldenen Jahre" (Eric Hobsbawm) des 20. Jahrhunderts, die nach dem Zweiten Weltkrieg so verheißungsvoll begonnen hatten, waren vorüber. Doch was sich heute klar sehen lässt, hat damals nur begrenzte Wirkungen entfaltet. Das Warnzeichen von 1973 wurde, obwohl es sich sechs Jahre später noch einmal wiederholte, nicht ernst genug genommen. Die Einsicht, aus dieser Krise weitreichende Konsequenzen zu ziehen, fiel in der Bundesrepublik schwerer als anderswo: Denn bei uns war die Nachkriegszeit, die Aufbauzeit von Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialstaat noch kaum abgeschlossen. Mit einigem Recht lautete deshalb die Parole: Stabilisierung des Systems, statt es durch Umbau möglicherweise wieder aufs Spiel zu setzen. Dieses Bewusstsein, diese Denkstruktur wirkt bis heute - also wiederum dreißig Jahre später - fort und erschwert zum Beispiel die notwendige Verfassungsreform: Denn haben wir nicht das Grundgesetz eben erst mühevoll der gescheiterten Diktatur abgerungen?

Stattdessen bestärkte eine neue Wohlstandsentwicklung die Westdeutschen in den 1980er und 1990er Jahren in dem Glauben, trotz der kurzzeitigen Krisen ginge es eben doch ganz gut, vielleicht besser als je zuvor, auf den eingefahrenen Schienen weiter voran. Die Produktion lahmte in manchen Bereichen, aber der Konsum boomte wie nie und schien die Möglichkeiten der inviduellen Lebensführung ständig zu vergrößern. Die in den 1970er Jahren schon von manchen totgesagte private Motorisierung erreichte ebenso neue Höhepunkte wie die Ausstattung der Haushalte mit elektronischen Konsumgütern im Zuge einer neuen Medien- und Kommunikationsrevolution. Urlaub in Dänemark oder Österreich war "out", man flog lieber nach Spanien, Nordafrika oder in die Karibik. Zaghafte Einschnitte in das System wurden von den Gewerkschaften schon in den 1980er Jahren als ein massiver Sozialabbau kritisiert. In der Tat kamen manche neue Armutsgruppen in der entstehenden "Zweidrittelgesellschaft" zu kurz. Doch insgesamt sind, entgegen einer weitverbreiteten Legende, auch die beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts durch einen weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates und seiner Leistungen gekennzeichnet gewesen - erst recht, wenn man auf Deutschland insgesamt blickt und die Ausweitung des westdeutschen Sozialstaates auf die ehemalige DDR seit 1990 berücksichtigt.

Wie die gewaltige Arbeitslosigkeitsverwaltungsindustrie entstand

Das ist um so erstaunlicher, als nicht wenige weitsichtige Zeitgenossen schon seit den 1980er Jahren auf die Bruchstellen dieser Prosperität hinwiesen, die heute erst recht klar erkennbar sind. Das Geld ging in den privaten Konsum, investive Ausgaben wurden zurückgefahren, bei der öffentlichen Hand ebenso wie bei den Bürgern. Zeitweise sparten die Finanzminister, aber der Wohlstand auf Kredit der folgenden Generationen bereitete noch kaum jemandem schlaflose Nächte. Die Massenarbeitslosigkeit galt als ein vorübergehendes Problem, das mit dem jeweils nächsten Konjunkturaufschwung in den Griff zu bekommen sei; dafür entstand eine gewaltige Arbeitslosigkeitsverwaltungsindustrie. Und nicht zuletzt waren die demographischen Grenzen der sozialen Sicherung, vor allem der 1957 eingeführten umlagefinanzierten Rentenversicherung, für die Experten bereits mehr als deutlich. All diese Entwicklungen haben einen gemeinsamen Nenner: Sie ignorierten die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung der eigenen Gesellschaft.

In anderer Hinsicht wirkte die Krise der frühen und mittleren 1970er Jahre aber doch enorm einflussreich in politische Kultur und allgemeines gesellschaftliches Bewusstsein hinein. Kaum irgendwo anders breitete sich ein Klima der Angst und des schwindenden Zukunftsvertrauens, eine Mentalität der Grenzen von Wachstum und Veränderung so rasant und flächendeckend aus wie in der Bundesrepublik. Der auch im internationalen Vergleich gesehen frühe und anhaltend starke Erfolg einer "grünen" Bewegung und Partei ist ein äußeres Indiz dafür. Aber die Wurzeln dieser Mentalität reichen wohl in tiefere historische Schichten der deutschen Kultur- und Kapitalismuskritik zurück, wie die "wertkonservative" Präsenz gerade im frühen ökologischen Diskurs unterstreicht. Und die Grünen bündelten nur, was wie ein Flächenbrand die ganze Gesellschaft erfasste. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen der späten 1970er und der 1980er Jahre prägte dieses Gefühl des Stillstands und der Zukunftslosigkeit in besonderem Maße, aber es strahlte auch bemerkenswert weit in ältere Jahrgänge hinein, zumal im kulturprotestantischen Milieu, das sich von säkularisierten Endzeiterwartungen à la Erhard Eppler angezogen fühlte. Es strahlte auch parteipolitisch, jenseits der Grünen, in alle Richtungen ab und schlug zumal die SPD der Nach-Schmidt-Zeit, in den 1980er und frühen 1990er Jahren, in ihren Bann.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Die Entdeckung und politische Bearbeitung der ökologischen Problematik, die Einsicht in die Grenzen eines naiven Modells der Ressourcenverwendung und -verschwendung war überfällig und rechtfertigte den Erfolg einer neuen Partei. Aber in der Bundesrepublik mehr als anderswo wurde diese Einsicht in Pessimismus und Lethargie transformiert, anstatt positiv als Herausforderung an dynamische Fortentwicklung begriffen zu werden. Dynamik und Innovation galten als verpönt; jede Baustelle mit mehr als zwei Kränen und Betonmischern wurde jetzt argwöhnisch beobachtet. Die westdeutsche Gesellschaft zog sich in ein Schneckenhaus zurück und glaubte, dort von der Substanz leben zu können. Nicht zufällig waren die 1980er Jahre, in denen in Blickrichtung Zukunft die Rolläden heruntergelassen wurden, eine große Zeit der Historisierung, des suchenden und vergewissernden Blickes in die eigene Vergangenheit. Christian Meier, Althistoriker und Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, hat einmal ein "Könnens-Bewusstsein" der alten Griechen als Pendant des neuzeitlichen Fortschrittsdenkens ausgemacht. Als am Ende des 20. Jahrhunderts der Fortschritt in die Krise geriet, blieb nicht einmal ein Könnens-Bewusstsein übrig.

Wie Ulrich Beck die "Ich-AG" erfand

Diese kulturelle Skepsis wiederum verband sich auf eine eigenartige, im einzelnen noch aufklärungsbedürftige Weise mit dem Aufbruch in eine Gesellschaft der radikalen Vereinzelung, der Hyper-Individualisierung. In der "Risikogesellschaft" des Soziologen Ulrich Beck, dem gesellschaftspolitischen und sozialtheoretischen Manifest des ausgehenden 20. Jahrhunderts, ist diese Verbindung 1986 sehr deutlich greifbar gewesen: Es ging, im Zeichen des Reaktorunfalls von Tschernobyl, um Ökokrise und Grenzen der technologischen Steuerung von klassischen Industriegesellschaften, und zugleich um die neuen Risiken einer privaten Lebensführung jenseits der klassischen, immer noch patriarchalisch angehauchten lebenslangen Ehe und Ernährerfamilie. Man konnte die neuen Standards von Ich-zentrierter Lebensführung (der "Ich-AG" im ursprünglichen Sinne des Begriffes!) und Patchwork-Familien in der Tat als Risiken und Gefährdungen begreifen. Aber diese Seite spielte jedenfalls in der Rezeption solcher Thesen kaum eine Rolle. Die radikale Individualisierung, überhaupt der weiterlaufende Wertewandel zugunsten von Selbstverwirklichung, einem Kult der persönlichen Authentizität und verantwortungsfreien Unabhängigkeit wurden vielmehr als Liberalisierung gefeiert, als Befreiung von quasi-feudaler Abhängigkeit in primären Sozialbeziehungen.

Blickt man auf diesen Trend in generationeller Perspektive, dann lässt er sich wohl eher als ein Erbe der "Achtundsechziger" verstehen, die nach gescheiterter Weltrevolution wenigstens die Revolution in ihrem eigenen Beziehungschaos, einschließlich der spezifisch deutschen akademischen Kinderlosigkeit, rechtfertigen wollten. Die Jüngeren schauten sprachlos, vielleicht in geheimer Bewunderung zu und haben erst seit wenigen Jahren angefangen, öffentlich zu widersprechen. Dabei geht es nicht darum, die Gewinne der Individualisierung und "Entfeudalisierung", zumal im Geschlechterverhältnis, zu bestreiten oder gar zurückdrehen zu wollen. Aber um eine Abwägung gegen die Kosten kommt man nicht mehr herum.
Schließlich ist bei einer Bestandsaufnahme der Fehlentwicklungen und Illusionen der letzten drei Jahrzehnte ein Blick auf 1989/90: auf die deutsche Wiedervereinigung und ihre komplizierten Folgen unvermeidlich, zumal wenn man erklären will, wieso Deutschland tiefer als andere Länder in die Illusionen einer falschen Moderne hineingerutscht ist. Wenn die Gesellschaft der "alten" Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend von Lethargie, Passivität und Scheinwohlstand gekennzeichnet war, wieso hat dann das unverhoffte Ereignis der Wiedervereinigung nicht Ressourcen mobilisiert und eine breite Dynamik erzeugt, die über die materielle Dimension von hunderte Milliarden schweren Transferzahlungen hinausreichte? Es gibt viele, aber noch keine endgültigen Antworten auf diese Frage, und nur einige Aspekte können angedeutet werden.

Da sind zum einen die Traditionen der DDR-Gesellschaft selber. Man hat unmittelbar nach dem Mauerfall viel und recht abstrakt darüber spekuliert, ob ein wiedervereinigtes Deutschland "nördlicher" und "östlicher", "protestantischer" und "preußischer" werde als der rheinische Teilstaat von 1949. Diese Kategorien haben sich weithin erledigt. Schärfer ist aber hervorgetreten, dass die Berliner Republik die Erbmasse einer weithin entbürgerlichten Gesellschaft zu integrieren hatte, einer Gesellschaft, die in Begriffen von Sicherheit, Gleichheit und Ausgleich eher zu denken gewohnt war als in Begriffen der Freiheit, Selbstverantwortung und dynamischen Entwicklung. Die Wirkung dieses Zusammenpralls wurde aber erst dadurch zur Sprengladung, weil ganz ähnliche Prozesse der Entbürgerlichung von Kultur und Alltagsleben sich in den 1980er Jahren auch im Westen beschleunigt hatten. Nach 1990 wurde dieser Habitus, eine Mischung aus neuproletarischem laissez faire und kleinbürgerlicher Sekurität, somit im gesamten Deutschland gewissermaßen strukturell mehrheitsfähig.

Ein ähnliches Zusammenspiel vollzog sich auch auf institutioneller Ebene, zum Beispiel bei den Sozialversicherungen. In den 1980er Jahren war die Krise, die mangelnde Nachhaltigkeit und Belastungsfähigkeit der westdeutschen Sozialsysteme bereits gut erkennbar. Aber anders als heute konnten Alternativen damals noch nicht diskutiert werden, Reformpläne und die Bereitschaft zu ihrer Umsetzung fehlten. Deshalb wurde die soziale und sozialstaatliche Einheit Deutschlands in der gebotenen Eile noch einmal auf eben jene Prinzipien aufgebaut, um deren Brüchigkeit man im Grunde schon wusste, von der Renten- und Arbeitslosenversicherung bis zur damals neuen Pflegeversicherung. Damit aber stabilisierte man das bisherige System nicht nur für die neuen Länder, sondern gab ihm gesamtdeutsch eine neue Bewährungsfrist, die es so schon nicht mehr verdient hatte.

Zur Einheit als einem nationalen Kraftakt, den vor allem die Arbeitnehmer im eigenen Portemonnaie spürten (vom Solidaritätszuschlag bis zu den Sozialbeiträgen), hatten sich die Deutschen immerhin mühevoll aufgerafft. Das Ergebnis aber waren nicht die versprochenen "blühenden Landschaften" und der selbsttragende Aufschwung. Vielleicht vermindert auch diese andauernde Frustration die Bereitschaft, sich jetzt auf einen neuen Kraftakt der politischen und gesellschaftlichen Reform einzulassen. Ist nicht schon der vorherige halbwegs fehlgeschlagen und hat viel Geld gekostet? Insgesamt gewinnt man jedenfalls den Eindruck, dass der Vereinigungsprozess, nüchtern besehen, die notwendigen Reformen in Deutschland institutionell und mental eher erschwert, eher belastet hat als sie zu erleichtern und voranzutreiben. Den später von Roman Herzog geforderten "Ruck" durch das Land haben sie mit Sicherheit nicht ausgelöst.

Im Gegenteil: Die Deutschen setzten ihren Glauben an die wundersame Vermehrung von Wohlstand, Freizeit und Freiheit ohne irgendwie entstehende Kosten jetzt in vergrößertem Maßstab fort. Man könnte es das Rumpelstilzchen-Modell nennen: Irgendwie würde es schon gelingen, aus Dreck Gold zu machen. Weniger arbeiten, weniger produzieren, weniger investieren, sowohl betrieblich als auch privat, weniger Kinder großziehen - und dennoch mehr kaufen, mehr Urlaub machen, mehr Sicherheit im Alter genießen. Ein ganzes Bündel von Illusionen verdichtete sich im Laufe der Jahre zu diesem Rumpelstilzchen-Syndrom:

Mit immer weniger Erwerbsarbeit innovativ und glücklich?

Erstens: Erwerbsarbeit ist ein Auslaufmodell und Verteilungsproblem. Vor gut zwanzig Jahren hatte die Bundesrepublik es zum ersten Mal seit der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder mit millionenfacher Arbeitslosigkeit zu tun. Auch anderswo schnellten die Erwerbslosenziffern in die Höhe, aber nirgenwo wurde die bald kursierende These vom "Ende der Arbeitsgesellschaft" so begierig aufgegriffen wie in Westdeutschland. Statt den Ursachen auf die Spur zu kommen und gegenzusteuern, haben wir beinahe alles getan, um diese zweifelhafte Prognose zur "self-fulfilling prophecy" zu machen. Der Verlust der Arbeit vollzog sich nämlich nicht nur ökonomisch, sondern auch als eine kulturelle Selbstpreisgabe. Nirgendwo hat sich bisher die deutsche Illusion realisiert, dass eine Gesellschaft mit allgemein erheblich reduzierter Erwerbsarbeit produktiv, innovativ und glücklich sein könnte. Als fatal - wiederum: kulturell ebenso wie ökonomisch - erwies sich zumal die Idee vom "Nullsummenspiel" der Arbeit: die Vorstellung einer fixen, begrenzten Arbeitsmenge, die nicht zu vermehren sei und dann eben gerechter verteilt werden müsse. Im Rückblick mutet es geradezu aberwitzig an, dass ausgerechnet in der Zeit einer tiefen Struktur- und Transformationskrise gesellschaftliche Anstrengung zu ihrer Überwindung nicht vermehrt wurde, sondern sich ein großer Teil der Gesellschaft auf die konkrete Zielvision immer kürzerer Arbeitszeiten einließ. Nach den 35 Stunden waren die 30, dann die 25 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit bereits fest ins Visier genommen, und die Lebensarbeitszeit schrumpfte obendrein noch zusammen.

Zweitens: Weniger Erwerbsarbeit ermöglicht gesellschaftlichen Fortschritt. Wenigstens ein wichtiges Argument für die Arbeitszeitverkürzung konnte man dann noch anführen: Bei allen ökonomischen Bedenken werde sie doch gesellschaftspolitischen Nutzen stiften, und zwar auf zweifache Weise: Wenn die Männer weniger arbeiten, statt neun nur sechs Stunden in Werkstatt oder Büro verbringen, haben sie mehr Zeit für Haushalt und Kinder, also kommt die Gleichberechtigung der Geschlechter endlich ein konkretes Stück voran. Und wenn für alle der Arbeitstag kürzer ist, wird außerdem Zeit freigesetzt, die in soziales Engagement, freiwillige Tätigkeit, "Bürgerarbeit" investiert wird. In einzelnen Fällen mag das auch der Fall gewesen sein - in Randbereichen einer akademisch-pädagogischen Mittelschicht zumal. Doch insgesamt haben sich beide Annahmen als Illusion erwiesen. Fehlende Arbeitszeit wird kaum in andere Formen des produktiven Engagements umgesetzt, sondern eher in unproduktive Freizeit. Mit anderen Worten: Erst die Einbindung in die Erwerbsgesellschaft ermöglicht und befördert soziales Engagement - dann findet man auch nach acht oder zehn Stunden Arbeit noch Zeit für die freiwillige Feuerwehr oder den Gemeinderat. Wer dagegen auf dem Arbeitsmarkt marginalisiert ist, zieht sich auch aus anderen Bereichen frustriert zurück.

Die missverstandene Liberalität

Drittens: Liberalisierung heißt Bindungslosigkeit und laissez faire. Wie kaum eine andere westliche Gesellschaft hat sich die Bundesrepublik am Ende des 20. Jahrhunderts dem Zwang, dem selbsterzeugten Druck ausgesetzt, eine fehlende Liberalisierung nachzuholen und auf möglichst alle Bereiche auszudehnen. Dabei wurde Freiheit mit einer Entgrenzung von Bindungen verwechselt, wurde liberale Ordnung missverstanden als ein System, in dem jeder tun kann kann, was er will, wenn er selber nur dabei glücklich wird und den größten privaten Nutzen zieht. Der pragmatische angelsächsische Utilitarismus bezog sich immer auf das "größte Glück der größten Zahl", also auf ein kollektives Gut - die Deutschen reduzierten diese Idee auf die Schrumpfform eines Ego-Utilitarismus. Eine Erklärung für dieses Verhalten, für diese Mentalität, fällt gar nicht so schwer: Tatsächlich litt Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter einem massiven Defizit an Liberalität - politischer ebenso wie persönlicher - und versuchte seit 1949 in der Bundesrepublik, dieses Defizit in der Orientierung am Westen - an Amerika, England und Frankreich - wettzumachen. Der Erfolg ist unbestreitbar - aber eben auch eine gewisse Neigung zur Überkompensation, die aus dem zum Komplex gewordenen Liberalitätsdefizit resultierte. Das gilt zumal für prägende Generationen der bundesdeutschen Geschichte, die hinter jeder Regung des demokratischen Staates und hinter jeder kulturellen Normsetzung die Wiederauferstehung des Faschismus witterten. In diesen Komplex gehört auch die falsche Toleranz gegenüber bestimmten Formen der verblödenden und gewaltfördernden Massenkultur. Denn wer wollte sich schon eine Rückkehr zu bildungsbürgerlichem Dünkel und antidemokratischen Ressentiments der älteren deutschen Kulturkritik (Stichwort: "Mach die Negermusik aus!") vorwerfen lassen?

Viertens: Später sind wir noch reicher, deshalb dürfen wir jetzt ruhig Schulden machen. Die Erschütterung des Fortschrittsbewusstseins in den 1970er Jahren reichte nicht tief genug, um den innersten Kern des Optimismus der Deutschen, ihren Glauben an eine dennoch weiterlaufende, natürwüchsige Verbesserung aller Verhältnisse - nicht zuletzt der eigenen materiellen Verhältnisse - zu erreichen. Zwar ging es uns nicht wirklich schlecht, aber da wir später noch reicher sein würden, hatten wir uns ein bisschen Vorgriff auf dieses spätere Paradies durchaus verdient: in der Gestalt des Über-die-Verhältnisse-Lebens, des Schuldenmachens auf Kosten der späteren Generationen. Einmal im Paradies angekommen, könnten diese die Schulden ja leicht tilgen - oder eben ihrerseits an die nächste Generation weiterreichen. In den Umkreis dieser Illusion gehört auch das sozialpolitische Glaubensbekenntnis von der "sicheren Rente". Der generationelle Lastenausgleich erschien wie ein Perpetuum mobile, das ohne die Zuführung von Energie von außen dennoch munter weiterlaufen würde. Die Nachhaltigkeit bei der Inanspruchnahme des eigenen Lebensstandards ist darüber massiv vernachlässigt worden. Auch hier spielen mentale Prägungen der Nachkriegsgesellschaft eine Rolle. Die Kriegsgenerationen nahmen für sich in Anspruch, diesen Wohlstand nach all dem erlittenen Elend von drei Jahrzehnten Krieg und Inflation, Diktatur und Entbehrung doch verdient zu haben. Diese Forderung machten sich dann aber auch jene zu eigen, die diese Not nur noch vom Hörensagen oder aus wenigen Kinderjahren kannten.

Fünftens: Angesichts der Grenzen des Wachstums lohnen sich Investition und Dynamik ohnehin nicht mehr. Paradoxerweise nahmen die Deutschen die Zäsur der 1970er Jahre, das Gefühl der "Grenzen des Wachstums" und der Begrenztheit industriegesellschaftlicher Lebensform in anderer Hinsicht dann aber doch überaus ernst. Da wir Technisierung und Dynamisierung der Gesellschaft in allen Bereichen ohnehin schon zu weit getrieben hätten, so ging diese Illusion, lohne es sich nicht mehr oder sei es gar frevelhaft, weiter in die Entwicklung von modernen Technologien zu investieren, Infrastruktur zu verbessern, ökonomischen Wandel vorausschauend voranzutreiben. Im Grunde sollte es nur noch darum gehen, Bestandsschutz zu betreiben, als sollte die Bundesrepublik in ein gigantisches Freilichtmuseum verwandelt werden. "Entschleunigung" wurde zu einem Signalwort der Zeit. Im Grunde ist es den Deutschen nie gelungen, einen konstruktiven Kompromiss zwischen der Einsicht in ökologische Probleme und natürliche Nachhaltigkeit einerseits, der Anerkennung fortdauernder Veränderungsdynamik andererseits zu entwerfen.

Das Private ist wieder politisch geworden - doch diesmal ganz anders

Sechstens: Die Entscheidung für Familie und Kinder ist eine reine Privatsache. Man muss nicht darüber streiten, welchen enormen Gewinn die "Privatisierung des Privaten", die Entscheidung über die eigene Lebensführung, gegenüber früheren Zeiten auch in der deutschen Geschichte darstellt. Auch hier herrschte in der Bundesrepublik lange Zeit die Angst vor, in ältere Traditionen zum Beispiel einer pronatalistischen Bevölkerungspolitik nur ja nicht zurückzufallen. Aber es ist kein Zufall, dass Familie und Kinder in den letzten zwei bis drei Jahren wieder zu einem Politikum ersten Ranges geworden sind. Die Freiheit privater Entscheidung über die Lebensführung nährte nämlich die Illusion, dass auch die Konsequenzen dieser Entscheidung rein privat seien. Inzwischen weiß jeder um die kollektiven Effekte solcher Entscheidungen. Auch in dieser Hinsicht sind Chancen - die vermeintliche "Freiheit" eines kinderlosen Lebens - individualisiert, Risiken und Lasten aber auf die Gemeinschaft abgewälzt worden. Das gilt erstens im Hinblick auf die Primärentscheidung für oder gegen Kinder mit ihrer enormen demografischen, gesellschaftsstrukturellen und verteilungspolitischen Relevanz. Es gilt zweitens im Hinblick auf sekundäre gesellschaftliche "benefits" von Elternschaft: etwa das im Durchschnitt größere bürgerschaftliche Engagement von Eltern gegenüber Kinderlosen, das einen "sozialen Kitt" für die Gemeinschaft insgesamt zur Verfügung stellt. Es gilt drittens auch im Hinblick auf die Folgen von Trennungen, Scheidungen, Patchworkfamilien. Nur auf den ersten Blick ist das reine Privatsache, die durch zivilrechtlichen und innerfamiliären Lastenausgleich vollständig abgegolten wird. In Wirklichkeit entstehen massive Folgekosten für die Gesellschaft - auch, aber nicht ausschließlich materieller Art, weil damit Lebenssituationen der Marginalität und Transferbedürftigkeit erzeugt werden. Um einen alten Slogan aufzugreifen: Das Private ist wieder politisch geworden - doch auf ganz andere Weise, als es die Achtundsechziger erträumt haben.

Die "Generation Reform" in den Spannungsfeldern der neuen Moderne

Siebtens: Schuld sind immer die Anderen. Dass wir erhebliche Probleme haben, dass das Paradies noch etwas auf sich warten lassen würde, ist den meisten seit längerer Zeit klar. Aber wer ist für die Missstände verantwortlich? Sich an die eigene Nase zu fassen haben die Deutschen offensichtlich verlernt. Schuld sind immer die Anderen. So konnte ein gesellschaftlich-kulturelles Klima gedeihen, in dem Verantwortlichkeit für eigenes Handeln kaum mehr existiert. Diese Neigung ruht möglicherweise auf einem älteren kollektivistischen, anti-individualistischen Grundzug der deutschen Mentalitätsgeschichte auf. Welches Ungeschick auch immer man sich selber aufhalst - durch Abenteuerurlaube, Rauchen oder Fast Food, um nur einige aktuelle Beispiele zu nennen -, immer haben Andere es versäumt, einen rechtzeitig zu warnen, und sollen dafür materiell entschädigend aufkommen; im Notfall tritt eben der Staat - die Gemeinschaft der Steuerzahler - ein. Vielleicht ist auch das ein Teil des wachsenden Hanges unserer Gesellschaft zur Infantilisierung. Wenn es keine echten Kinder mehr gibt, müssen die Erwachsenen sich diese Rolle selber vorspielen. In jedem Fall hat diese Mentalität ohnehin vorhandene Neigungen zu Lethargie und Passivität weiter verstärkt. Nichts spricht dagegen, Risiken abzusichern. Aber das geht nicht ohne Verantwortungsgefühl und nicht ohne Bewusstsein für die dabei entstehenden Kosten.

Es ist an der Zeit, sich von den Illusionen des Rumpelstilzchen-Modells zu verabschieden. Das Paradies auf Erden werden wir so schnell nicht erreichen, und die harmonisierenden Utopien der Konfliktvermeidung und Konfliktüberwindung haben uns Schaden zugefügt. Wir können nicht alle Vorteile gewinnen, ohne bestimmte Lasten, Kosten, Nachteile damit in Kauf zu nehmen. Eine neue Zielbestimmung muss sich jenseits dieser Utopien einer falschen Moderne bewegen. Politik und Gesellschaft bewegen sich in neuen Spannungsverhältnissen, die sich weder zerreden noch verleugnen lassen. In diesen Spannungsfeldern einer neuen Moderne wird sich die Generation Reform bewegen.

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